Salzburg: Zentrifugale Kräfte durchschießen den musikalischen Kosmos und holen den Zuhörer auf sehr direkte Weise in irdische Sphären zurück

Jacques Offenbach, La Périchole,  Salzburger Pfingstfestspiele

© Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik
Salzburger Pfingstfestspiele, Haus für Mozart, Salzburg, 19. Mai 2018
Jacques Offenbach, La Périchole (konzertante Aufführung)
Marc Minkowski, Musikalische Leitung
Salvatore Caputo
, Chorleitung
Aude Extrémo
, La Périchole
Benjamin Bernheim
, Piquillo
Alexandre Duhamel
, Don Andrés de Ribeira, Vizekönig von Peru
Eric Huchet
, Miguel de Panatellas
Marc Mauillon
, Don Pedro de Hinoyosa
Rémy Mathieu
, Marquis de Tarapote/ Erster Notar
Francois Pardailhé
, Zweiter Notar
Olivia Doray
, Guadalena/Manuelita
Lea Desandre,
Berginella/Frasquinella
Mélodie Ruvio
, Mastrilla/Ninetta
Adriana Bignagni Lesca
, Brambilla
Le Choeur de l’Opéra National de Bordeaux
Les Musiciens du Louvre

Von Raphael Eckardt

Mit Jaques Offenbachs „La Périchole“ stand am zweiten Abend der Salzburger Festspiele eine in jeglicher Hinsicht besondere Produktion auf dem Spielplan. Nicht nur, weil Offenbachs 1868 komponierte vielleicht großartigste Gesellschaftssatire in historischer Verbindung zu Rossinis „L’italiana in Algeri“ zu betrachten ist (mit der die Salzburger Pfingstfestspiele am Vortag fulminant eröffnet hatten) und seit jeher eher selten auf den Spielplänen dieser Welt zu finden ist, sondern auch weil es sich an diesem Abend um eine konzertante Aufführung handelte, die dem Zuhörer eine Menge Vorteile bot: Durch die minimalistische Beschränkung auf gelegentliche szenische und schauspielerische Elemente wurde dem Publikum nicht nur die pure Konzentration auf die Musik ermöglicht, sondern auch die Genialität eines unwahrscheinlich talentierten Komponisten offengelegt, die bei diesem Werk sonst durch optische Reizüberflutung oft überdeckt wird. Ein grandioser Schachzug!

In „La Périchole“ macht Offenbach eine in ärmlichsten Zuständen lebende Straßensängerin zum Sprachrohr für die ironische Betrachtung gesellschaftlicher und politischer Zustände. Die an der Armutsgrenze lebende Bevölkerung Perus im 18. Jahrhundert spielt ihrem Herrscher ein augenscheinlich glückliches Volk vor. Als „La Périchole“ dann auftritt und ihren Unmut kundtut, beginnt die massiv wirkende Fassade langsam zu bröckeln. Der König, von so viel Ehrlichkeit beeindruckt, möchte die schöne Querulantin fortan erobern.

Besetzt ist diese „La Périchole“ mit reichlich Weltklasse und einer gesunden Menge an jugendlichem Esprit: Mit Marc Minkowski am Pult der Les Musiciens du Louvre konnte eine Emsemblekonstellation gewonnen werden, die sich seit jeher als Offenbachspezialist erwiesen hat: Beinahe befreit aufspielend präsentieren die Musiker an diesem Abend eine emotionale Darbietung mit allerhand strukturellen Besonderheiten. Minkowski gelingen immer wieder nuancenreiche Umbrüche. Ja, wie ein skizzierender Zeichner steht er da am Pult. Fein dosierte Striche verschmelzen zu scharfsatirischen Musikbildern. Jeder Takt hat da seine eigene Mimik, jeder Ton seine eigene Gestik. Man wähnt sich förmlich im Rausche des unvernebelten Reinen: All das, was dem Zuhörer durch das fehlende Bühnenbild visuell verborgen bleibt, beziehen Minkowski und die Les Musiciens du Louvre konsequent in die Musik mit ein.

Liebliche Episoden und schroffe Konturen verschmelzen zu einem feinsinnigen Wechselspiel, musikalische Charaktere blitzen dank nuancenreicher Agogik in mannigfaltigster Weise, aber dennoch authentisch und klar auf. Das, was Minkowski da dirigiert, erinnert an ein grandios gemaltes Acrylgemälde, in dem verschiedenste Blautöne dominieren. Hier und da tauchen bei genauem Hinsehen neue Farben auf: Immer kräftiger, immer detailreicher! Da ist ein gewaltiger Strom zu spüren, der sich in immer neuen Bahnen fließend gekonnt seinen Weg durch die emotionale Weite in Offenbachs Musik bahnt. Welch’ eine Liebe zum Detail! Sagenhaft!

