„… auch den sonst so vermissten Spannungsbogen hattest Du endlich umgesetzt. Das war Musik, das war Magie, wie ich es mir intensiver und inniger nicht vorstellen könnte. Noch dazu, bei einem Werk, das nicht gerade berühmt dafür ist, dass es musikalisch leicht ins Ohr ginge. Bravo, lieber Philippe. Bitte mehr davon! So kann und darf das gerne weitergehen.“
Foto: Philippe Jordan © csm Portrait
Lieber Philippe, grüß Dich!
Endlich finde ich den Raum und die Zeit, um Dir zu schreiben. Es juckt mich schon lange zwischen den Fingern. Um es genau zu nehmen, seit der „Macbeth“-Vorstellung, die Du Ende der letzten Saison an der Wiener Staatsoper geleitet hast. Als Lady die große Anna Netrebko, in der Titelpartie der Bariton Luca Salsi. Es war ein Abend, an dem Du mich schwer überrascht hast. Im positiven Sinne. Denn die Erwartungen meinerseits waren eher gering.
Philippe: Lass mich gleich zum Punkt kommen. Floskeln möchte ich uns ersparen. Deine Art zu musizieren hat mich nicht immer vom Hocker gehauen. Ganz im Gegenteil sogar. Nachdem ich Dich einige Male als Chef der Wiener Symphoniker live erleben durfte, sank meine Begeisterungskurve immer weiter. Den Tiefpunkt erreicht hat diese zum Beginn der letzten Saison. Von da an gings dann allerdings bergauf. Zuerst aufgrund zweier Livestreams, dann bei einem Live-Erlebnis. Dabei dachte ich schon, Du und ich, das wird nie und nimmer eine musikalische Liebesbeziehung. Ich hoffe, ich habe mich getäuscht.
Begonnen hat diese latente Antipathie bereits beim ersten Mal, als ich Dich live musizieren hab hören. Schon damals merkte ich, da passt irgendetwas nicht. Da fehlt etwas. Zwischen Deiner und meiner Vorstellung, wie Musik zu klingen hat, klaffte anscheinend eine große Lücke. Dabei war’s gar nicht wirklich schlecht. Es war einfach nur nicht das, was ich von Musik erwarte. Auch wenn Du unglaublich klar und durchsichtig hast spielen lassen, die Magie, die durch die Musik zutage treten kann, die ließ sich einfach nicht blicken. Dabei waren Dir die Umstände so hold. Mit Julia Fischer und den Wiener Symphonikern standen Dir ausgezeichnete Musiker zur Verfügung. Mit Schumanns Violinkonzert, Musik, die inniger und tiefgehender kaum sein könnte. Dennoch konntest Du kein Feuer entfachen.
Das hat sich dann beim zweiten Mal so fortgesetzt. Dieses Mal wieder im Goldenen Saal des Musikvereins Wien. Ein Ort, der von selbst schon so viel Magie ausstrahlt, dass er möglicherweise sogar blendet. Wiederum nichts. Dieses Mal kam es noch schlimmer. Während Du beim ersten Mal nur den Tiefgang hast vermissen lassen, wurde an diesem Abend auch noch schwer gepatzt. Nicht nur, dass das ganze Gefüge bei Bachs „Magnificat“ in Wanken geriet, forcierte der Chor mit derart viel Druck, dass sich das Publikum in den ersten Reihen vor Schmerzen wirklich krümmte. Das ist keine Übertreibung. Es hat kurzfristig wirklich weh getan – physisch!
Das sollte, nein, das darf meiner Meinung an einem Ort wie dem Musikverein Wien einfach nicht passieren. Dort, wo bereits so viele Größen der Musikgeschichte musiziert haben – egal ob ein Karajan, ein Böhm, ein Horowitz oder wie sie alle heißen mögen –, dort erwarte ich die höchsten Standards. An denen wirst auch Du gemessen.
