„Unverkennbar ist Pascal Mercier in der Lage, seine Ausdruckssprache so klar, deutlich und unmissverständlich mit Poesie zu fluten, dass daraus geradezu eine Art musikalischer Metapher wird. Wer das nicht glaubt, möge einmal einen Absatz des Buches laut lesen, oder besser: jemandem vorlesen.“
CD-Besprechung: Pascal Mercier: „Das Gewicht der Worte“
Buchausgabe: Carl Hanser Verlag 2020
Hörbuch: Hörbuch Hamburg HHV GmbH (3 MP3-CDs, ca. 1340 Minuten)
Gelesen von: Markus Hoffmann
von Dr. Holger Voigt
„Die Poesie von Wörtern und Tönen vermag die Zeit zu verlangsamen, weil sie Gegenwart schafft und uns so befreit von der Diktatur der Uhrzeiger.“
Diese CD-Besprechung hat ein Hörbuch zum Inhalt, das sprachlich wie eine Sinfonie der Worte imponiert.
Der Schweizer Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri, Jahrgang 1944, hat unter dem Pseudonym Pascal Mercier mehrere belletristische Romane und Erzählungen mit Bestseller-Rang verfasst und veröffentlicht. Sein „Nachtzug nach Lissabon“ wurde sogar verfilmt (Regie: Bille August, 13. Februar, 63. Berlinale 2013).
Am 31. Januar 2020 erschien sein neuester, fast 700 Seiten umfassender, Roman „Das Gewicht der Worte“, dem alsbald eine Hörbuchversion nachfolgte (absolut meisterhaft gelesen von Markus Hoffmann). In den Bestseller-Listen erklomm dieser Roman in kurzer Zeit Spitzenpositionen, wurde aber auch durchaus kontrovers aufgenommen, was bekanntlich ja das „Salz in der Suppe“ ist. So bezeichnete der Literaturkritiker Denis Scheck den Autor als „erzählerischen Kaltblüter“ und sprach gar von einer „Brauereigaul-Prosa“. Nicht gerade schmeichelhaft und m.E. völlig neben der Spur liegend. Andere Rezensenten fanden den Roman langweilig, überlang und statisch erstarrt. Doch wieder andere, und das sind wohl die meisten, waren völlig begeistert. Und zu denen zähle ich nun auch mich.
Hier geht es primär nicht um den Roman an sich, sondern um dessen Hörbuch-Version. Schon bei Merciers Roman „Nachtzug nach Lissabon“ aus dem Jahr 2004 war das dazugehörige Hörbuch die wahre Entdeckung. Was der geschriebene Text und insbesondere der Film nicht annähernd erfassen konnten, war die sprachliche Schönheit der Ausdruckssprache des Verfassers, die innerhalb weniger Sekunden ganze Vorstellungswelten beim Hörer hat entstehen lassen, die wie gemalte Bilder imponierten.
Unverkennbar ist Pascal Mercier in der Lage, seine Ausdruckssprache so klar, deutlich und unmissverständlich mit Poesie zu fluten, dass daraus geradezu eine Art musikalischer Metapher wird. Wer das nicht glaubt, möge einmal einen Absatz des Buches laut lesen, oder besser: jemandem vorlesen.
Was „Handlung“ anbetrifft, gilt für Merciers Romane, dass sie ihm in erster Linie als eine Art Staffelei dient, an der er das Gemälde der menschlichen Existenz und ihrer persönlichen Entwicklung mit der Kraft seiner Worte entwirft und ausgestaltet. Letztlich folgt er damit dem Romantitel selbst.
Es passiert in seinen Werken nicht viel Sichtbares und Faktisches. Seine Romane und Erzählungen beziehen ihre unentrinnbaren Spannungsbögen vornehmlich aus der Kraft seiner Sprachbehandlung, die den geschriebenen Wörtern gleichsam musikalische Schönheit verleiht.
Wer nun Merciers belletristische Schöpfungen lediglich liest, kann diese Qualität tatsächlich überlesen. Es ist deshalb anzuraten, auch beim Lesen seiner Werke ab und zu innezuhalten und einen Satz oder Absatz laut vorzulesen, um ihre sprachliche Prägnanz auch mit den musikalischen Maßstäben von Poesie zu erfassen.
