Vida Miknevičiūtė (Lisa), Christoph Pohl (Fürst Jelezkij) © Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Semperoper Dresden, 15. Juli 2023
Pjotr I. Tschaikowsky, Pique Dame
Oper in drei Akten und sieben Bildern
Libretto von Modest I. Tschaikowsky
Musikalische Leitung, Mikhail Tatarnikov
Inszenierung, Andreas Dresen
Mitarbeit Regie, Frauke Meyer
Bühnenbild, Mathias Fischer-Dieskau
Kostüme, Judith Adam
Licht, Fabio Antoci
Choreografie, Michael Tucker
Chor, André Kellinghaus
Kinderchor, Claudia Sebastian-Bertsch
Dramaturgie, Benedikt Stampfli
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Kinderchor der Semperoper Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden
von Pauline Lehmann
Als letzte Premiere in der auslaufenden Spielzeit stand an der Semperoper Dresden am 1. Juli 2023 Pjotr I. Tschaikowskys Kartenspieler-Oper „Pique Dame“ in der Regie von Andreas Dresen auf dem Programm. Der bekannte und mehrfach ausgezeichnete Filmregisseur von „Stilles Land“, „Als wir träumten“, „Sommer vorm Balkon“, „Gundermann“ u.a. gibt mit einer eigenwilligen, drastisch überspitzten und satirisch überzeichneten Inszenierung sein Regiedebüt am Dresdner Opernhaus. Mit der Aufführung vom Samstagabend verabschiedet sich das Haus an der Elbe überdies in die Sommerpause. Bei hochsommerlichen Temperaturen ist das Opernhaus nur mäßig gut besucht, gerade im Parkett bleiben viele Plätze leer, doch das Publikum zeigt sich begeistert, es gibt Zwischenapplause und stehende Ovationen.
Pjotr I. Tschaikowsky hatte seine vorletzte Oper im Frühjahr 1890 in Florenz binnen 44 Tagen nach dem Libretto seines jüngeren Bruders Modest komponiert. Die literarische Vorlage der Oper „Pique Dame“, die im Dezember des gleichen Jahres am St. Petersburger Marinskij-Theater uraufgeführt wurde, lieferte die gleichnamige Novelle von Alexander Puschkin, die 1834 erschienen war – eine kurze Prosa in einer beeindruckend kühlen und distanzierten Sprache. Alexander Puschkin war Zeit seines Lebens ein Unangepasster, er wurde verbannt, seine Werke zensiert. Am 10. Februar 1837 starb er 37-jährig an einer Verwundung, die er sich bei einem Duell mit seinem Schwager, dem französischen Offizier Georges d’Anthès, zugezogen hatte.
„Pique Dame“ ist der Spitzname der alten namenlosen Gräfin (bei Puschkin wird ihr Name mit *** beschrieben). Ihr Geheimnis um die drei angeblich gewinnbringenden Spielkarten Drei, Sieben und Ass wird ihr und Hermann zum tödlichen Verhängnis. Mit Hermanns wahnsinniger Begierde, das Geheimnis der Gräfin zu erfahren, erfüllt sich die Prophezeiung, die besagt, dass ein dritter, der nach dem Ehemann und dem Liebhaber von den Spielkarten erfährt, den Tod der Gräfin herbeiführt. Dieses Schicksal trifft Hermann, als er nach einem Maskenball in das Zimmer der Gräfin eindringt und sie mit einer Pistole bedroht. Die Gräfin stirbt vor Schreck. Hermanns rasende Spielsucht lässt ihm die Gräfin als Halluzination erscheinen, sie teilt ihm ihr Geheimnis mit, worauf er im Kasino alles auf eine Karte setzt. Nachdem er mit der Drei und der Sieben gewonnen hat, verliert er die dritte Runde. Statt des Asses zieht Hermann die Pique Dame, worauf er den Freitod wählt.
Erschreckend wirkt das Tableau einer uniformierten und ins Extreme militarisierten Gesellschaft, das sich zu Beginn der Oper eröffnet. Die Gesellschaft kennt nur das Kollektive, die Menschen umlaufen das Bühnenrund wie mechanische Puppen. Sie sind Soldaten, Lazarettschwestern und bewaffnet mit Kalaschnikows werden die Kinder zu Kindersoldaten. Krasser kann das makabre Bühnengeschehen gar nicht mit dem Libretto kontrastieren, das die heitere Stimmung eines Bilderbuch-Frühlingstages im St. Petersburger „Sommergarten“ schildert. Außerhalb dieses bizarren, grotesken Treibens einer in uniformes Blau-Grau gekleideten Masse steht Hermann.
