Nixon in China © Thomas Aurin
Alles in allem: Ja, diese Inszenierung muss die Zuschauer, Zuhörer überfordern. Und ja, für einmal passt das zur Oper, ist kein aufgesetzter Regieeinfall. Wir sehen, hören, erleiden und genießen einen Abend lang unsere Welt, wie sie ist. Die Musik dazu ist köstlich. Und ganz gleich, ob man die überbordende Inszenierung mag: Die Premierenbesetzung macht den Abend jedenfalls äußerst hörenswert.
Nixon in China
Musik von John Adams
Libretto von Alice Goodman
Uraufführung am 22. Oktober 1987 an der Houston Grand Opera
Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 22. Juni 2024
Musikalische Leitung: Daniel Carter
Künstlerische Leitung: Hauen und Stechen
Regie: Franziska Kronfoth, Julia Lwowski
Bühne: Yassu Yabara
Kostüme: Christina Schmitt
Video, Live-Kamera: Martin Mallon
Licht: Henning Streck
von Sandra Grohmann
John Adams’ „Nixon in China“ ist eine der eher wenigen Opern neueren Datums, die den Sprung ins Repertoire geschafft haben. Die eklektizistisch-minimalistische, äußerst eingängige Musik und das so anspielungsreiche wie zitatgesättigte Libretto von Alice Goodman bieten ebenso großartige Arien wie schmissige Chorszenen.
Eine Neuinszenierung an Berlins größtem Opernhaus, der Deutschen Oper, drängte sich also geradezu auf. Übernommen hat sie das Kollektiv Hauen und Stechen, die musikalische Leitung liegt bei Daniel Carter.
Um mit dem Eindeutigen zu beginnen: Die musikalische und schauspielerische Darbietung ist fabelhaft. Ungeteilter begeisterter Applaus wird völlig zu Recht allen Solisten, dem Chor, den Performern, der Komparserie und vor allem auch dem Orchester und seinem Leiter gezollt.
Ob es der silbrige, höchste Höhen scheinbar mühelos erreichende Sopran von Hye-Young Moon in der Rolle von Maos grausamer Gattin Chiang ist; oder der verführerische und damit überraschend rollengerechte Tenor von Ya-Chung Huang als Mao; oder die lyrische Sopranistin Heidi Stober, die stimmlich und darstellerisch die Figur der naiv-unbedarften Pat Nixon glaubhaft verkörpert; oder der äußerst warme Bariton Kyle Miller als nachdenklicher Chou En-lai; oder aber Seth Carico als Ekelpaket Kissinger, den er hinreißend versatil spielt; oder schließlich, last but not least, Ensemblemitglied Thomas Lehman als in jeder Hinsicht volltönender Nixon; und ebenso schließlich die kleineren Rollen wie die drei Sekretärinnen Maos; und der wie immer fantastische, unglaublich zuverlässige Chor der Deutschen Oper Berlin; und das bei Adams so originell besetzte Orchester (Keyboards neben Streichern neben Saxophonen neben…): Alle gemeinsam reißen sie das Publikum mit, differenzieren die teils vertrackte Rhythmik aus, lassen die musikalischen Zitate (vor allem aus dem Ring des Nibelungen) erstrahlen, gestalten die Minimal-Music-Passagen hypnotisierend aus und stimmen sich klangfarblich aufeinander ab.
Wer diese Oper aus der Mitte der 1980’er Jahre einmal live hören möchte – und das lohnt sich –, ist mit der Premierenbesetzung bestens bedient und sollte sich ohne Wenn und Aber flott eine Karte sichern.
Über die szenische Umsetzung hingegen kann man hörbar geteilter Meinung sein: Der einerseits begeisterte Schlussapplaus und die andererseits deutlich vernehmbaren Buh-Rufe machen dies überaus deutlich. An besonderen Provokationen kann das nicht liegen. Man hat anderswo deutlich mehr Nackedeis auf der Bühne und weit mehr Theaterblut gesehen. Es gibt auch keine verklemmt-peinlichen, die Darsteller im Grunde selbst demütigenden Sexszenen (dafür aufrichtiger Dank!), und die im Libretto vorgesehene Darstellung einer Vergewaltigung (durch das Ballett des Roten Frauenbataillons als Theater auf dem Theater) wird dankenswerterweise nicht 1:1, also nicht quasi naturalistisch, auf die Bühne gebracht.
Nicht zu bestreiten ist indes: Wenn die Kunstform Oper an sich schon kunstvoll ausgestaltete Überforderung ist, so treibt diese Inszenierung es damit auf die Spitze. Gut verständlich, dass in der Pause die Stimmen überwiegen, die die damit verbundene Überwältigung beklagen. Mir war dieser offenbar derzeit in Mode kommende Regiestil auch bereits verschiedentlich zu viel. Bei Figaros Hochzeit an der Komischen Oper Berlin etwa fühlte ich mich in eines der Wimmelbilder aus meiner Kindheit versetzt – ohne freilich die Zeit zu haben, Details zu entdecken.
Mindestens so wuselig wie ein Wimmelbild ist auch die heutige Neuinszenierung von Nixon in China. Die Regisseurinnen Franziska Kronfoth und Julia Lwowski setzen damit allerdings immerhin die Ansätze der Oper um. Der historische Besuch Richard Nixons bei Mao Tse-tung im Jahr 1972 war als Medienereignis geplant. Die tatsächlichen Themen der Gespräche klammerten die großen Konflikte um Vietnam und Taiwan aus und wurden zwar protokolliert, aber erst einige Jahre später jedenfalls von den Amerikanern öffentlich zugänglich gemacht. Goodman konnte die Protokolle ihrem Libretto zumindest teilweise bereits zugrunde legen und damit die Spannung zwischen Schein und Sein thematisieren.
