Foto: © Teatro alla Scala / Paola Primavera
Teatro alla Scala, 25. Oktober 2019
„Onegin“, Ballett nach Peter Tschaikowsky in der Choreographie von John Cranko
von Charles E. Ritterband
Wer mit Tschaikowskys Oper „Onegin“ vertraut ist, wird einige der wunderbaren Melodien im gleichnamigen Ballett wiederfinden. Allerdings – Tschaikowsky hat die Ballettmusik nicht selber komponiert, diese wurde nicht nur der Oper sondern verschiedenen Werken dieses Komponisten entnommen. Das Ballett – in drei Akten und sechs Szenen – wurde von John Cranko geschaffen, der nicht nur die Choreographie entworfen, sondern auch das Libretto verfasst hat, basierend auf dem Versroman von Alexander Sergejewitsch Puschkin. Die Uraufführung in einer ersten Fassung war bereits im April 1965 in Stuttgart erfolgt.
Tragischerweise treffen sich Dichtung und Realität im Leben des großen russischen Dichters: Ebenso wie sein Romanheld Lenskij, der seinen besten Freund Onegin aus glühender Eifersucht zum Duell gefordert hatte, starb Puschkin zwei Tage nach einem Duell im Jahr 1837 im Alter von nur 38 Jahren. Aber die Musik „Onegin“ offenbart auch die dunkle Seite Tschaikowskys, der, wie allgemein angenommen wird, im Jahr 1893 Selbstmord verübt hatte.
Crancos Ballett-Version ist – obwohl man natürlich die himmlisch schönen Arien des Originals vermisst – fast so berührend wie Tschaikowskys Oper. Und statt des wunderbaren Gesangs der Protagonisten herrscht hier das optische Erlebnis vor: Die vollendete Grazie und technische Perfektion der beiden Paare – Onegin (Roberto Bolle) und Tatjana (Marianela Nunez) sowie Olga (Martina Arduino) und Lenskij (Nicola del Freo), aber auch in majestätischer Würde Prinz Gremin (Gabriele Corrado).
Wo gesungene Worte fehlen, tritt an ihre Stelle der mimische und gestische Ausdruck: Die beiden Paare erzählen Puschkins dramatische Geschichte in packender Klarheit – sie sind nicht nur tänzerische Koryphäen sondern auch großartige Schauspieler. Tatjanas erste, enttäuschte Liebe, Onegins Insensibilität gegenüber diesem jungen und völlig unerfahrenen Mädchen, das ihm sein Herz vor die Füße legt.
Dann Onegins provokativer Flirt mit Olga, der frivolen Partnerin seines besten Freundes Lenskij, der diesen zur Weißglut treibt und ihn dazu bringt, Onegin den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen – und dann von diesem im Duell im Morgengrauen erschossen zu werden. All dies kommt in den Bewegungen und im Minenspiel der Tänzerinnen und Tänzer derart klar zum Ausdruck, als ob es sich um den gesungenen Text des Originals handeln würde.
Die große Ballszene, die elegante Polonaise im Palais des Prinzen und der folkloristische Tanz im Landhaus von Tatjanas Familie – hinreißend. Ebenso wie die ausdrucksstarken, prachtvollen Bühnenbilder, welche die Welt des alten, zaristischen Russlands auf der Bühne der Mailänder Scala plastisch aufleben lassen. Ein großes Erlebnis.
Charles E. Ritterband, 31. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Choreographie: John Cranko
Onegin: Roberto Bolle
Lenskij: Nicola del Freo
Tatjana: Marianela Nunez
Olga: Martina Arduino
Il Principe Gremin: Gabriele Corrado
Corp di Ballo e Orchestra del Teatro alla Scala
Dirigent: Felix Korobov