Foto: Piotr Beczała © Julia Wesely
Elbphilharmonie, 30. Juni 2022
PIOTR BECZAŁA / KRISTIN OKERLUND / WIENER SOLISTENQUINTETT
Lehár / Strauß / Kálmán
von Jolanta Łada-Zielke
Zwar ist die Elbphilharmonie viel größer als ein Wiener Café; trotzdem habe ich mich an diesem Abend wie in einem solchen Kaffeehaus gefühlt. Das Wiener Solistenquintett hat mir eine musikalische Melange serviert, die Klavierpartie von Kristin Okerlund war wie eine Portion Schlagsahne. Und ein großes Stück der leckersten Sachertorte war der Auftritt von Piotr Beczała, der eine breite Palette seines Repertoires, von Operetten über künstlerische (in dem Fall neapolitanische) Lieder bis hin zu Opernarien präsentiert hat.
WIEN, WIEN, ÜBERALL WIEN…
Richard Wagner sah eine Verbindung zwischen der Operette und der französischen opéra comique, vor allem in der Thematik: sie sei aus dem Volksleben genommen, die Texte hätten meist komischen Inhalt, voll vom derben und natürlichen Witz. In seinem Aufsatz „Über deutsches Musikwesen“ behauptet Wagner: „ Als vorzüglichste Heimat dieses Genres muss Wien betrachtet werden. Überhaupt hat sich in dieser Kaiserstadt von jeher die meiste Volkstümlichkeit erhalten; dem unschuldigen heiteren Sinne ihrer Einwohner sagte stets das am meisten zu, was ihrem natürlichen Witz und ihrer fröhlichen Einbildungskraft am fasslichsten war“.
Der spätere Schöpfer des „Ring des Nibelungen“ schrieb diese Worte in den Jahren 1840-41 in Paris. Die Operette lief noch in Kinderschuhen. Jacques Offenbach bereitete erst sein Debüt vor, und die größten Komponisten dieser Gattung – Franz Lehár, Emmerich Kálmán und Richard Strauss – kamen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Welt. Wagner gibt als Beispiel das Singspiel „Dorfbarbier“ von Johann Baptist Schenk 1785, „das wohl geeignet war, bei größerer Ausdehnung mit der Zeit das Genre bedeutender zu machen“. Der Komponist vermutete, dass die Operette bei ihrer Verschmelzung mit der größeren Opernmusik untergehen könne. Heute wissen wir, dass sie sich weiter entwickelt hat und ihr Niveau Schritt für Schritt gesteigert ist. Was von Wagner Text bleibt immer noch aktuell? Natürlich WIEN!
Sehr viel von der Wiener Stimmung haben wir am letzten Juniabend in der Elbphilharmonie erlebt, vor allem im ersten Teil des Konzerts. Zu Beginn erklang Lehárs Walzer „Gold und Silber“ op. 79. vom Wiener Solistenquintett aufgeführt. Es stellt sich heraus, dass man dieses Stück auch in einer so kleinen Besetzung erstklassig spielen kann: raffiniert, elegant und mit einer Prise Witz. Das Pizzicato der Streicher harmoniert hervorragend mit dem Staccato des Klaviers. Der Bratscher Robert Bauerstatter gibt charakteristischen Rhythmus des Walzers, während die Geige die Hauptmelodie anführt. Gewöhnlich unterschätzt man die Viola-Spieler, hier haben wir jedoch einen, der das gesamte Ensemble im Zaum hält. Die restliche Orchesterpartie vervollständigt hervorragend Kristin Okerlund.
Im zweiten Teil spielt das Ensemble Puccinis Instrumentalstück „Crisantemi“ aus dem vierten Akt von „Manon Lescaut“, wo es die Sterbeszene der Titelheldin begleitet. Das ist ein gutes Präludium zu zwei Cavaradossi-Arien aus „Tosca“, die alle Musiker mit dem Solisten gemeinsam aufführen.