Vielleicht lag es einfach daran, dass Du keine Zeit hattest, um ordentlich zu proben. Gut möglich. Immerhin warst Du zu dieser Zeit nicht nur Chefdirigent der Wiener Symphoniker, sondern auch noch Musikdirektor an der Pariser Oper. Eine Doppelbelastung, die vermutlich mit ungeheuren Strapazen verbunden war. Das darf allerdings keine Ausrede sein. Auch an diesen Institutionen fällt man schon Mal durch.
Dabei stellte sich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Frage, warum Du alles in ein Boot werfen musst. Von Bach über Mozart bis hin zu Wagner und Mahler. Noch dazu Oper und Orchester. Zwei völlig unterschiedliche Welten. Das muss ich Dir ja nicht erzählen. Mir ist schon bewusst, dass Musiker ungern als Spezialisten abgehakt werden wollen. Allerdings wird es schon seine Gründe haben, weshalb nur die wenigsten diesen Spagat wagen und schaffen.
Aber gut. Mit all diesen fast schon dogmatischen Zweifeln im Gepäck, habe ich mich auf das dritte Abenteuer eingelassen: Puccinis „Madama Butterfly“ an der Wiener Staatsoper. In der Hoffnung, dass Du beim Musiktheater zu mehr Opulenz und Breite gewillt sein könntest – überhaupt mit dem Wiener Staatsopernorchester. Einem Klangkörper, aus dem sich die Wiener Philharmoniker rekrutieren. Resultat: wiederum unbefriedigend.
Bitte, lieber Philippe, nicht falsch verstehen. Das war alles wiederum sauber musiziert, unheimlich klar, wie ich es von Dir schon kenne. Das hast Du drauf. Allerdings hat da wieder einiges gefehlt. Auch wenn diese „Butterfly“ so richtig „durchgeputzt“ wurde, wie es ein Freund bezeichnet. Mal wieder ordentlich geprobt gewesen sein dürfte. Ein Privileg, das an der Wiener Staatsoper nicht so selbstverständlich ist – das wissen wir beide. Dennoch hatte ich das Süße, das Dolce, auf das ich so gehofft hatte, vermisst. Stattdessen wehte mir eine unterkühlte Brise entgegen.
Mittlerweile hatte ich schon wirklich am Urteilsvermögen der anderen gezweifelt. Immerhin gibt es genügend Personen, die Deine Art zu musizieren unheimlich schätzen. Auch in meinem Bekanntenkreis. „Ein großer Musiker, ernsthaft und gut vorbereitet“, heißt es da. „Musikalisch vielversprechend.“ Na gut, dachte ich mir, dann begebe ich mich Mal auf die Reise und versuche den Perspektivenwechsel. Der hat ja schon oft einiges bewirkt.
Also habe ich Dein Buch („Der Klang der Stille“) gekauft. Es sorgfältig gelesen, durchdacht und einige Thesen geschmiedet. Und plötzlich dämmerte es mir: Was, wenn Du das alles nach Plan so machst? Was, wenn Du gar nicht möchtest, dass Puccini breiter und inniger klingt? Was, wenn es nicht daran liegt, dass Du dazu nicht imstande bist, sondern einfach nur eine andere Klangvorstellung verfolgst, als ich sie bevorzuge?
Immerhin schreibst Du in diesem äußerst lehrreichen Buch, dass man bei Puccini nicht in eine „pseudoreligiöse, sentimentale Schiene“ abgleiten dürfe. Wortwörtlich steht da sogar: „Sentimentalität ist ja immer der Tod echter Emotion.“ Ein Satz, den ich zuerst als Floskel belächelt habe. Letztendlich hat er aber dazu geführt, dass ich Dich besser verstehe.
