Pathys Stehplatz (24) – Von Sesselpickern und Fehltritten: Es siegt nicht immer die Vernunft

Pathys Stehplatz (24) – Von Sesselpickern und Fehltritten: Es siegt nicht immer die Vernunft

Foto: Hélène Grimaud © Wiener Konzerthaus / Markus Aubrecht

Die Plätze auf den großen Bühnen sind rar. Salzburg, Wien, Paris, New York. Dazu noch ein paar deutsche Großstädte und vereinzelte Ecken in Asien und Resteuropa. Das war es im Grunde. Viel mehr Gelegenheiten bieten sich einem Pianisten nicht, um ordentlich abzusahnen. Dass man da nicht gerne seinen Stuhl räumt, liegt in der Natur der Sache. Eine Pause hätten dennoch einige dringend nötig.

von Jürgen Pathy

„Mich hat sie einfach nicht mitgerissen“, bemängelt ein fachkundiger Gast. Hélène Grimaud, die mittlerweile 53-jährige Pianistin, die vor kurzem erst im Wiener Konzerthaus aufgetreten war. „Klavier im großen Saal“, nennt man das. Arrivierte Pianisten, die es geschafft haben. Neben der Französin so klingende Namen wie Grigory Sokolov, Rudolf Buchbinder oder Arcadi Volodos. Bei Hélène Grimaud gab es letztens nicht so viel zu lachen.

Beethoven sei eben schwierig. Da könne man keine Bäume ausreißen, keinen Spannungsaufbau erwarten wie bei anderem, romantischem Repertoire. Völliger Unsinn, möchte ich dieser Argumentation entgegenwerfen. Selbstverständlich kann man das. Andere Pianisten beweisen das noch im hohen Alter.

Als Daniel Barenboim vor wenigen Jahren, gesundheitlich bereits gezeichnet, einen seiner damals schon raren Klavierabende gegeben hatte, war das wie von einem anderen Stern. Eine Lehrstunde darin, wie intensiv und innig man Beethovens Klaviersonaten mit Leben füllen kann. Mit Spannung, mit Pausen und mit einem schönen Ton. Letzteres ein wichtiger Punkt, wenn nicht sogar das Um und Auf, in einer sonst vielleicht schon fesselnden Interpretation.

Der schöne Ton

Niemals werde ich es vergessen, als Ingolf Wunder eine Meisterklasse gegeben hatte. 2019 im Konzertsaal des MUK, des ehemaligen Konservatorium Wien, aus dem schon einige große Namen entsprungen sind. Kritiker würden sagen, das sei „kein schöner Ton“, hatte der österreichische Pianist da einem Schüler verklickert. Der hatte sich gerade an Schubert oder Chopin vergriffen.

Den schönen Ton, den erkennt man sofort. In der Regel nach dem ersten Anschlag, spätestens nach den ersten Takten. Bei Grimaud war bereits da klar, das wird heute nichts. Anfang März im großen Saal des Wiener Konzerthaus.

Nun ist man dazu geneigt, Musiker, Solisten im Speziellen, in Schutz zu nehmen. Es kann schon hart sein, so ein Tournee-Leben. Von einer Stadt in die andere hetzen, von Flughafen zu Flughafen, von Hotel zu Hotel. In so einem unnatürlichen Habitat dann auch noch auf Knopfdruck zu performen, das ist sicherlich nicht immer einfach. Da kann man schon mal auslassen. Einen schlechten Tag erwischen. Den hat jeder einmal. Gleich zwei davon, das könnte vielleicht schon zu viel sein.

Im September 2019, da hatte Grimaud schon wenig Feuer entfacht. Da hatte sie sich an Schumanns Kreisleriana gewagt. Einem der schwierigsten Werke, die man im Konzertsaal überhaupt live bewältigen kann. Das steht außer Zweifel. Daran sind auch schon andere gescheitert. Das könnte man ebenfalls noch als Vorwand gelten lassen. Das Dilemma allerdings: Eine dritte Chance, die gibt man einem Künstler oft gar nicht mehr. Um seine Meinung zu revidieren, die sich nach zwei Konzerten schon ziemlich eingebrannt haben könnte.

Das Traurige dabei: Grimaud hat schon bewiesen, dass sie es wirklich drauf hat. Man möge sich nur ihre Einspielung bei Denon anhören, einem Label, bei dem die Französin regelmäßig Aufnahmen veröffentlicht hat. Ein rhythmisch-orgastischer Ritt, wie sie da jeden einzelnen Ton der Kreisleriana hervorhebt, als sei das eine barocke Fuge. Eine Art des Klavierspiels, wie man sie nur bei wenigen erleben darf. Altmeister Grigory Sokolov ist einer der Auserwählten, der das ebenfalls beherrscht. Das Geheimnis des etwas kauzig wirkenden Russen, der sich medial extrem scheu gibt: Schumann wie Bach erklingen zu lassen.