Schon in seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ wird dieses unmittelbar deutlich: Was für eine ästhetisierende Kraft des Ausdrucks, der ganze Szenenbilder mitsamt ihrer sensuellen Informationen (Geräusche, Farben, Beleuchtung, Gerüche etc.) in der Phantasie des Lesers/Hörers entstehen lässt.
So etwas verfilmen zu wollen, hat wenig Aussicht auf Erfolg, auch wenn der gleichnamige Film trotz dieser Einschränkung absolut sehenswert ist. Die Schönheit von Sprache und Ausdruck lässt sich aber nicht mit dem Medium „Film“ allgemeingültig abbilden, da die Fantasie von Leser/Hörer dessen individuelles, unteilbares Privileg ist. Jegliche kinematografische Umsetzung springt also zu kurz.
Im Fall des Filmes „Nachtzug nach Lissabon“ enstand dabei zudem der Trugeindruck, als ginge es um die melodramatische Inszenierung eines Politthrillers im Stile eines Costa-Gavras, der rund um die portugiesische „Nelken“-Revolution des Jahres 1974 (Militärputsch 25. April 1974) angelegt ist.
Tatsächlich ging es aber um eines der zentralen Themen Pascal Merciers, das in vielen seiner Romane, so auch hier, im Mittelpunkt steht, nämlich die dialektische Wahrnehmung alternativer Lebensentwürfe, bei denen sich der Autor, fast im Sinne einer philosophischen Exegese, die Frage vorlegt, ob, ob nicht und warum alternative Lebensentscheidungen angesichts der Brechung in der Wirklichkeit „lebbar“ sind. „Was wäre, wenn?“ ist also die philosophische Grundfrage, deren intellektuelle und literarische Ausgestaltung eines der beherrschenden Motive der Erzählkunst des Schweizer Philosophen und Schrifstellers ist. Kann man die Alternative post festum noch einmal herbeiführen, um seinem Leben eine neue, andere Wendung zu geben?
Alle diese Fragen lässt Mercier in „Das Gewicht der Worte“ anhand zahlreicher Begegnungen und menschlichen Kontakten aufsteigen, denen der Protagonist (Simon Leyland) ständig begegnet. Er ist ein Übersetzer, der sich als von Hause fortgelaufener Teenager nach einem Gespräch mit seinem Onkel (Warren Shawn) vorgenommen hatte, sämtliche Sprachen des Mittelmeerraumes sprechen und verstehen zu können. Auf seiner großen Lebensreise zum Erreichen dieses Ziels muss er feststellen, dass all das, was ihm in seinem Leben widerfahren ist, nur möglich war, weil zuvor persönliche Entscheidungen und schicksalhafte Wendungen unvorhersehbare oder ungewollte Resultate hervorriefen, die ihn immer vor neue Entscheidungsalternativen stellten. Ich würde das wie folgt formulieren: „Das Leben ist das, was es geworden ist“ und die möglichen oder tatsächlichen Entwicklungen der Alternativen dazu bleiben uns verborgen, auch wenn sie uns manchmal höllisch nahe zu kommen scheinen.
Merciers Roman „Das Gewicht der Worte“ ist Labsal für Menschen mit musikalischem Gehör sowie Gespür und Freude an poetischer Sprachgestaltung. Als Hörbuch hat es fast Suchtcharakter. Ich fürchtete immer, es könne bald zu Ende sein. In diesem Roman kommt nichts Schlimmes vor, er verbreitet eine zutiefst friedvolle und gelassen machende Atmosphäre, geprägt von prägnant gezeichneten Menschen, die mehr und mehr zu unseren eigenen Bekannten zu werden scheinen. Man vermisst sie tatsächlich, wenn Roman/Hörbuch zu Ende sind.
Lesenwert. Aber noch mehr: Hörenswert! Eine Sinfonie des Lebens.
Dr. Holger Voigt, 8. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Franz Schubert, Winterreise, Pavol Breslik, Amir Katz, CD-Besprechung
Namenskorrektur durch den Autor
Aufgrund eines Hinweises, für den wir uns herzlich bedanken möchten, müssen wir eine Namenskorrektur vornehmen: Der Onkel des Erzählers heißt Warren Shawn und nicht Sean Christie, der der befreundete Verleger von Simon Leyland ist.
Ich bitte für die Namensvertauschung um Entschuldigung.
Dr. Holger Voigt