Er kam, sah und siegte - und 90 Dezibel in der Elbphilharmonie

NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER / JOSHUA BELL / RYAN BANCROFT  Elbphilharmonie, 18. Januar 2024 

© Joshua Bell

NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER /
JOSHUA BELL / RYAN BANCROFT

ERNEST CHAUSSON (1855 – 1899)
Poème für Violine und Orchester op. 25
Entstehung: 1896 | Uraufführung: Nancy, 27. Dezember 1896

HENRI VIEUXTEMPS (1820 – 1881)
Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-Moll op. 37

ALEXANDER VON ZEMLINSKY (1871 – 1942)
Die Seejungfrau

Elbphilharmonie, 18. Janaur 2024 

von Harald Nicolas Stazol

Was ein Glück, in der Lebenszeit des Joshua Bell sein Dasein zu fristen, im besten Fall zu frönen, und dessen höchst-begeistertes Lob ich nun schon seit Jahren singe – singend wie seine Stradivari, die gestern Abend so eminent strahlte mit ihm, eigentlich ab der ersten Note des Chausson, dass nach dem Vieuxtemps – absolutes Novum – die ersten Bravo-Rufe, unisono, fortissimo einsetzen, auf den Punkt, als wären sie selbst dirigiert, und diesen so überragenden Virtuosen dreimal zurückbitten, und er noch eine Zugabe hinhaucht in Begleitung der zerbrechlichen Harfenistin Anaëlle Tourret, eine Chopin Bearbeitung – aber nun die Zügel angespannt, denn mit dem „Poème für Violine und Orchester“, beginnt es ja, das alles Überstrahlende, dem sich im ausverkauften Haus wirklich NIEMAND entziehen kann…

Manchmal steht Bell für zwei Sekunden nur auf einem Bein, manchmal schwingt er wie im Rausche hin und her, manches Mal krümmt er sich vor lauter Körperspannung, einmal wirft er den Bogen so auf – aus meiner Perspektive genau ins Zentrum der Kuppel, einen Meter hoch, die Finger wirbeln, und der Ton, ach der Ton!

Was hat es nur mit diesem Stradivaristen auf sich, dass er bei den nun wirklich eminenten Anforderungen an Technik und Beherrschung ihrer, so einzigartig und im Sinne des Wortes kunstvoll, uns mit Klängen beschenkt, nein, mit einem Füllhorn großzügigst ausschüttet, dass man glaubt, er hätte auf dem Altar der Euterpe ein Dauer-Opferfeuer brennen, und wahrlich, die Muse der Musik dankt es ihm, er, der sich nach aller meiner und seiner besuchten Konzerte tatsächlich immer noch steigern kann, gerade, wenn man denkt, mehr geht nicht, keinen Zentimeter mehr höher, aber wir haben ja die himmelhohe Kuppel – da ist für ihn offenbar noch Luft! Vengerov, Sie waren der Schönste hier, aber Bell ist noch…

Der Chausson also schon wie ein lupenreiner  Diamant (CCC – Cut, Clarity, Carat), aber beim Violinkonzert des Henri Vieuxtemps (1820-1888) wird sein Spiel zu einem Diadem der englischen Kronjuwelen, funkelnd und glitzernd, und ja, Bell krönt sich wie weiland Napoleon in Nôtre Dame in Anwesenheit des Papstes an diesem so packenden Abend wirklich selbst.

Dass Chausson selbst schwerreich aber melancholisch, „ich war traurig, wusste aber nicht warum“ schreibt er über seine Kindheit, dies in den unermesslichen Reichtum dieses Werkes fließen lässt, zur Freude der Nachwelt, und zur alleräußersten des Rezensenten, ist auch der kollektiven Depression des französischen Volkes zu verdanken, das die Nation nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen – ach, toujours les allemands , immer die Deutschen – 1870/71 ergreift, und so beginnt sein „Poème pour Violon et orchestre“, Opus 25, leis-leise und wirklich sehr traurig und unendlich zart, und es ergreift einen schon im ersten Satz ein zutiefst menschliches Mitgefühl, ja, fast Mitleid mit dem Franzosen, aber da wandelt sich das Werk bereits, wobei mir unerklärlich, wie man später gleichzeitig auf den vier Saiten E/A/D/G über drei Oktaven zu trillern vermag, und, im letzten Satz, auf allen vieren ihrer den Bogen so wirbeln lassen kann, dass Euterpe vor Verzückung ebenso des Glückes voll sein wird, wie die Ränge von 12 bis 16?

