Ida Praetorius, Alexandr Trusch und Alessandra Ferri (Foto: RW)
Nach dem von Aleix Martínez wieder großartigt getanzten Solo des dem Wahn verfallenden Stanislaw Nijinsky verschaffte das Männerensemble zur Sinfonie Nr. 11 g-Moll von Schostakowitsch dem Publikum einen gehörigen Adrenalinschub. Dem wilden mit kurzen, abgehackten Drehungen und Sprüngen einhergehenden Stakkato der 28 Tänzer sowie dem furiosen Auftritt von Patricia Friza als Le Sacre-Tänzerin konnte sich wohl niemand emotional entziehen.
48. Hamburger Ballett-Tage,
Staatsoper Hamburg, 27. Juni 2023
Nijinsky,
Ballett von John Neumeier
(Choreographie, Bühnenbild und Kostüme unter teilweiser Verwendung der Originalentwürfe von Léon Bakst und Alexandre Benois)
Musik: Frédéric Chopin, Robert Schumann, Nikolaj Rimskij-Korsakow (Scheherazade), Dmitri Schostakowitsch (Sinfonie Nr. 11 g-moll u.a.)
von Dr. Ralf Wegner
Es war die 145. Vorstellung dieses Balletts seit der Uraufführung und die 20. von uns besuchte. Unverändert zieht diese Choreographie über Liebe, Familie, Krieg, Wahnsinn und Untergang in den Bann. Alexandr Trusch war als Vaslaw Nijinsky großartig, er ist ein würdiger Nachfolger von Jiří Bubeníček, Otto Bubeníček und Alexandre Riabko. Er tanzte die Rolle auch nicht zum ersten Mal, wir sahen ihn bereits mehrfach als Nijinsky zwischen 2016 und 2018. 2016 zeigte zudem Aleix Martínez seine kantigere, eckige Interpretation dieses frühen Ausnahmetänzers; auch das war ein Erlebnis, mit Silvia Azzoni als Romola. Die tief ergreifende Romola von Carolina Agüero ist übrigens auf DVD erhalten geblieben. Auf der Aufnahme zeigte auch Ivan Urban seine dämonisch-herrscherische Variante des Impresario Serge Diaghilew. Das Dämonische lag Edvin Revazov nicht, er gestaltete den Impresario eher souverän-verhalten, wenngleich ebenfalls überzeugend.
Die Rolle des dem Wahn verfallenden Stanislaw Nijinsky lag wieder in den Händen von Aleix Martínez, der mit seinem grandiosen Solo im zweiten Teil erneut die Seele berührte. Das nachfolgende Männerensemble zur Sinfonie Nr. 11 g-Moll von Schostakowitsch verschaffte wohl auch dem letzten im Publikum einen gehörigen Adrenalinschub. Dem wilden mit kurzen, abgehackten Drehungen und Sprüngen einhergehenden Stakkato der 28 Tänzer sowie dem furiosen Auftritt von Patricia Friza als Le Sacre-Tänzerin konnte sich wohl niemand emotional entziehen.
Die Rolle der Romola Nijinska hatte Neumeier jetzt der mittlerweile 60-jährigen Alessandra Ferri anvertraut. Sie, damit fast doppelt so alt wie der 34-jährige Alexandr Trusch, wurde von ihren Partnern in den Pas de deux auf Samthandschuhen getragen. Das färbte auf die Hamburger Tänzer ab. Ferri hatte naturgemäß nicht mehr die physisch-tänzerische Stärke, um mit ihren Partnern wie dem als Goldener Sklave solistisch unglaublich gut tanzenden Karen Azatyan auf gleicher Höhe mitzuhalten. So fehlte es auch zwischen Trusch und Ferri am gegenseitigen, auf gleicher physischer Ebene stattfindenden erschöpfenden Ringen um den jeweils anderen, wie es zuletzt die, allerdings deutlich jüngere, Carolina Agüero auf der Bühne gezeigt hatte. Schade, dass von Neumeier nicht die 29-jährige Yaiza Coll mit der Rolle betraut wurde. Coll hatte mit einem Auftritt im Schlitten-Pas de deux bereits bewiesen, dass sie diese Rolle physisch und mental beherrscht. Aber leider verlässt die erst vor 2 Jahren zur Solistin ernannte Yaiza Coll das Hamburger Ballett aus freien Stücken bereits mit Ende dieser Saison, so dass Neumeier sie wohl nicht noch extra belohnen wollte.
Als bereits dem Geist der Rose entwachsener Gespiele Diaghilews trat Christopher Evans auf, Jacopo Bellussi tat sich als junger Tennisspieler bei den Sprüngen schwer. Ein besonderes Augenmerk galt Florian Pohl, der seine Partnerin Xue Lin nicht nur in die Höhe hob, sondern sie über seine Kopfhöhe warf und anschließend wieder auffing. Das war schon sehr beeindruckend. Ida Praetorius hatte die technisch anspruchsvolle Rolle der in verschiedenen Kostümen auftretenden Tamara Karsavina übernommen, der von Neumeier choreographisch wenig Eigenleben gegeben wird, was sich beim Schlussbeifall, wie auch früher bei Silvia Azzoni, leider nicht auszahlt. Matias Oberlin wirkte zeitweilig etwas unsicher, er tanzte Thomas Nijinsky, den Vater des Protagonisten, Anna Laudere war mit der Rolle der Mutter Eleonora Bareda betraut. Borja Bermudez erwies sich als sprungkräftiger und ausdruckstarker Petruschka.
Während der Aufführung blieb es mucksmäuschenstill, kein Zwischenklatschen störte den Ablauf der Handlung. Am Ende entlud sich gefühlt 20-minütiger Jubel über alle Mitwirkenden, dieser galt besonders Aleix Martínez und Alexandr Trusch.
Ondřej Rudčenko (Klavier), Naomi Seiler (Viola) und Konradin Seitzer (Solo-Violine), dahinter Ida Praetorius (Tamara Karsavina), Alexandr Trusch (Vaslaw Nijinsky), Alessandra Ferri (Romola Nijinska), Edvin Revazov (Sergej Diaghilew), Patricia Friza (Bronislava Nijinska), Aleix Martínez (Stanislaw Nijinsky), Anna Laudere (Eleonora Bereda), Matias Oberlin (Thomas Nijinsky), Xue Lin (Ballerina), Jacopo Bellussi (Leonid Massine, junger Mann in Jeux) (Foto: RW)
Mehrere Blumensträuße flogen auf die Bühne, Alessandra Ferri bekam von John Neumeier ein großes Blumenbukett überreicht. Wie schon an den anderen Tagen erhob sich das Parkettpublikum beim Erscheinen Neumeiers von den Sitzen. Die musikalische Leitung hatte Simon Hewett, die Viola spielte Naomi Seiler, Konradin Seitzer die Solo-Violine, Ondřej Rudčenko war am Klavier zu erleben.
Dr. Ralf Wegner, 28. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Hamburger Ballett-Tage, Nijinsky Gala XLVII Staatsoper Hamburg, 03. Juli 2022
Hamburg Ballett, 46. Ballett-Tage, Nijinsky Gala am 27. Juni 2021 Staatsoper Hamburg
Nijinsky, Duse, John Neumeier, Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg