MUSIK, DIE TRÄNEN IN DIE AUGEN TREIBT – EIN WUNDERBARER MUSIKALISCHER SPAGAT: VERDI UND MAHLER IN DER ELBPHILHARMONIE HAMBURG

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Paolo Carignani, MDR-Rundfunkchor,  Elbphilharmonie Hamburg, 17. März 2019

Foto: Paolo Carignani – Bildquelle: www.opera-online.com
Elbphilharmonie Hamburg
, 17. März 2019

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Dirigent Paolo Carignani
MDR-Rundfunkchor
Choreinstudierung Eberhard Friedrich
Giuseppe Verdi (1813-1901), Quattro pezzi sacri
Gustav Mahler (1860-1911), Symphonie Nr. 4 G-Dur
Sopran Solist des Tölzer Knabenchors

von Dr. Holger Voigt

Auf dem zweiteiligen Programm des 7. Konzertes des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg standen mit dem Chorzyklus „Quattro pezzi sacri“ von Giuseppe Verdi sowie der Symphonie Nr. 4 G-Dur von Gustav Mahler Werke von Komponisten, die vermeintlich in unterschiedlichen musikalischen Universen unterwegs waren. Allein diese Programmauswahl – einem musikalischen Spagat ähnelnd – versprach eine hochinteressante Begegnung mit einem Opernkomponisten und einem Symphoniker an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.

Die musikalische Leitung lag in den Händen des italienischen Dirigenten Paolo Carignani, der gerade einige Tage zuvor in der umjubelten Premiere von Verdis Nabucco in der Inszenierung von Kirill Serebrennikov bereits am Pult stand. Eine bis zum Anschlag gefüllte Elbphilharmonie an einem stürmisch-regnerischen Sonntagmorgen war gespannt darauf, ob und wie dieser Spagat gelingen würde.

Tatsächlich gibt es interessanterweise durchaus Parallelen im Schaffen beider Komponisten. In ihren persönlichen Biografien gab es traumatische Todeserfahrungen, die ihre unverkennbaren Spuren im kompositorischen Werk hinterließen. Giuseppe Verdi verlor innerhalb weniger Monate nacheinander seine zwei Kinder und seine erste Ehefrau Margherita, Gustav Mahler hatte 1907 den frühen Tod seiner geliebten Tochter Maria zu verarbeiten und wurde durch die Erkenntnis seiner eigenen Herzerkrankung schwer belastet. Leben und Tod also, in ständiger Reichweite des eigenen Lebens und Erlebens. Wie also künstlerisch umgehen mit dieser kreatürlichen Sinnfrage? Religiös oder gar darüber hinausgehend?

Historisch bewegen wir uns in der letzten Dekade des Neunzehnten Jahrhunderts, und wir Nachgeborenen wissen, dass gewaltige soziokulurelle Umbrüche vor der Tür standen, die sich auch auf die Musikwelt niederschlagen würden. Romantik und Spätromantik waren verklungen und machten der Moderne Platz. Bereits in Verdis Falstaff ließ sich eine völlig neuartige Kompositionsweise erkennen. Gleichwohl ging Verdi diesen Weg aber nicht weiter, da er sich zu dieser Zeit eigentlich bereits „auskomponiert“ hatte. Fast alle seiner ihm nahestehenden Menschen waren verstorben, und es wurde zunehmend einsam um ihn. Er widmete sich vorrangig seiner schönsten Schöpfung, der „Casa di Riposo“ in Mailand, einer Altersresidenz für mittellose Musiker. Und doch nahm er sich alte Skizzen und Entwürfe, aber auch bereits Komponiertes wieder vor und vervollständigte die „Quattro pezzi sacri“, 4 nur lose zyklisch zusammengefügte geistliche Chorwerke.

Gustav Mahlers 4. Symphonie wurde 1901 uraufgeführt – es war genau das Jahr, in dem Giuseppe Verdi starb. Hier schließt sich der Spagat also auch historisch. Indes war Mahler nach den monumentalen Symphonien Nr. 2 und 3 noch immer damit befasst, seine kompositorische Formalsprache zu entwickeln. Im Vergleich zu ihren mächtigen Vorgängern zeigt sich die Vierte schon sehr zurückgenommen. Sie ist zunächst dreisätzig und führt als 4. Satz das Lied „Das himmlische Leben“ aus dem Liederzyklus „Des Knaben Wunderhorn“ (nach Clemens Brentano und Achim von Arnim) ein. Es mag sonderbar anmuten, dass Mahlers Vierte als eine seiner heiteren Symphonien aufgefasst wurde, eine Auffassung, der ich mich bestenfalls taktweise anschließen würde. Durch das gesamte Werk Mahlers ist die dialektische Bitterkeit der Todeserfahrung ständig präsent. Beschreibt er die Schönheit der Natur, so ist deren Verfall unter Verlust der Schönheit stets mitkomponiert. Hierzu hat er in der Vierten sogar einen ganzen Satz vorgesehen, in dem ein fröhlich-burlesker Tanz mit beabsichtigt höhergestimmter Violine zu einem schrillen Totentanz wird.

Der erste Teil der „Quattro pezzi sacri“ – das „Ave Maria“ ist eine reine Chorkomposition. Der von Eberhard Friedrich (wieder einmal!) hervorragend einstudierte Chor des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) begann aus einem nahezu unhörbaren Pianissimo und entwickelte eine anrührende Klangwärme, die in der Elbphilharmonie besonders eindringlich wahrnehmbar war.

Das „Stabat Mater“ ist eingebettet in einen nicht minder warmen Orchesterklang und zeigte eine geradezu opernhafte, dramatische Klangdynamik. Chor und Orchester überzeugten mit präzisen Einsätzen und klangschönem Ausdruck – Maesto Carignani hielt Chor und Orchester in unglaublicher Spannung bis zum gleichsam kathartischen Schluss.