Obwohl Du Dich damit explizit auf „Suor Angelica“ berufst, dem Mittelteil von Puccinis Dreiakter „Il trittico“, offenbart er doch ganz klar Deinen Zugang zur Musik. Der ist einfach anders. Intellektuell bis aufs kleinste Detail ausgearbeitet. Mehr von Transparenz und einer kühlen Diversität durchzogen, als von großem Pathos und Rührseligkeit. Nicht nur bei Puccini, sondern vielleicht sogar generell. Vor allem aber bei Puccini, da Du im Buch noch bekräftigst, man dürfe bei ihm nicht in die „Musical-Falle“ treten und auch nicht zu viel „Kitsch“ aufkommen lassen. Schon gar nicht bei „Madama Butterfly“. Die siehst Du nämlich, näher beim Impressionismus angesiedelt als beim italienischen Verismo. Das hat mir zumindest die Augen geöffnet.
Wenn ich es auch nicht verstehe, warum Du diese Entromantisierung bei einem Schumann vollziehst, zeigt es dennoch, dass Du eine ganz klare Linie verfolgst. Dass Du den schlanken Ton, einer ausgedehnten Breite und Phrasierung vorziehst. Damit triffst Du zwar selten meinen Puls, aber anscheinend den vieler anderer. Dem zolle ich zumindest auf intellektueller Ebene großen Respekt.
Das führt mich zu meinem bislang letzten Live-Erlebnis, das ich mit Dir teilen durfte: „Macbeth“ an der Wiener Staatsoper. Ein Abend, auf den ich wirklich schon gespannt war. Immerhin hat mich ein Satz, den Du im Buch hast fallen lassen, mehr als hellhörig gestimmt. Im Anschluss zu all Deinen Ausführungen, dass man bei Puccini nicht zu kitschig werden dürfe, dass man bei ihm nicht noch mehr „dazutun“ dürfe, sei das bei Verdi nämlich „ganz anders“.
Obwohl Du der Meinung bist, dass man bei Verdi den Sängern einen festeren Rahmen geben müsse als bei Puccini, hast Du auch anderes festgestellt. Und zwar: „Dass Verdi alles in die Melodie legte und dass man die Begleitung sehr differenziert gestalten muss: mit Emotion, mit Brillanz, mit Feuer und Gefährlichkeit.“ Diese Worte aus Deiner Feder, der sonst so auf kühle Politur und trockenes Kalkül setzt – das hat mich neugierig gemacht.
Also habe ich eine anständige Sitzplatzkarte besorgt – in der Hoffnung, dass Du das Ruder bei mir doch noch rumreißen könntest. Immerhin hattest Du schon im Vorfeld etwas Feuer geschürt. Obwohl ich von Livestreams wenig halte, klangen Dein „Figaro“ und Dein „Parsifal“ schon ziemlich vielversprechend. Ein Eindruck, der sich an diesem Abend nicht nur festigen sollte. Von der großartigen Stimme der Netrebko unterstützt und von den Wiener Philharmonikern sensationell getragen, konntest Du endlich wieder den Glauben an Dich entfachen, den ich fast schon als erloschen glaubte.
Nicht nur, dass das eher meiner Vorstellung eines romantischen Opernabends entspricht, auch den sonst so vermissten Spannungsbogen hattest Du endlich umgesetzt. Das war Musik, das war Magie, wie ich es mir intensiver und inniger nicht vorstellen könnte. Noch dazu, bei einem Werk, das nicht gerade berühmt dafür ist, dass es musikalisch leicht ins Ohr ginge. Bravo, lieber Philippe. Bitte mehr davon! So kann und darf das gerne weitergehen.
Vielleicht schon kommende Saison. Immerhin warten mit dem „Parsifal“ und dem „Tristan“ schon große Aufgaben auf Dich. Wenn es Dir gelingt, den eingeschlagenen Kurs zu halten, dann bin ich guter Dinge. Du wirst auf jeden Fall von mir hören…
In diesem Sinne, lieber Philippe, wünsche ich Dir alles Gute. Bleib gesund und lass uns beten, dass das Haus im Winter auch geöffnet bleibt.
Jürgen Pathy, 26. August 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Parsifal Wiener Staatsoper, 11. April 2021 (Stream bei ARTE Concert vom 18. April)
Ich freu mich, dass Sie Camilla Nylund erleben konnten, in Zürich hat Sie Brünnhilde leider, leider abgesagt!
Helga Schröder-Weber