Foto: © Westermann
Peter Tschaikowsky, Eugen Onegin
(83. Vorstellung seit der Premiere am 11. Februar 1979)
Staatsoper Hamburg, 7. Juni 2019
Musikalische Leitung: Nathan Brock
Inszenierung: nach Adolf Dresen († 2001)
Bühnenbild: nach Karl-Ernst Herrmann († 2018)
Kostüme: Margit Bárdy
Choreografie: Rolf Warter
Chor: Christian Günther
Spielleitung: Petra Müller
Larina: Katja Pieweck
Tatjana: Ruzan Mantashyan
Olga: Nadezhda Karyazina
Filipjewna: Marta Świderska
Eugen Onegin: Bo Skovhus
Wladimir Lenski: Oleksiy Palchykov
Fürst Gremin: Liang Li
Ein Hauptmann: Shin Yeo
Saretzki: Ang Du
Triquet: Jürgen Sacher
Vorsänger: Dimitar Tenev
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester
von Guido Marquardt
Man kann von Glück sagen, dass ein sehr gut aufgelegtes Ensemble an diesem Abend in der Hamburgischen Staatsoper der Versuchung widersteht, sich mit Druck und Lautstärke gegen ein viel zu lautes Orchester zu wehren. Das, was an Gesang durchdringt, entschädigt die viel zu wenigen Zuschauer vortrefflich.
40 Jahre ist sie schon alt, die Hamburger „Eugen Onegin“-Inszenierung des leider längst verstorbenen Adolf Dresen. In diesen 40 Jahren hat sie es „nur“ auf etwas mehr als 80 Vorstellungen gebracht. Das ist einerseits unverständlich aufgrund der hohen musikalischen Qualität und der Zeitlosigkeit von Stück und Inszenierung.
Andererseits wundert man sich, dass diese Vorstellung an einem Freitagabend nur derart wenige Zuschauer in die Staatsoper zieht. An der Besetzung liegt es ganz gewiss nicht. Schreckt die russische Originalversion ab? Aber wozu gibt es Übertitel. Oder sind es die recht langen Umbaupausen zwischen den Bildern von Tschaikowskys „Lyrischen Szenen“? Nun, immerhin bietet das dem in Teilen wenig fokussierten Publikum Zeit zum Husten und Tratschen, wenn auch für manche offenbar immer noch nicht genug.
Die Inszenierung von Adolf Dresen, der damit seinerzeit sein Opernregie-Debüt feierte, nachdem er zuvor bereits als Theaterregisseur erfolgreich gewesen war, fokussiert sich ganz auf die Herausarbeitung der psychologischen Disposition der Figuren. In den ländlichen Szenen sehen wir ein etwas welkes Idyll, eine Tatjana in einem eingezäunten Garten und viel Weiß bei den beiden Schwestern. Eindrucksvoll ist die Duellszene – in Schwarz mit grauem Schnee und etwas Nebel gehüllt, wirkt der gedemütigte Lenski gleich noch etwas verlorener. Die zunehmende Enge betont besonders die Festszene im zweiten Akt mit ihrer niedrigen Decke und der auffälligen Garderobe.
Im zweiten Teil glänzt der Ballsaal in St. Petersburg mit kalter Pracht; hier kommt Tatjanas Ehefassade dem Erscheinungsbild einer wahren Eiskönigin nahe. Köstlich, wie hier die unglaublich gelangweilte Gesellschaft ihre Polonaise aufführt, ohne eine Miene zu verziehen – ein vortreffliches Bild des Ennui-Motivs, das für die russische Literatur in der Mitte des 19. Jahrhunderts so charakteristisch war.
Fremdbestimmung, Stadt-Land-Gefälle und die letztlich vergeblichen und frustrierenden Wünsche, ein richtiges Leben im falschen zu führen – all diese Themen und Motive werden in Dresens zeitloser Inszenierung in (für Opernverhältnisse) recht subtiler Form herausgearbeitet und machen sie auch heute noch durchaus sehenswert.
Ein zentraler Satz, mit dem sich der Fatalismus, die innere Leere und Erwartungslosigkeit vieler Figuren dieser Oper auf den Punkt bringen lassen, kommt aus dem Munde der Mutter Larina und lautet in deutscher Übersetzung: „Der Himmel lässt oft für das Glück Gewöhnung als Ersatz zurück.“
Am Ende der Oper befinden wir uns fast wieder am Anfang; die Gültigkeit von Larinas nüchterner Einschätzung hat sich bestätigt. Schlimmer noch, jedenfalls für Onegin: Tatjana lässt ihn abblitzen mit dem vernichtenden Statement „Vergangenes kehrt nicht mehr zurück“. Manchmal gibt es keine zweite Chance. Vielleicht auch nie.
Die Orchestermusik ist, wie erwähnt, wenig sängerfreundlich. Natürlich kann man in Tschaikowskys Partituren orchestral schwelgen, und in einem Konzert ohne Gesang darf man gern in die Vollen gehen. Aber eine Oper sollte doch die Sangesleistungen in den Mittelpunkt rücken, zumal bei so exquisiter Besetzung. Auch an der Präzision mangelt es leider des öfteren an diesem Abend. Gemessen daran, ist der Beifall für Nathan Brocks Dirigat ausgesprochen freundlich.
Der Chor setzt einige wunderbare Akzente und bringt mit großer Wucht die leicht folkloristischen Kompositionen Tschaikowskys stimmungsvoll von der Bühne. Besonders das von der Ernte heimkehrende Volk ergibt ein einprägsames Bild mit großer Strahlkraft, aber auch die Holunderpflückerinnen auf ihren schwindelerregend hohen Leitern.