Das „Laudi Alla Vergine“ – erneut ein reiner a cappella-Choralteil – entspricht einem vertonten Gebetstext, der vom MDR-Chor zurückgenommen und geradezu schwebend vorgetragen wurde. Die Akustik der Elbphilharmonie zeigte auch hier erneut ihre Stärken.

Das „Te Deum“ erwies sich als Höhepunkt an diesem Morgen im Verdi-Teil des Konzertes. Mit millimetrischer Präzision, dabei anrührender Klangschönheit sang der mächtige Chor auf allerhöchstem Niveau, zudem furchtlos im Forte und Fortissimo, wie man es selten hört. Ganz hervorragend das Sopran-Solo (Katharina Kunz), das sich nicht im Wettstreit mit dem Orchester befand, sondern mit diesem verschmelzen konnte. Faszinierend, wie Maestro Carignani Orchester und Chor zusammen atmen ließ! Ganz besonders anrührend: Der allerletzte Ton nach dem letzten „In te speravi“ (notabene: zeitlich weder Präsens oder Präteritum, sondern Perfekt!) erklingt der letzte Streicherton so hoffnungslos und endgültig, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Er erinnert an den letzten Hauch Otellos, wird aber hier vom Klangmagier Carignani sehr lang anhaltend ausgedehnt, was bedeutet: Der Hauch gilt und ist somit endgültig. Begeisterter Beifall schon zur Pause!

Spielerisch leicht und freundlich beginnt Gustav Mahlers Vierte. Die Themenentwicklung folgt dem Mahlerschen Kompositionsgestus (Natur, Marsch, Tanz) der symphonischen Einbettung von Natur, ohne direkt tonmalerisch sein zu wollen. Bereits hier wird das Themenmaterial ironisierend hinterfragt und verhindert damit eine zu leichtfertige Wahrnehmung allzu harmonischer Grundannahmen. Dieser Satz bedient sich einer vielgestaltigen Orchestrierung, in der verschiedene Instrumente kurzfristig quasi solistisch beteiligt werden, fast kommentierend wirken. Große Spielfreude bei den präzise spielenden Orchestermitgliedern!

Im zweiten Satz bekommt die Todesahnung einen eigenen, bizarr instrumentierten Auftritt: der Totentanz („Freund Hein spielt auf“), formal in ländlerartiger Verkleidung (ein früher „Jedermann“?). Prachtvoll gespielt und schaudererrgend. Er endet mit einem großen Fragezeichen.

Vor dem dritten Satz gab es noch einen unvorhergesehenen Programmbeitrag des Publikums, das sich – fast wie abgesprochen – in einem wahren Hustenkonzert Luft machte. War der Totentanz doch zu aufregend gewesen?

Der dritte Satz – das Kernstück der Symphonie – gehört zu den schönsten und bewegendsten Sätzen der Symphonik. Hier singt Mahler seine Seele aus in vollkommen friedvoller Harmonie. Das Philharmonische Staatsorchester wurde von Maestro Carignani zu einer satten, samtenen Klangfarbe geführt, die einem die Tränen in die Augen treiben konnte. So schön kann Mahler klingen! Doch Mahler lässt es nicht einfach so geschehen, seine Themenvariationen lassen auch Motive auftauchen, die allzu viel Harmonie in Frage stellen. Doch er findet den Weg zurück und kehrt wieder zum Ausgangsthema zurück. Und dann kommt er, der Moment der Erkenntnis: mit einem übermächtigen Fortissimo reisst auf einmal der Himmel auf und lässt alle Fragen und Zweifel verschwinden, ein geradezu religiöser Augenblick in dieser Symphonie! Mit einem hörbaren Auftreten des Fußes auf den Pultboden reisst Carignani das Orchester zu einem explosionsartigen Klangrausch in die Höhe, was in der Elbphilharmonie erwartungsgemäß besonders nachdrücklich zur Geltung kam.

Das „irdische Leben“ wird im vierten Satz nun – da der Himmel aufgerissen ist – zu einer Schilderung des „himmlischen Lebens“, nicht ohne Widersprüche oder Sonderlichkeiten. Auch im musikalisch vernehmbaren Instrumentierungsansatz: Ist das „himmlische Leben“ vielleicht lediglich eine Karrikatur unserer Vorstellungen? Eine endgültige Klärung führt der oft so bittere Mahler auch in diesem Satz nicht herbei.

Mahler verwendet hier das Lied „Das himmlische Leben“ aus dem Liederzyklus „Des Knaben Wunderhorn“, und dementsprechend wollte er auch kein weibliches Sopransolo, sondern eine Knabenstimme für den Liedvortrag. Viel Beifall und sogar einen eigenen Blumenstrauss erhielt der Solist des Bad Tölzer Knabenchors, der sich angesichts der schwierigen und ungewohnten Akustik der Elbphilharmonie anständig schlug.

Großer Beifall für das Philharmonische Staatsorchester und Maestro Carignani. Ein wunderbarer musikalischer Spagat war vollauf gelungen: Verdi und Mahler revisited.

Dr. Holger  Voigt, 17. März, 2019,
für klassik-begeistert

 

 

2 Gedanken zu „Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Paolo Carignani, MDR-Rundfunkchor,
Elbphilharmonie Hamburg, 17. März 2019“

  1. Danke für diese aus meiner Sicht, nein, meinem Ohr, so zutreffende Rezension. Da ist kein Wort hinzuzufügen.
    Sabine Gerdes

  2. Ja, es war ein ergreifendes Konzert, das man nicht alle Tage hört. Zuletzt unter Wolfgang Sawallisch Ende der 1960ger-Jahre.

    Klaus Peter Samson

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