Gelegentlich blitzt diese Kunst auch noch bei Grimaud auf. Wenn sie zum Beispiel in Beethovens op. 109 die Fugati spielt, spürt man, dass Bach nicht fern ist. Dass sie eine unheimliche Gabe besitzt, diese kleinen technischen Herausforderungen enorm lebendig zu gestalten. Mit Pfiff, mit Brio, mit Elan. Ansonsten scheint aber wenig geblieben vom Glanz der alten Tage, den sie auf Aufnahmen zum Glück konserviert hat.

Auch Große können stolpern

Grimaud ist aber nicht die Einzige. Neben anderen berühmten Ausrutschern gesellt sich vor allem Maurizio Pollini immer öfter dazu. In die Riege der Künstler, die auch schon bessere Tage erlebt haben. Seit er 1960 als Sieger aus dem renommierten Chopin Wettbewerb in Warschau hervorgegangen ist, hat er eine steile Weltkarriere hingelegt. Überall, wo der mittlerweile 81-jährige Italiener auftritt, überschüttet man ihn mit Lob.

Dabei hat sich auch da schon 2015 abgezeichnet, was andere nun immer öfter bestätigen. Damals hatte sich Pollini ebenso an die Kreisleriana gewagt. Vor kurzem erst an der Mailänder Scala, da waren es aber andere Werke, mit denen er auch einen rabenschwarzen Tag erwischt haben soll. Die Ausrede, es könnte also alles nur am Werk liegen, ist somit hinfällig.

Die Frage, die daraus resultiert, hingegen umso wichtiger und vielleicht brisanter: Wieso zieht da keiner der Verantwortlichen die Bremse? Sind es die Einnahmen, die Konzertveranstalter und Intendanten dazu nötigen, diese Zugpferde weiter und weiter auf die Spielpläne zu setzen? Irgendwer muss ja immerhin die Kassen füllen. Oder sind es Agenten, die den Ruf der Künstler hinter ihre eigenen finanziellen Interessen stellen? Fragen über Fragen, die eine klare Antwort benötigen.

Aufs private Umfeld scheinen sich manche Künstler ja nicht verlassen zu können. Da darf sich nicht jeder so glücklich schätzen wie Piotr Beczała. Der hat schon oft bestätigt, dass er enorm dankbar sei, eine Frau an seiner Seite zu haben, die hart mit ihm ins Gericht gehen kann. Die Tacheles spricht. Die dem erfolgsverwöhnten Startenor, dem sonst sowieso nur alle Honig um die Lippen schmieren, auch mal beinhart ins Gesicht sagt, wenn da etwas nicht so rund gelaufen ist. Andere hätten das auch dringend nötig.

Schmerzhafte Fehltritte: Wagner ist nicht Schubert

Leider fehlt bei einigen die Stimme der Vernunft. Anders lässt es sich gar nicht erklären, warum einige Wagner-Spezialisten ihre Finger nicht vom Kunstlied lassen können. Mozart oder Schubert, um mal die Stimme zu putzen, mag ja völlig legitim sein. Dann aber bitte unter der Dusche. Stattdessen hofiert man sie auf große Bühnen.

Als unlängst zu lesen war, Andreas Schager versucht sich an der schönen Müllerin, war doch klar, das kann künstlerisch nur nach hinten losgehen. Bei einem seiner gefeierten Kollegen, der sich an Mahlers Kindertotenlieder gewagt hat, war die Ausbeute nur minimal besser. Da konnte nur der polnische Teil des Abends die Schieflage noch halbwegs ebnen. Nachvollziehbar sind diese Ausflüge absolut nicht.

Bei Pianisten könnte man es ja noch halbwegs verstehen. Da gibt es ein Repertoire, das man zumindest als Neuling einfach abspulen muss. Beethoven, Bach, Mozart, dazu Chopin, Rachmaninoff oder Schubert. Schumann darf nicht fehlen. Im Idealfall vielleicht sogar noch exotischere Kollegen wie die spanischen Komponisten Albéniz oder Granados. Andere Schätze gäbe es auch noch zu bergen. Horowitz hat Scarlatti und Clementi zu Höhenflügen verholfen. Sokolov zelebriert gerne seinen Couperin.

Warum gestandene Wagner-Größen sich allerdings die Blöße geben, im filigranen Glashaus herumzutrampeln, widerspricht jeglicher künstlerischer Vernunft. Vor allem, da sie es nicht nötig hätten. Völlig unabhängig von deren Intention – sei die vielleicht noch so nobel oder galant –, ihrem Ruf sind solche Ausflüge sicherlich nicht dienlich.

Weniger ist oft mehr, lautet ein altes Sprichwort. Danach sollten sich vielleicht auch Künstler richten. Die Wagner-Spezialisten beim Repertoire. Die Pianisten vermutlich bei der Anzahl ihrer Auftritte. Betrachtet man mal Grimauds Schedule, dann wird klar, warum die zierliche Französin ausgebrannt sein könnte. Neun Konzerte im Mai 2023. Davon ganze vier innerhalb von nur sechs Tagen. Das könnte vielleicht zu viel sein.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 29. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

Hélène Grimaud, Klavier, Beethoven, Brahms & Bach / Busoni Wiener Konzerthaus, 3. März 2023

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