Ruzan Mantashyan knüpft als Tatjana nahtlos an ihre hinreißende Darbietung als Micaëla („Carmen“) an. Ihr Sopran ist glockenklar, fein in den lyrischen Passagen (Briefszene) und niemals schrill im höheren Register. Ihre Verträumtheit transportiert sie ebenso glaubhaft wie ihre spätere, mit äußerster Anstrengung aufrecht erhaltene Fassade als Gattin des Fürsten. Die im zweiten Teil nur gelegentlich durch die Fassade lodernden Spitzen ihrer unterdrückten Leidenschaft dosiert Mantashyan meisterlich, ohne dass die Kontrolle je zu „technisch“ und kühl wirken würde. Und ihr Lebewohl schmerzt die Zuhörer mindestens genauso sehr wie Onegin. Überragend.
Nadezhda Karyazina ist nicht wirklich anzumerken, dass sie hier als Mezzosopranistin den Alt-Part der Olga übernimmt. Mit ihrem sehr speziellen Timbre überzeugt sie vor allem in den tieferen Passagen voll und ganz, im höheren Register ist die Strahlkraft nicht ganz so stark. Insgesamt bewältigt sie die interessante Konstellation einer tiefen Stimme für die jüngste, unbeschwert-mädchenhafte Rolle in dem Stück ausgesprochen überzeugend.
Marta Świderska ist eine wahre Zierde des Stammpersonals der Staatsoper. In ihrer Vielseitigkeit meistert sie auch die Rolle der Filipjewna hervorragend, in der es besonders auf eine gute gesangliche Harmonie mit Tatjana und Larina ankommt. Unter ihrer „Altersmaske“ ist Świderska allerdings kaum zu erkennen.
Katja Pieweck bietet als Larina eine souveräne Leistung, gerade im Quartett am Anfang kommt ihre Stimme gut zur Geltung.
Im ersten Teil geradezu barsch in seiner Arroganz, seinem Zynismus und seinem Weltekel, ist es keine geringe Aufgabe für den erfahrenen Bo Skovhus, dann auch nachvollziehbar den Wandel der Titelfigur zum geläuterten und verzweifelten Liebenden zu verkörpern. Er macht das sehr gut – mimisch und gestisch sparsam, gesanglich mit einer Steigerung in punkto Verve und Klarheit, nachdem er im ersten Teil doch noch (bewusst?) etwas reservierter und leicht belegt klingt. Den ganzen Abend überragend ist sein Onegin in den Duetten mit Tatjana und Lenski, gerade hier trägt seine Stimmfarbe zu einem außerordentlich schönen Klang bei.
Oleksiy Palchykov hat eine sehr angenehme Tenorstimme, die niemals forciert wirkt und diesen etwas introvertierten Charakter des Lenski sehr passend rahmt. Zu den Verwringungen dieses Stoffs gehört ja, dass vom Wesen her eigentlich Lenski und Tatjana deutlich besser zusammenpassen würden als Lenski und Olga oder Onegin und Tatjana. Damit korrespondiert im wahren Leben, hübsch ironisch, dass Ruzan Mantashyan und Oleksiy Palchykov tatsächlich liiert sind.
Weil Paata Burchuladze kurzfristig verhindert war, sprang Liang Li für ihn als Fürst Gremin ein. Nun, bei allem Respekt von Burchuladze: Liang Li ist eine Wucht. Sein Bass ist voll, rund und warm und bringt auch in den tiefsten Lagen noch ein feines Vibrato. Li gibt dem Vortrag seiner Liebesbekundung für Tatjana so viel Schmelz und Gefühl, dass man um so erschütterter ist, wenn man anschließend erfährt, wie nüchtern und fatalistisch Tatjana selbst ihre Ehe betrachtet. Genau diese beiden (und knapp dahinter Oleksiy Palchykov) ernten am Schluss dann auch den größten Applaus
Den Comic Relief in dieser Oper trägt der Franzose Triquet mit seinem Ständchen für Tatjana. Aus diesem Kurzauftritt kann der Tenor ein kleines Kabinettstückchen zaubern. Nun, für Las Vegas reicht es bei Jürgen Sacher vielleicht nicht ganz, aber eine erholsame Pause vom dramatischen Geschehen schenkt er dem Publikum mit seinem Couplet allemal.
Übrigens: Mit der Wiederaufnahme dieser Inszenierung im Jahre 1988 wurde erstmals an der Hamburgischen Staatsoper eine neue Übertext-Anlage eingesetzt. Das ist vermutlich kein Zufall, denn russischen Operngesang versteht ein Publikum in Hamburg nun einmal nur sehr selten – und die frühere Praxis, übersetzte Fassungen zu singen, war dann doch zunehmend aus der Mode geraten. Die damalige Übertext-Technik mit zwei Diaprojektoren (!) und regelmäßig zu wechselnden Kassetten ist natürlich längst einer PC-gesteuerten Anlage gewichen und das Übertiteln ist inzwischen selbstverständlich geworden. Allen, die mal ein bisschen mehr über die Arbeit einer Übertitelkorrepetitorin (dieses Wort jetzt bitte drei Mal schnell hintereinander laut lesen) erfahren wollen, sei dieser kleine Artikel empfohlen: https://blog.staatsoper-hamburg.de/welche-rolle-spielt-eigentlich-eine-uebertitelkorrepetitorin/
Fazit: Die alte Dresen-Inszenierung ist so sängerfreundlich, wie es die musikalische Leitung des jungen Kapellmeisters leider nicht wirklich ist. Doch das Ensemble behauptet sich mit mindestens sehr guten bis zu wirklich herausragenden Leistungen und rettet am Ende einen Abend, dessen weiteren Auflagen ein größerer Publikumszuspruch zu wünschen wäre.
Guido Marquardt, 9. Juni 2019, für
klassik-begeistert.de