Foto: © Nicolas Maack
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 19. Mai 2019
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Konradin Seitzer, Violine
Dennis Russell Davies, Dirigent
Ludwig van Beethoven: Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 op. 72a
Felix Mendelssohn Bartholdy: Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64
Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 12 d-Moll op. 112 „Das Jahr 1917“
von Guido Marquardt
Zu erleben ist an diesem Mai-Vormittag in Hamburg ein mitreißender Konzertvormittag mit einem hochkonzentrierten Orchester und einem Publikum, dem am Ende sogar der Atem für die obligatorischen Hustenattacken ausgeht.
Brave Abonnenten-Matinee? Sichere Nummer für Bustouristen? Von wegen! Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg feuert ein furioses Programm raus, das sich gewaschen hat. Beinahe erwartet man, dass die zuhörenden Volksdorfer Rentner im Anschluss auf die Straße stürmen, die Revolution ausrufen und irgendeine Hafenbarkasse beschießen. Aber vielleicht halten sie dann doch inne und erinnern sich daran, dass vor dem Schostakowitsch noch ein dramatischer Beethoven und ein lieblicher Mendelssohn auf dem Programm standen. Und zudem nicht zuletzt Schostakowitschs eigene Geschichte die Brüche des 20. Jahrhunderts hinreichend widerspiegelt, um keine Kurzschlussreaktionen aufkommen zu lassen.
Um Befreiung und Mut geht es in „Fidelio“, Beethovens einziger Oper. Bekanntermaßen dauerte es etwas, bis Beethoven die Ouvertüre in der für ihn passenden Form fertiggestellt hatte. Und so geben die unter dem ursprünglichen Werknamen „Leonore“ überlieferten Versionen noch heute einen spannenden Einblick in die Entstehungs- und Werkgeschichte.
Ausufernder, dramatisch stärker ausbuchstabiert und in seiner Wirkung sehr viel eigenständiger als in der finalen Opernfassung kommt die als „Nr. 2“ bekannte Ouvertüre daher. Mit präziser Wucht bringen die Philharmoniker unter Dennis Russell Davies das Stück in den Saal. Es mag etwas seltsam klingen, aber von besonderer Güte sind die Generalpausen, die nicht zuletzt auch als deutlicher Beleg für die gute Abstimmung und die konzentrierte Gesamtleistung von Dirigent und Orchester stehen. Nur gegen Ende gerät die Tempokontrolle ein ganz kleines bisschen ins Wanken, aber insgesamt ist das schon ein sehr gelungener Auftakt.
Das Konzert für Violine und Orchester op. 64 schuf Felix Mendelssohn Bartholdy als Chefdirigent des Leipziger Gewandhausorchesters für seinen Konzertmeister Ferdinand David. Insofern stellte man sich jetzt in Hamburg in eine gewisse Traditionslinie, indem man den Solopart an Konradin Seitzer übertrug, den 1. Konzertmeister der Philharmoniker. Imponierend gleich vom schwelgerischen Auftakt des ersten Satzes an, gestaltet der Solist insbesondere die lauteren Passagen mit viel Druck. In den etwas schnelleren Abschnitten resultiert das zum Teil in einem durchaus etwas rauhen, beinahe derben Ton, der aber dennoch überhaupt nicht deplatziert wirkt, sondern die weiche, samtige Grundcharakteristik des Konzerts angenehm belebt. Die Piano- und Pianissimo-Passagen hingegen spielt Seitzer so süß und zart-lyrisch, dass man sich direkt hinwegträumt. Die Arpeggien spielt er geradezu perlend, fast wie ein Pianist.
Auffällig ist die sehr gute Abstimmung zwischen dem Solisten und dem Orchester – auch hier entspricht es durchaus dem Grundansatz des Werks, den Dialog sehr innig zu gestalten und einen extrem harmonischen Charakter aufzubauen. Zum ausgesprochen „runden“ Gesamteindruck trägt sicherlich auch ein Detail bei, das heutzutage kaum weiter auffällt, zum Zeitpunkt der Entstehung jedoch eine echte Innovation war, nämlich der fließende Übergang zwischen den einzelnen Sätzen.
Pause.