Ähnliches gilt für den an diesem Abend zauberhaft aufgelegten Opernchor aus Bordeaux: Nur selten sind Chorpassagen in Offenbachs Oeuvre mit einem derartigen Farbenreichtum dahergekommen wie an diesem Abend. Jede Note, jede Phrasierung und jede noch so kleine Nuance wird da ganz bewusst mit feinfunkelnden Goldtönen verziert. Da entsteht ein endlos wirkender Nachthimmel, voll an Sternen und Kometen. Plötzlich setzt sich alles in Bewegung! Zentrifugale Kräfte durchschießen den musikalischen Kosmos und holen den Zuhörer auf sehr direkte Weise in irdische Sphären zurück. Ein in Offenbachs Musik unstreitbarer Mehrgewinn! Ja, Minkowski gelingt es, genau das, was Offenbachs Musik so kostbar macht und von anderen Komponisten unterscheidet, auf bravouröseste Art interpretatorisch umzusetzen. Chapeau!

Solistisch versprechen große Namen, kombiniert mit Senkrechtstartern der Klassikszene, einen musikalisch hochspannenden Abend: Die französische Mezzo-Sopranistin Aude Extrémo stellt sich als Titelheldin des Abends vor. Mein lieber Freund, und wie sie das tut! Mit feinfühliger und wohldosierter Stimme gelingt Extrémo eine Darbietung der Extraklasse! Weiche Pianissimi wechseln sich da mit wohlig warmem Forte ab. Trotz ihrer musikalischen Gegensätzlichkeit entsteht kein Bruch! Alles kommt aus einem Guss: Mit dem nötigen technischen Vermächtnis und vollkommen ohne musikalische Überdrehtheit durchwindet sie Offenbachs leicht karnevalistisch anmutende Passagen nicht nur hochprofessionell, sondern auch mit einer Leichtigkeit, die man so nur selten zu hören bekommt. Diese makellosen Verzierungen in Kombination mit hinreißenden Koloraturen heben Offenbachs Musik auf ein einzigartiges Level. Ja, diese Aude Extrémo scheint wahrlich ein Phänomen zu sein!

Der französische Tenor Benjamin Bernheim besticht als souveräner Piquillo. Mit beachtlicher Sicherheit meistert er alle heiklen Stellen in donnernd rasender Manier. Plötzlich sticht die immense Tiefe seines musikalischen Ausdrucks hervor: Hier ein authentischer Seufzer, dort ein wilder Aufschrei. Bernheim schmettert einen vom lateinamerikanischen Temperament durchtriebenen Piquillo auf’s Parkett, der sich nur dann um Diskretion und Zurückhaltung bemüht, wenn es Offenbachs Musik unmissverständlich fordert. Das mag für den ein oder anderen etwas überdreht wirken, betrachtet man den kompositorisch-historischen Kontext von „La Périchole“, muss man aber neidlos anerkennen: Viel besser kann man diesen Part eigentlich nicht singen! Bernheims obertonreiche Tenorstimme lässt dann auch den letzten Zweifler dahinschmelzen: Bei jeder Passage scheint sich ein riesiger Regenbogen über den Salzburger Nachthimmel zu legen. Da ist eine Wärme zu spüren, die jeden im Publikum in ihren Bann zieht! Ein warmer Frühlingsregen, der Lichtstrahlen in tausend Farben reflektieren lässt. Hier und da verschmelzen einige Regentropfen zu schimmernden Glasperlen. Fabelhaft!

Der heimliche Star unter den Solisten sollte an diesem Abend dann aber ein junger Franzose sein, der gleichzeitig sein Debut bei den Salzburger Festspielen feiern durfte. Alexandre Duhamel, als Vertretung für den krankheitsbedingt ausfallenden Laurent Alvaro kurzerhand eingesprungen, brillierte in einer Art und Weise, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Mit stürmischer Energie und einer gesunden Portion an jugendlicher Unbekümmertheit gab er einen Don Andrés (Vizekönig von Peru) zum Besten, der durch unbrechbares Selbstvertrauen überzeugen konnte. Technisch perfekt und musikalisch vielen deutlich erfahreneren Sängerkollegen dieser Welt weit überlegen, setzt sich Duhamel an diesem Abend sein ganz persönliches Denkmal in Salzburg. In diesem Alter eine derartig reife Leistung abzuliefern, zeugt nicht nur von unfassbar hoher musikalischer Klasse, sondern auch von außergewöhnlichem Charakter. Da, wo andere Künstler über die richtige interpretatorische Annäherung an Offenbachs Musik sinnieren, fackelt Duhamel nicht lange: Hier eine scharfe Phrasierung, dort eine fein vibrierte Fermate im Pianissimo. Der Zauber in Duhamels Stimme vollendet eine einzigartig verzauberte Traumwelt, die sich weit über Salzburg auszubreiten scheint.

Wer Offenbach so versteht und interpretiert wie Minkowski und die anderen Künstler an diesem Abend, hat eine Inszenierung zur emotionalen Untermalung gar nicht nötig! Eine Sache lehrt dieser Abend ganz gewiss: Die Geschichte aus dem Leben einer peruanischen Querdenkerin erzählt Offenbachs von ganz alleine – auf eine scharffeurige Art und Weise, die jeden im Saal in ihren Bann zieht. Ganz träumerisch, ganz mystisch…

Raphael Eckardt, 20. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de

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