Sensibler Sänger und übereifriges Publikum
Bei der Entwicklung des Rezepts der Sachertorte beschloss man, Schokoladenkuchen mit der leicht säuerlichen Marillenmarmelade zu belegen, damit das Ganze nicht zu süß und mulmig schmeckt. Wir haben also neben „süßen“ Gesangsstücken über Küssen und „baci“ (was dasselbe auf Italienisch heißt), drei Arien aus Lehárs „Das Land des Lächelns“, die über falsch investierte Gefühle erzählen. In Beczałas Interpretierung gewinnen die Operettenarien eine gewisse Tiefe, auch wenn sie witzig und inhaltlich leicht sind. Das Publikum folgt mit Begeisterung, wie der weltberühmte Tenor einen sensiblen jungen Mann, dann einen Frauenhelden, den zynischen Herzog von Mantua aus „Rigoletto“ und schließlich einen tragischen Liebhaber gesanglich darstellt. Als Zugabe führt er die Arie des Don José, „La fleur que tu m’avais jetée“, aus „Carmen“ auf. Es ist bemerkenswert, dass er beim offenen Flügel singt, aber vielleicht lässt das die örtliche Akustik auch zu. Der Sänger verfügt sowohl über eine ausgezeichnete Stimme als auch eine gute Diktion und setzt die Dynamik gekonnt ein. Er bezaubert mit dem intimen Pianissimo am Ende von „Von Apfelblüten einen Kranz“, „Gern hab’ ich die Frau’n geküsst“, „Ideale“, und mit der überraschenden Improvisation auf der letzten Phrase von „La donna è mobile“. Die Stücke „Dein ist mein ganzes Herz“, „Wenn es Abend wird“ und „Mattinata“ wiederum schließt er mit einem Forte ab.
Eine angenehme Überraschung für polnische Besucher ist der letzte Refrain des Schlagers „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“, gesungen in der Muttersprache des Tenors. „Chi sei tu che mi parli“ von Francesco Paolo Tosti beendet Kristin Okerlund mit einem schönen, dreifachen Pianissimo. Man sieht, dass sich der Sänger mit der Begleiterin gut versteht.
Piotr Beczała ist von hoher Gesangskultur und Aufmerksamkeit geprägt. Man sieht, dass er den großen Saal in der Elbphilharmonie gut kennt und versucht sich so zu platzieren, dass ihn alle gut hören können. Er wendet sich nach allen Seiten dem Publikum zu und geht auf der Bühne umher; natürlich, wenn er das gerade gesungene Stück gut auswendig kennt und nicht in die Noten schauen muss. Es ist selten, einen Künstler zu finden, der sich persönlich um das Wohl der Zuschauer kümmert. Sicherlich haben einige Damen den Eindruck, dass der berühmte Tenor ausschließlich für sie singt.
Das Publikum reagiert begeistert und überschüttet jedes Stück mit Applaus, manchmal zu eifrig. Es lässt das Lied „Mamma, son tanto felice“ nicht ausklingen und fängt beim letzten Ton an zu klatschen. Nach dem dramatischen „E lucevan le stelle“ sollen, meiner Meinung nach, zumindest ein paar Sekunden Stille sein, dazu kommt es jedoch nicht. Ich denke, die Kenner der klassischen Musik haben dieses Konzert trotzdem genossen.
Alle Künstler, die am letzten Juniabend 2022 in der Elbphilharmonie aufgetreten sind, könnten mit diesem Programm auf eine Weltkonzertreise erfolgreich gehen. Leider hat jeder von ihnen eigene andere Engagements.
Jolanta Łada-Zielke, 2. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Solistenquintett:
Holder Tautscher-Groh – Violine
Sophie Druml – Violine
Robert Bauerstatter – Viola
David Pennetzdorfer – Violoncello
Ania Druml – Violoncello
CD-Rezension: Piotr Beczała, Vincerò!, Orquestra de la Comunitat Valenciana, klassik-begeistert.de