„Auf Schatzsuche“ in Dortmund - das Oratorium "Ève" von Jules Massenet ist eine kostbare Wiederentdeckung nach 20 Jahren

Philharmonischer Chor des Musikvereins Dortmund, Dortmunder Philharmoniker,  St. Reinoldikirche, Dortmund

Foto: Philharmonischer Chor © Oliver Schaper
St. Reinoldikirche
, Dortmund, 18. Mai 2018
Sinfonische Dichtung Nr. 4 Orpheus
von Franz Liszt
Schicksalslied op. 54 von Johannes Brahms
Ève  – Mystère en trois partie (in franz. Sprache) von Jules Massenet
Eleonore Marguerre Sopran
Thomas Laske Bariton
Thomas Blondelle Tenor
Philharmonischer Chor des Musikvereins Dortmund
Dortmunder Philharmoniker

Granville Walker Dirigent

von Ingo Luther

Seit 2009 präsentiert das Klangvokal Musikfestival in Dortmund ein buntes Spektrum der vokalen Ausdrucksmöglichkeiten – von Oper, Chorwerken über Jazz und Weltmusik bis hin zum Pop stehen zwischen dem 11. Mai und dem 10. Juni 2018 zum zehnten Mal ausgewählte Kostbarkeiten der Musikgeschichte auf dem Programm. Die Organisatoren möchten sich dabei in diesem Jahr „Auf Schatzsuche“ begeben und dem Publikum größtenteils unbekannte Vokalmusik vom 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart nahebringen. An diesem Vorhaben beteiligen sich fast 600 KünstlerInnen aus 20 Ländern in 23 Aufführungen an zehn verschiedenen Schauplätzen. 

In Liszts Sinfonischer Dichtung Nr. 4 Orpheus hat der Konzertabend einen ruhigen, harmonischen Beginn. Das 1854 in Weimar uraufgeführte Werk erscheint geradezu prädestiniert, um die Dortmunder Philharmoniker auf Betriebstemperatur zu bringen. Mit zarten Streichertremoli und lyrischen Harfenarpeggien wird der Zuhörer aus dem hektischen Trubel der Dortmunder Innenstadt entführt und kann in der festlichen Atmosphäre der Reinoldikirche ankommen. Ein klug gewählter Beginn, bleiben die wogenden Klangexzesse und rasenden Vokalausbrüche dem späteren Verlauf des Abends vorbehalten.

Mit dem Schicksalslied op. 54 von Johannes Brahms, einer chorsymphonischen Vertonung des gleichnamigen Gedichts aus Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, erfährt der Abend eine Steigerung, und der Philharmonische Chor des Musikvereins Dortmund greift zum ersten Mal machtvoll in das Geschehen ein. Granville Walker lässt den Chor dabei wunderbar ausdrucksstark und textverständlich intonieren. Im finalen Adagio in leuchtendem C-Dur erzeugen die Dortmunder Philharmoniker zum ersten Mal an diesem Abend ein Gänsehautgefühl. Die Reinoldikirche sorgt dabei für ein akustisches Umfeld, indem die Musik sich zauberhaft verströmen kann.

Jules Massenets Klänge sind den meisten Musikfreunden ein Begriff. Ob Werther, Manon oder Don Quichotte – diese Werke gehören zum Standard-Repertoire an den Opernhäusern in der ganzen Welt. Im Jahr 1875 vertonte der Komponist die Geschichte von Adam und Eva und schuf das Oratorium Ève. Möglicherweise nicht ohne den Hintergedanken, Joseph Haydns Schöpfung viele Jahrzehnte später ein französisches Pendant gegenüberzustellen. Spricht man heute von Ève als eine Art geistliche Oper, so liegt dies nicht zuletzt an den schwelgerischen Klängen und Melodie-Feuerwerken dieser Tondichtung. Allein das große Duett Aimonsnous! C’est vivre! („Lass uns lieben! Das heisst leben!“) erscheint mehr in der Welt der Oper als in einem Oratorium verhaftet. Bereits die Uraufführung am 18. März 1875 im Pariser Cirque d’été geriet zu einem großartigen Erfolg, zu der auch Charles Gounod gratulierte.