Wir schreiben das Jahr 1917. Die Welt steckt in einem mörderischen Krieg, und aus den Trümmern des zaristischen Russlands entsteht die Sowjetunion – unter maßgeblicher Mitwirkung von Lenin, der aus dem Schweizer Exil zurückkehrt. Vor diesem Hintergrund entwirft Schostakowitsch im Jahre 1961 seine 12. Symphonie, acht Jahre nach dem Tode Stalins wohl wieder eher gestimmt, einen sozialistischen Gründungsmythos zu erzählen. Doch er wäre nicht Schostakowitsch, würden wir hier von einer programmatischen Pflichterfüllung sprechen, die mit trivialer Eindeutigkeit eine simple Heldengeschichte erzählt. Vielmehr handelt es sich hier um die hin- und herwogende Nachzeichnung von Kämpfen, Brüchen, Bedrohungen und Gegenreaktionen.
Es ist Aufgabe der Streicher, durch die ganze Symphonie hindurch eine melodische und klangliche Grundierung herzustellen, auf der die Bläser und das Schlagwerk laufen können wie auf einem dicken Teppich. Das gelingt auch ganz vorzüglich, der volle Breitwand-Effekt dieser Musik ist von den ersten Takten an da. Im ersten Satz, „Revolutionäres Petrograd“ betitelt, türmt sich Schicht um Schicht auf; man möchte hier von einer beinahe elegischen Aggressivität sprechen, die sich entwickelt. Dunkle Bedrohungen, die sich in fanfarenartigen Attacken entladen, ergeben ein mitreißendes Bild von hoher Dynamik.
Der zweite Satz „Rasliw“, nach einem zwischenzeitlichen Fluchtort Lenins benannt, bietet die einzige Ruhephase dieses Werks. Das Tempo gerät hier vielleicht minimal zu langsam – nichtsdestotrotz bieten sich auch hier interessante Motive, die insbesondere von den Holzbläsern wunderbar plastisch ausgestaltet werden.
Im dritten Satz geht es dann wieder richtig zur Sache: Der Panzerkreuzer „Aurora“ zieht auf. Das Leninthema und ein weiteres Thema aus dem ersten Satz stacheln sich gegenseitig an und bauen eine unerhörte Spannung auf, die sich schließlich in den Kanonenschüssen zum Sturm der Bolschewiki entlädt. Fabelhaft zu beobachten ist hier, wie konzentriert und flüssig durchweg die Übergaben zwischen den Instrumenten funktionieren. Dennis Russell Davies hat jederzeit die große Orchesterbesetzung im Blick und Griff.
Von der „Aurora“ (lateinisch für „Morgenröte“) zu nichts weniger als der „Morgenröte der Menschheit“, dem vierten Satz dieser monumentalen Symphonie. Programmatisch weist Schostakowitsch hier weit über das Jahr 1917 und auch das Entstehungsjahr 1961 hinaus, hier wird nicht weniger als eine Utopie der friedlichen, freiheitlichen, brüderlichen Gesellschaft entworfen. Kraftvoll entwickelt sich der Schlusssatz, synthetisiert die drei vorangegangenen Sätze und lässt schließlich mit großer Verve den Herzschlag der Revolution so laut pochen, dass wir zwischen den letzten Tönen des Finales und dem stürmischen Applaus des Publikums eine Art von atemloser „Zuhörer-Generalpause“ hören. Die Eindrücke müssen sich doch einen Moment setzen.
Vielleicht waren Sie mal in München und haben die „stehende Welle“ bestaunt, die man dort im Eisbach künstlich erzeugt und die Surfern eine dauerhafte Möglichkeit zur Ausübung ihres Sports bietet. Vergleichbares gelingt dem Philharmonischen Orchester Hamburg bei diesem Konzert: Trockene Akustik hin, kurze Nachhallzeit her – wie es Dirigent und Musiker an diesem Tage schaffen, quasi einen durchgängigen, machtvollen Klang zu halten, zu modulieren und in ihren dramatischen Windungen konsequent bis zum Ende zu führen, verdient allerhöchste Anerkennung. Ein neuerlicher Beweis dafür, was die Elbphilharmonie akustisch ermöglicht, wenn man sie richtig zu bespielen versteht.
Es liegt in der Natur der Schostakowitsch-Symphonie und an der Prominenz des Schlagwerks, dass die sechs(!) Perkussionisten und hier insbesondere der hochpräzise Solo-Paukist Brian Barker den stärksten Beifall abräumen. Doch auch die Holzbläser ernten wohlverdiente Ovationen. Ganz besonders hervorheben ließe sich Solo-Klarinettist Rupert Wachter, der mit ganz feiner Klinge einen großen Anteil an der dynamischen Struktur und Ausgestaltung der Symphonie hat.
Zugabe? Was, bitte, sollte man da noch spielen? Orchester und Zuhörer verlassen in glücklichster Erschöpfung den Saal. Wenn doch Revolutionen und Utopien immer so mitreißend wären!
Guido Marquardt, 19. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de