Ich bemerke in der Pause ein Grüppchen von jungen Leuten im Sonntagsstaat, nein, dem Elphistaat, und halte direkt auf sie zu: „Sie sind die jüngsten hier, wie gefällt es Ihnen denn? Und, wie kommen Sie hierher?“ – „Wir sind alle acht unter Dreißig und bekamen Rabatt, und da dachten wir…“ – „Wie, alle acht von Euch – alle Achtung!“ – „Ja, wir sind eine WG“ – „Und, Euer Eindruck?“ – „Wir sind ja völlige Laien, aber beeindruckend, wirklich beeindruckend! – „Ja wisst Ihr denn, was für einen Dusel Ihr mit diesem Konzert habt?“ – „Ja, dank Ihnen spätestens jetzt!“ – „Na, dann wartet mal ab! Das nächste haut Euch von den Stühlen!“

Es ist mir im Übrigen unbegreiflich, warum den so fleißigen Saalordnern rechts und links unten im Saal nur Waschtrommeln von Hockern gewährt werden…

Und spätestens jetzt haut es mich auch vom Hocker!

Der Papst? Ihn kann man in Ryan Bancroft erkennen, des im jungen Alter schon so hochgerühmten Dirigenten, eines blaufunkelnden Saphirs von Maestro, der oft orkanartig so sehr in die Lüfte rudert, dass man den Wind geradezu bis in den zweiten Rang fühlt, mit totalem Élan beherrscht er einen zwei Kubikmeter Luftraum, und in eben diesem Élan reißt er das NDR Elbphilharmonie Orchester mit sich – ein Fitnessstudio braucht Bancroft jedenfalls sicherlich nicht.

Denn nun bricht Hollywood aus. Alexander von Zemlinsky und seine „Seejungfrau“, mein absoluter Favorit an Neuentdeckungen, und wer kennt es nicht, das tragische Märchen von der Schaumgeborenen?

So beschreibt der erste Satz ihr Glück im Palast unter tiefer See im Hofstaat ihres Vaters, Tieftauchen schon in den ersten Takten, dann ein Ball des Seekönigs, das Kentern des Schiffes des Prinzen, ihre entbrennende Liebe, der Pakt mit der Seehexe, der das blutjunge Mädchen ihre Stimme opfert (ich denke mir die Harfenistin als Reinkarnation), auf dass sie stumm und unter Schmerzen bei jedem Schritt auf Erden wandeln darf, samt dem Messer, mit dem sie den Thronerben auf Geheiß der Hexe töten soll – man hört es wirklich! – und es nicht tut – doch dann, doch dann wird ihre Seele gerettet – und ganz wie bei Hans Christian Andersen entlässt uns unser wirklich ganz tolles Orchester in der Apotheose mit ihrer Seele liebevollstes in den Himmel – aber warum Hollywood?

Weil Erich Wolfgang Korngold zu des österreichischen Komponisten Schülern gehört, und Korngold der Wegbereiter der „musical scores“ des Silver Screens wird, und seine Nachfolger John Williams und Hans Zimmer geradezu in Alexanders Schuld stehen.

„Meine Smartwatch gab bei 90 Dezibel eine Hörwarnung aus!“ sagt die nette Dame, die ich auf dem Heimwege treffe, „eine Lautstärkesenkung wird empfohlen!“ steht auf ihrem Screen. Nun, eben die Lautstärke der Beschreibung der Seejungfrau, in dieser Rolle sieht sich der Komponist, als seine Angebetete, Alma, eben Gustav Mahler heiratet, nach dessen Einfluss dennoch weite Passagen des Programmwerkes geschrieben sind, und Alexander in Verzweiflung versinkt. Und unbezweifelt unverzweifelt Ryan Bancroft, ohne Baton, in Lackschuhen immerhin, so wild und ungestüm, dass nun wirklich die Wände wackeln!

Lässt sich dieser Abend denn zusammenfassen? Sein gespannter Bogen vom Bogen des Bell, zu den im Bogen überspannenten Epochen von Frankreich zu k.u. k.?

Vielleicht darin, dass man weder das Orchester noch den Dirigenten vor gewitterndem Applaus nicht von der Bühne lässt.

Und wenn dieses Traumkonzert nochmal von vorn losginge, schaumgeboren, ich hätte nichts dagegen!

Harald Nicolas Stazol, 19. Januar 2024,
für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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