Der Regisseur Andreas Dresen rückt das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft in den Mittelpunkt. Sein Interesse gilt dem Außenseiter Hermann, der den St. Petersburger Offiziers- und Adelskreisen nicht recht zugehörig ist. Sein niedrigerer sozialer Status hindert ihn, um die Hand von Lisa, der Enkeltochter der Gräfin, anzuhalten, die ihrerseits mit dem Fürsten Jelezkij verlobt ist. In Puschkins Novelle ist Hermann der Sohn eines deutschen Einwanderers, ein Fremder, über den es weiter heißt, er sei „eine richtige Romanfigur: er hat das Profil eines Napoleon und die Seele eines Mephistopheles“. Ebendiese menschlichen Abgründe im Einzelnen wie in der Gesellschaft lotet die Inszenierung von Andreas Dresen aus, wobei sie im Ganzen unbestimmt bleiben will.
Während Lisa (bei Puschkin Lisaweta Iwanowna) in der literarischen Vorlage einen „sehr liebenswerten jungen Mann“ mit Beamtentitel heiratet und sich bei den Tschaikowsky-Brüdern in die Fluten der Newa stürzt, emanzipiert sie sich auf der Bühne der Semperoper. Der Tod ihrer Großmutter ist für sie Anlass genug, ihren Koffer zu packen und aus der Gesellschaft, wo sie gedemütigt wurde und gehorchen musste, auszubrechen.
Die Bühne von Mathias Fischer-Dieskau ist ein dunkler, abstrakter und kalter Raum, der in seiner bedrohlichen und brutalen Wirkung mit Tschaikowskys blumiger Musik kontrastiert. Monumentale Stelen schieben sich im Hoch- und Querformat auf drei Bahnen der Kreisbühne gegeneinander oder laufen miteinander, sodass sich der Bühnenraum ständig verändert. Mal schimmert die Bühne golden, mal wirft das Schlaglicht scharfkantige Schatten. Die Bühne wird zum unfasslichen Assoziationsraum. Sie ist Außenraum, aber vielmehr noch ein unergründlicher Seelenraum von Hermann, der mit dem Traumbild der toten Gräfin im dritten Akt aufbricht.
Die Aufführung des antiken Schäferspiels „Daphnis und Chloe“ während des Maskenballs wird zur Parodie auf die gesamte Gesellschaft und Tschaikowskys Musik wird unweigerlich mitsamt ihren Zitaten aus dem 18. Jahrhundert ad absurdum geführt. Es entsteht ein merkwürdig verzerrtes Bild.
Die Sächsische Staatskapelle Dresden findet unter dem russischen Dirigenten Mikhail Tatarnikov zu einem fein geschliffenen und differenzierten Klang, lieblich-blumige Passagen wechseln mit kraftvoll-ernsten, kammermusikalisch leichte und filigrane kontrastieren mit symphonischer Dichte, die von einem herrlichen Bläserklang grundiert wird. Gerade im dritten Akt, wenn sich der Quartklang des Kartenspielmotivs bedrohlich häuft und die Bratschen leise in der Tiefe leise tremolieren, entsteht ein wunderbarer, farbenreicher Klang. Die Chöre – Kinder-, Frauen- und Männerchor – überzeugen durch einen homogenen Klang – so der Kinderchor in der Anfangsszene im St. Petersburger „Sommergarten“ oder die choralartige A-cappella-Melodie des Männerchors in der Spielhölle gegen Ende hin.
Dazu kommt ein hervorragend besetztes Solistenensemble, das die Charaktere der Figuren und das Aufeinandertreffen ihrer Bedürfnisse minutiös auslotet. Mit der litauischen Sopranistin Vida Miknevičiūtė steht dem russischen Tenor Sergey Polyakov eine starke und reflektierende Lisa gegenüber. Emphatisch drückt sie ihre Zerrissenheit aus, ob sie Hermann für einen Mörder oder Liebhaber halten soll. Evelyn Herlitzius verleiht der Figur der Gräfin nicht nur einen bittersüßen Glanz, sondern auch eine elegische Tiefe, wenn sie in der Arie „Je crains de lui parler la nuit“ von ihrer Pariser Jugendzeit singt. Wunderbar besetzt ist auch die Rolle der Pauline, die israelisch-amerikanische Altistin Michal Doron timbriert Paulines Romanze dunkel und melancholisch.
Pauline Lehmann, 16. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Hermann, Sergey Polyakov
Graf Tomskij, John Lundgren
Fürst Jelezkij, Christoph Pohl
Čekalinskij, Aaron Pegram
Surin, Martin-Jan Nijhof
Čaplitzkij, Simeon Esper
Narumof, Rupert Grössinger
Zeremonienmeister, Aaron Pegram
Gräfin, Evelyn Herlitzius
Lisa, Vida Miknevičiūtė
Pauline, Michal Doron
Gouvernante, Nicole Chirka
Mascha, Ofeliya Pogosyan
Kommandant der Knaben, Ricardo Garcia Heine
Peter Tschaikowsky, Pique Dame, Philharmonie Berlin, konzertante Aufführung, 21. April 2022
Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Pique Dame, Royal Opera House, London, 22. Januar 2019
Eugen Onegin, Oper von Peter I. Tschaikowsky Staatsoper Hamburg, 14. Februar 2023