„Dem Himmel so nah“: Daniil Trifonov und das von Cristian Măcelaru geleitete Orchestre National de France schwelgen in französisch-russischer Romantik

Orchestre National de France, Daniil Trifonov, Klavier, Cristian Măcelaru, Dirigent  Elbphilharmonie, Hamburg, 29. November 2022

Daniil Trifonov, Foto: (c) Astrid Ackermann

Faszination Klassik

Veranstalter: ProArte/Elbphilharmonie Hamburg

Orchestre National de France
Daniil Trifonov, Klavier
Cristian Măcelaru, Dirigent

Elbphilharmonie, Hamburg 29. November 2022

von Dr. Holger Voigt

Wegen derartiger Konzerte muss man die Elbphilharmonie einfach lieben! Die Unbillen des schaurigen nasskalten Wetters waren vollständig vergessen, als sich im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie eine Sternstunde der musikalischen Faszination entfaltete.

Der Konzertabend des Veranstalters ProArte bestand aus drei moderierten (!) Anteilen romantischer Musikliteratur aus Frankreich und Russland – eigentlich zeitlich bereits der Postromantik zuzurechnen, doch vom intimen Klangzauber her noch voll in der Romantik beheimatet. Was da auf das Podium zur Aufführung kam, war Klangmagie vom Feinsten, selten so anrührend dargeboten wie an diesem Abend.

Das 1934 begründete Orchestre National de France ist ein renommiertes sinfonisches Orchester, das bereits viele illustre Chefdirigenten hatte (unter ihnen beispielsweise Sergiu Celibidache, Charles Dutoit, Kurt Masur, Lorin Maazel und andere). Sein jetziger Chefdirigent, Cristian Măcelaru, überzeugte am heutigen Abend mit präzisen und pointierten Vorgaben zur Klangdynamik, die einen romantischen Klangzauber erzeugten, wie er besser nicht vorstellbar wäre. Innerhalb nur weniger Augenblicke war das ganze Klangkaleidoskop der französischen Romantik im ganzen Saal präsent. Dabei wurde deutlich, dass dieses Orchester praktisch übergangslos zwischen kammermusikalischer Intimität und sinfonischer Fülle wechseln kann.

Cristian Măcelaru © Sorin Popa

Das einzige Klavierkonzert des am 6. Januar 1872 in Moskau geborenen Alexander Nikolajewitsch Skrjabin gehört zu den schönsten Klavierkonzerten überhaupt. Aber auch mit diesem singulären Werk konnte sich der Komponist nicht aus der ständigen Rivalität zum weithin anerkannten, ein Jahr jüngeren Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow befreien.

Das knapp eine halbe Stunde dauernde Konzert erscheint mit drei Sätzen geradezu symmetrisch gestaltet. Neben einen Eingangssatz, der die kompositorische Nähe zu Frédéric François Chopin und Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow deutlich erkennen lässt, stellt er als zweiten Satz einen mehrteiligen Variationensatz, in welchem das relativ einfach auf nur wenigen Tönen beruhende Motivmaterial variiert wird. Dabei gilt die Beziehung „je einfacher, desto anrührender“. Dieser Satz ist Romantik pur und rührt zu Tränen. Deutlich erkennbar ist seine ingeniöse Einbettung des Klaviers als Soloinstrument: Klavier und Soloinstrumente oder Orchester sind nicht voneinander separiert, sondern scheinen sich dialogisch zu „umarmen“.  So etwas hatte man zuvor noch nicht gehört. Auch wird hier deutlich, dass Skrjabin einige thematische Anteile umzudrehen versucht, also mit ihnen improvisierend zu spielen scheint. Diese Eigenschaft zeigt sich auch in seinem gesamten Prélude-/Etudenwerk. „Skrjabin komponiert, als würde er improvisieren (Daniil Trifonov)“.

Für den erst 31-jährigen, in Moskau geborenen Wahlamerikaner war die frühzeitige Begegnung mit dem Werk Skrjabins prägend. Sie begründete seinen Entschluss, eine professionelle künstlerische Laufbahn als Pianist einzuschlagen. Was dabei bis heute herauskam, ist legendär. Mit Preisen überhäuft, gilt er vielen als der weltbeste Pianist unserer Zeit, direkt vergleichbar mit Vladimir Horowitz zu dessen Zeit. Martha Argerich gingen in einem Interview fast die Worte aus, als sie versuchte, seine Anschlagtechnik näher zu präzisieren: So etwas habe sie noch nie gesehen.

Daniil Trifonov. Foto: Dario Acosta

Trifonovs Konzerte sind klug konzipiert, genauso wie seine CD-Alben, die gleichsam faszinierende Klangreisen darstellen. Egal, wohin man sich wendet, Trifonov packt einen jedes Mal von Neuem.

Das heutige Klavierkonzert in kongenialem Zusammenspiel mit Dirigent und Orchester war eine Offenbarung. Es brachte – insbesondere im zweiten Satz – viele Zuhörer zum Weinen. Warum nur ist dieses Konzert so wenig bekannt? Im letzten Satz ist geradezu körperlich spürbar, wie sehr sich die Stimmungslage zum Optimistischen wandelt, Orchester und Piano schwelgen in einem einzigen Klangrausch. Eine hoffnungsfroh aufwärts führende Trompetenfanfare, drei harte, von Paukenwirbeln gestützte Orchesterschläge und ein nicht enden wollender Pedalakkord beschließen dieses faszinierende Klavierkonzert. Erst als das Pedal zur Ruhe gekommen ist, setzt der frenetische Beifall ein. Helle Begeisterung überall in der Elbphilharmonie und die erklatschte Zugabe!