Das Klangvokal Musikfestival Dortmund hat für diesen Abend drei überragende Künstler für die Solopartien verpflichten können. Der Tenor Thomas Blondelle ist kurzfristig für seinen Kollegen Uwe Stickert eingesprungen. Er sang vor wenigen Tagen noch den Erik im Fliegenden Holländer an der Deutschen Oper Berlin. Blondelle gibt an diesem Abend einen souveränen Sprecher, der das Geschehen zwischen Adam und Eva immer wieder durch seine mahnenden Rezitative begleitet. Mal mitfühlend, mal mit machtvoller Strenge ist er ein ausdrucksstarker Moderator der biblischen Handlung.

Dem Bariton Thomas Laske ist seine Begeisterung für dieses Werk deutlich anzumerken. Er sucht nur selten und eher beiläufig die Hilfestellung auf dem Notenblatt und verkörpert den Adam mit spielerischer Intensität. Hier ist ein Sänger am Werk, der in deutlicher Form die Freude an seinem Tun in das Publikum transportiert. Sein tragfähiger Bariton ist von angenehmer Weichheit und strotzt dennoch vor Kraft. Sehr hörenswert!

Ein Heimspiel hat an diesem Abend die Sopranistin Eleonore Marguerre. Über viele Jahre hat die Sängerin am Dortmunder Opernhaus als Violetta Valery, Marguerite oder Arabella wahre Triumphe gefeiert und avancierte zum absoluten Publikumsliebling. Deutlich ist ihre Freude zu spüren, wieder einmal in Dortmund singen zu dürfen. In den leisen Passagen nimmt sie ihre Stimme gekonnt zurück, um dann in den expressiven Ausbrüchen den gesamten Kirchenraum mit ihrem leuchtenden, höhensicheren Sopran zu fluten. Für diese Momente lebt man als Konzertbesucher! Wenn die Stimmen von Thomas Laske und Eleonore Marguerre in den Duetten zusammen finden, ist das pure Opernleidenschaft. Weit und breit kein Oratorium mehr, die biblische Bedeutung tritt für Momente in den Hintergrund, hier explodieren nur noch zwei perfekt miteinander harmonierende Stimmen in grenzenloser Leidenschaft. Hier wird Ève zur Manon, und es ist nur noch der Opern-Massenet zu hören. Welch ein erlesener Genuss für die Ohren!

Ève funktioniert nur mit einem fein abgestimmten, in den Klangschattierungen außergewöhnlich flexiblen Chor. Der Philharmonische Chor des Musikvereins Dortmund ist an diesem Abend der heimliche Star in St. Reinoldi. Mystisch als Stimmen des Himmels oder in bester „Dies-irae-Manier“ bis zur Extase rasend als Stimmen der Nacht – Granville Walker entlockt dem Chor mit seiner akzentuierten, unaufgeregten Leitung die verschiedensten Klangfarben und Stimmungsbilder. Eine Chorleistung auf technisch ausgezeichnetem Niveau – einfach großartig! Nachdem Walker 2015 nach vielen Jahren die Leitung des Opernchores in Dortmund abgegeben hat, ist er an diesem Abend wieder als feinfühliger, akkurater musikalischer Leiter zu erleben, dessen besondere Liebe zu sakraler Musik besonders spürbar wird.

Dem Klangvokal Musikfestival in Dortmund ist mit diesem Abend in der Reinoldikirche ein ganz großer Wurf gelungen. Nachdem Ève mehr als 20 Jahre in deutschen Konzerthäusern nicht mehr zu hören war, zeigt sich die „Schatzsuche“ als grandioser Erfolg. Langhaltender Beifall im Stehen belohnt alle Beteiligten für eine außergewöhnliche Gesamtleistung. Schade nur, dass die andächtige Stimmung zwischen einzelnen Teilen des Oratoriums von lästigem Zwischenapplaus von besonders ungeduldigen Zeitgenossen unterbrochen wurde. Die in einem wahren Klangrausch erzählte Geschichte von Adam und Eva wird den Zuhörern auf jedem Fall noch lange in Erinnerung bleiben! Ein wirklich großer Abend in Dortmund.

Ingo Luther, 19. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de

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