Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker lassen uns ins neue Jahr schweben

Neujahrskonzert 2024 der Wiener Philharmoniker  Großer „Goldener“ Saal der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien, 1. Januar / Jänner 2024

Neujahrskonzert 2024, Musikverein Wien © Dr. Sylvia Frühwirth-Schnatter

“Da muss ma weinen.” – “Was?” – “Weil’s gar so schön is.”
(Richard Strauss, Der Rosenkavalier, 3. Akt)

Neujahrskonzert 2024 der Wiener Philharmoniker

Großer “Goldener” Saal der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien,
1. Januar / Jänner 2024

von Dr. Rudolf Frühwirth

Einmal im Leben die Wiener Philharmoniker zum Jahreswechsel nicht im Fernsehen, sondern im wie immer prächtig geschmückten Goldenen Saal des Wiener Musikvereins erleben? Dieser lang gehegte Wunsch ist heuer endlich in Erfüllung gegangen! Christian Thielemann hat zum zweiten Mal nach 2019 zum Stab gegriffen und die Philharmoniker zuerst am Silvestertag bis 22 Uhr abends und dann ab 11.15 Uhr am Morgen des Neujahrstags durch ein beschwingtes und abwechslungsreiches Programm geleitet. Ohne die Tradition zu vernachlässigen, muss und will das vielleicht bekannteste aller Konzerte sich Jahr für Jahr neu erfinden und wenig bis gar nicht bekannte Schätze ans Tageslicht heben. Folgerichtig waren nicht weniger als neun Stücke sozusagen “Erstaufführungen”.

Das Konzert begann militärisch mit dem “Erzherzog Albrecht-Marsch” von Karl Komzak, dem zu seiner Zeit populärsten Militärkapellmeister Österreichs, geboren in Prag. Dass die Philharmoniker unter Thielemann Märsche mit höchster Präzision spielen können, wussten wir bereits seit seinem letzten Dirigat, und sie haben mich auch diesmal nicht enttäuscht.

Die Herzstücke jedes Neujahrskonzerts sind die herrlichen Walzer der Strauß-Dynastie, sowie die ihrer Nachfolger. Den Reigen eröffneten die “Wiener Bonbons” von Johann Strauß Sohn, ein schöner Beginn. Die Vielseitigkeit der verschiedenen Walzerthemen hat Thielemann schön herausgearbeitet. Der “Ischler Walzer” aus dem Nachlass von Johann Strauß und “Für die ganze Welt” von Hellmesberger Junior sind musikalisch nicht ganz auf dem Niveau der “Bonbons”, konnten mich daher trotz prächtiger Darbietung nicht völlig begeistern.

Neujahrskonzert 2024, Musikverein Wien © Dr. Sylvia Frühwirth-Schnatter

Viel besser gefielen mir die die “Wiener Bürger” von Ziehrer. Der Gipfelpunkt der Walzerseligkeit war schließlich mit den “Delirien” von Josef Strauß erreicht, deren chromatisch-fiebernde Einleitung zeigt, wie gut der Komponist seinen Richard Wagner kannte. In diesem symphonischen Meisterwerk fanden Orchester und Dirigent zu der gemeinsamen berauschenden Freiheit, die den Wiener Walzer zu einem unvergleichlichen Erlebnis macht, im Konzertsaal wie auf dem Tanzparkett.

Einen wunderbaren Kontrast zu den Walzern bildeten die sechs Polkas. Wir hörten drei Kompositionen von Johann Strauß, zwei von Eduard Strauß, darunter eine reizende Polka Mazur, und eine von Hellmesberger Junior. Das delikate, fein ziselierte Spiel der Philharmoniker brachte diese kleinen Juwele zum Strahlen. Die Polka schnell “Ohne Bremse” schrieb Eduard Strauß für den Ball der Eisenbahner. Exakt und temperamentvoll dirigiert und gespielt, sorgte sie schon am Ende des ersten Teils für stürmische Begeisterung.

Der zweite Teil begann mit der Ouvertüre zur Operette “Der Waldmeister” von Johann Strauß Sohn. Es mag schon gute Gründe dafür geben, dass viele Operetten des Komponisten nicht mehr in den Spielplänen der Theater und Opernhäuser zu finden sind – an der Musik kann es nicht liegen. Die Ouvertüre ist ein ganz bezauberndes Werk, in dem alle Orchestergruppen ihre Meisterschaft zeigen konnten.

Neujahrskonzert 2024, Musikverein Wien © Dr. Sylvia Frühwirth-Schnatter

Anlässlich des an diesem Dienstag beginnenden Bruckner-Jahres erklang im zweiten Teil auch eine echte Rarität und Weltpremiere: eine Quadrille des großen Komponisten, ursprünglich komponiert für Klavier und sehr einfallsreich instrumentiert für großes Orchester von Wolfgang Dörner, seines Zeichens Dirigent und Musikwissenschaftler. Die Quadrille hat die üblichen sechs Figuren und stammt aus einem Studienbuch Bruckners. Die symphonischen Höhenflüge des späteren Meisters lässt sie allerdings nicht vorausahnen. Da bereits 2025 ein Johann-Strauß-Jahr ins Haus steht, hoffe ich auf die Fledermaus-Quadrille im nächsten Neujahrskonzert, vielleicht sogar mit Tanzpaaren in den Gängen des Goldenen Saals?

Erwähnen möchte ich auch noch den Galopp “Glædeligt Nytaar!”, zu Deutsch “Frohes Neues Jahr!” des dänischen Komponisten und Militärkapellmeisters Hans Christian Lumbye. Er steht stilistisch ganz im Bann der Strauß-Dynastie und wurde vom Orchester mit der gewohnten Brillanz und Präzision gespielt.

Die erste Zugabe nach dem regulären Programm war die “Jockey-Polka”. Die Polka schnell von Josef Strauß wurde vom Publikum begeistert aufgenommen. Der Startschuss zum Pferderennen wurde erst am Ende des Stücks abgefeuert, und eine Wolke von Goldstaub senkte sich über die Musikerinnen und Musiker.

Neujahrskonzert 2024, Musikverein Wien © Andreas Schmidt

Wenn endlich der schwirrende Dreiklang in den Streichern den bekanntesten aller Walzer ankündigt, braust wie immer Applaus auf, Thielemann unterbricht, und Dirigent und Orchester bringen ihre traditionellen Neujahrswünsche dar. Dann folgt der wie immer großartig gespielte Walzer An der schönen blauen Donau von Johann Strauß Sohn, den ich nicht besser als mit einem Zitat aus einer Oper eines anderen Komponisten namens Strauss beschreiben kann: Da muss ma weinen.” – “Was?” – “Weil’s gar so schön is.” 

Der Schluss war dann wie der Beginn militärisch – das Werk brauche ich wohl nicht zu verraten.

Neujahrskonzert 2024, Musikverein Wien © Andreas Schmidt

Wie wir alle wissen, darf das Publikum hier ausgiebig mitklatschen. Thielemann, großer Interpret und routinierter Kapellmeister gleichermaßen, konnte Orchester und Publikum natürlich mühelos koordinieren. Als der Applaus nach vielen Bravo-Rufen und Verbeugungen verebbt war, verließ ich den Saal beschwingt und beglückt, musikalisch gestärkt für ein weiteres Jahr, bis zum nächsten Neujahrskonzert!

Rudolf Frühwirth, 1. Januar 2024,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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