Nach der Pause folgte mit der einzigen Sinfonie von César Franck (geboren am 10. Dezember 1822 in Lüttich; Uraufführung der Sinfonie am 17. Februar 1889) der Schlussteil des Konzertabends. César Franck war ein Spätberufener; seine wesentlichen Kompositionen entstammen seinem letzten Lebensdrittel. Kompositorisch scheint Francks Sinfonie d-moll viele Väter zu haben: Neben Wagner höre ich auch Brahms und Schumann heraus, und ich nehme an, dass anderen weitere Assoziationen beim Hören in den Sinn kommen. Die dreisätzige Tonschöpfung ist dramatisch, ihr thematisches Motivmaterial am Anfang eher verborgen als vordergründig.

Man braucht etwas Zeit, sich in ihrer Anlage zurechtzufinden, doch wird man belohnt mit einer Sinfonie, die immer mehr Höhepunkte preisgibt, je öfter man sie hört. Für die Mehrzahl seiner Werke gilt, dass sie erst nach seinem Tod (8. November 1890) populär wurden, als die Welt der Musik mit der Moderne eines Gustav Mahlers, Arnold Schönbergs und Richard Strauss’ in Berührung kam. So ist es leider so, dass seine Werke heute nur selten zur Aufführung kommen – er ist ein entdeckter unentdeckter Komponist geblieben.

Für das Orchestre National de France unter Cristian Măcelaru gestaltete sich die Aufführung der Sinfonie quasi als Heimspiel, dynamisch perfekt und in allen Orchestergruppen akkurat und wuchtig. Als furiose Zugabe: Georges Bizets Farandole (L’Arlésienne/Suite Nr. 2). Großer Applaus zum Abschluss.

Ein faszinierender Konzertabend, fast wie ein Weihnachtsgeschenk.

Dr. Holger Voigt, 2. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

PROGRAMM

Maurice Ravel

“Ma mère l’oye”, Cinq pièces enfantines (1911)

  1. Pavane de la Belle au bois dormant
  2. Petite Poucet
  3. Laideronnette, Impératrice des Pagodes
  4. Les entretiens de la Belle et de la Bête
  5. Le jardin féerique

Alexander Skrjabin

Konzert für Klavier und Orchester fis-Moll op. 20 (1896, Uraufführung 1897)

  1. Allegro
  2. Andante (Variation I; Variation II Allegro Scherzando; Variation III Adagio; Variation IV Allegretto; Tempo I Andante)
  3. Allegro moderato

Zugabe: Alexander Skrjabin

Andante (Sonate Nr. 3 fis-Moll op. 23)

Pause

César Franck

Sinfonie d-Moll FWV 48 (1886-1888)

  1. Lento – Allegro ma non troppo
  2. Allegretto
  3. Allegro non troppo

Zugabe: Georges Bizet

Farandole (L’Arlésienne/Suite Nr. 2)

Daniil Trifonov, Alan Gilbert, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck SHMF 2021 – Abschlusskonzert im Kieler Schloss, 29. August 2021

CD-Rezension: Matthias Goerne – Daniil Trifonov

CD Rezension: Daniil Trifonov, Johann Sebastian Bach und Söhne, The Art of Life, klassik-begeistert.de

3 Gedanken zu „Orchestre National de France, Daniil Trifonov, Klavier, Cristian Măcelaru, Dirigent
Elbphilharmonie, Hamburg, 29. November 2022“

  1. Mich wundert, dass Măcelaru hier so gut wegkommt. Für mich ist er inzwischen der einzige Grund, die Aufführungen des WDR Sinfonieorchesters in Köln zu meiden. Was da seit seiner Übernahme kommt, grenzt regelmäßig an großen Murks. Umso überraschender zu lesen, dass es an diesem Abend wohl anders war? Hat er etwa wirklich einmal seinen ewigen Kampf gegen das Epische in der Musik ad acta gelegt und für Klangkunst anstatt Klangmalträtierung gesorgt? Das wäre ja fast zu schön, um wahr zu sein.
    Vielleicht liegt es am Orchester und er harmoniert einfach besser mit einem französischen Ensemble?

    Daniel Janz

    1. Tatsächlich war an diesem Abend seine Leistung nicht zu beanstanden. Als er beim Applaus das Orchester aufforderte, sich von den Plätzen zu erheben, tat es es diese nicht, um ihm selbst zu applaudieren. Beim Trifonov-Konzert waren Orchester und Solist geradezu kongenial miteinander verbunden, was bei Skrjabin auch gar nicht anders geht, sonst wäre es bereits nach den ersten Tönen aufgefallen. Wäre mal als Zeitreise interessant gewesen zu sehen, wie es mit Celibidache oder Maazel geklungen hätte. Das französische Sujet scheint ihm aber sehr zu liegen, da klang alles wie aus einem Guss und sogar noch schön.

      Dr. Holger Voigt

  2. Tatsächlich war seine Leistung an diesem Abend nicht zu kritisieren. Als er beim Applaus das Orchester bat, sich zu erheben, taten die Musiker dieses nicht, da sie ihm applaudieren wollten. Im Trifonov-Konzert konnte man nur feststellen, dass alle – Solist und Orchester – geradezu kongenial zusammen spielten (was ja bei Skrjabin auch nicht anders geht, sonst wäre es schon bei den ersten Tönen aufgefallen). Wäre mal interessant gewesen, Celibidache oder Maazel damit zu vergleichen…

    Dr. Holger Voigt

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