Es handelte sich bei diesem Staatsbesuch, so wichtig er als solcher nach dem Bruch Chinas mit der Sowjetmacht gewesen sein mag, also auch um eine Art Ablenkungsmanöver, ein Show-Event, einen Akt von Symbolpolitik. Alles dies haben Adams und Goodman selbst bereits in den Vordergrund gestellt und alles dies greift die Inszenierung auf. Auch dass die Protagonisten andauernd von der Kamera begleitet werden und dass Zitate aus bildender Kunst wie auch aus Hollywoodstreifen verwendet werden, greift die Ansätze von Libretto und Partitur auf. Meine Sitznachbarin lässt sich hiervon frustrieren: Sie habe nicht alle Film-Zitate erkannt. Aber Hand aufs Herz: Muss das das Ziel sein? Und wer erkennt schon alle musikalischen Zitate? Oder die aus den Protokollen im Libretto?
Ebenso in der Musik angelegt sind andererseits Brutalität und Herzlosigkeit der Staatsführer. Wenn gelegentlich darauf verwiesen wird, dass John Adams den Showcharakter des Staatsbesuchs u.a. durch Glenn-Miller-Zitate (!) in den Vordergrund gestellt habe und die Figuren damit zu positiv zeichne, wird der ironisch-satirische Grundton der Oper überhört. Man kann ohnehin getrost davon ausgehen, dass Adams – der den Kompositionsauftrag zunächst nicht annehmen wollte, weil er Nixon mit dem Versuch verband, ihn zum Kriegsdienst in Vietnam zu verpflichten – seinem früheren Präsidenten nicht Lobpreis singen wollte. Hinzu kommt die auskomponierte Brutalität, am ohrenfälligsten in der zweiten Szene des zweiten Aktes, als es zu bereits erwähnter Vergewaltigungsdarstellung kommt. Der Akt endet mit der atemberaubenden, aber gruseligen Arie der Chiang: „I am the wife of Mao Tse-tung“. In geradezu exaltierten Spitzentönen verweist sie darauf, dass sie sich an „The Book“, also die Mao-Bibel, halte.
Schließlich: die Off-Stage-Videos. Meine Begleiterin störte sich daran sehr. Es sei eine Mode, bereits mehrfach gesehen. Auch das verstehe ich. Gleichwohl: Für mich ist es hier stimmig. Und zwar weil Partitur und Libretto den Brecht’schen V-Effekt einsetzen, weil die sprichwörtliche Vierte Wand immer wieder aufgehoben wird. Etwa dadurch, dass Adams und Goodman andauernd Stile und Originaldokumente zitieren, dass sie mit dem Roten Frauenbataillon die Bühne auf die Bühne bringen und die Grenze zum Staatsbesuch selbst verwischen (der Vergewaltiger ist dem Libretto zufolge niemand anderes als Henry Kissinger), und auch dadurch, dass sie die mediale Präsenz als solche thematisieren, sich also unmittelbar an ein Publikum wenden.
Alles in allem: Ja, diese Inszenierung muss die Zuschauer, Zuhörer überfordern. Und ja, für einmal passt das zur Oper, ist kein aufgesetzter Regieeinfall. Und ja, das Ganze geht uns natürlich heute mehr denn je an, wo zu den klassischen Medien die Schnipsel aus dem Netz, aus Social Media, aus den unentwegten Nachrichten des gefilmten Alltags hinzukommen.
Ob man dieses Gewusel mag, ob einem die Bilder einleuchten oder ob man sich eine stärkere Konzentration auf ein zentrales Bild wünscht, das bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Für mich sind viele Bilder stimmig, wecken passende Assoziationen, lassen die Welt in ihrer Komplexität erkennen: Wie die Amerikaner ganz in Weiß per Ballon einfliegen. Dass eine Brücke (ich assoziiere Madama Butterfly) die Bühne beherrscht. Dass der vermeintliche Buddha ein Seelenfresser ist. Dass das Rote Frauenbataillon aus (armen?) Würstchen besteht, an denen sich Kissinger vergeht. Wie Pat Nixon sich die Welt jeden Tag zu Weihnachten macht. Und wie das ganze Ereignis (und überhaupt jede repräsentative Politik) in sich zusammenschnurrt, wenn es in den Kontext des Weltenalters gestellt wird. Millionen Jahre liegen vor und nach der Zeitrechnung – das Publikum reagiert darauf nervös. Dass sich aus alldem im dritten Akt ein dystopisch-surreales Bild ergibt, scheint mir sehr naheliegend.
Aber ja, für dieses Mal gefällt es mir, dass es auf der Bühne über- statt unterkomplex zugeht. Wenn einmal nicht behauptet wird, den einen Grund für alles Weltübel präsentieren zu können.
Denn eine Lösung bietet diese Oper nicht und bietet auch diese Inszenierung daher nicht. Es ist anders als bei den klassischen Werken, die sich, um Christine Brückner zu paraphrasieren, im Grunde mit dem Ausruf „Hättest du geredet, Desdemona“ zusammenfassen lassen. Aber so einfach ist es eben nicht. Wir sehen, hören, erleiden und genießen einen Abend lang unsere Welt, wie sie ist. Die Musik dazu ist köstlich. Wenn es einem wirklich zuviel wird: Augen schließen und nur noch zuhören. Vielleicht ist das grundsätzlich ein Ansatz, um mit komplexen Situationen umzugehen. Einfach mal zuhören. Viele Wahrheiten zulassen. An der Vielschichtigkeit der Welt nicht verzweifeln.
Sandra Grohmann, 23. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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