von Radek Knapp
Als ich in meine Wohnung einzog, hatte ich zwei Nachbarinnen, die mir endlich die Frage der Fragen beantworteten. Warum ist man in Österreich so musikalisch?
Frau Milchpeter, die links von mir wohnte, gab mir eine ebenso ausführliche wie ehrliche Antwort: „An allem sind hier die Eltern schuld. Das sind ehrgeizige Monster. Selber können sie nicht einmal eine Mundharmonika spielen, träumen aber davon, dass man nach ihrer Brut irgendwann mal die Marzipankugeln benennt.“
„Aber warum müssen es ausgerechnet Musiker sein? Warum nicht Maler oder Erfinder?“, nutzte ich ihren geistigen Höhenflug aus.
„Das kann ich dir sogar ganz genau sagen“, hob sie ihren Finger in die Höhe, „in Norwegen stecken sie Kinder in Skianzüge und befehlen ihnen, von einer Schanze herunterzuspringen. In Mexiko kriegst du schon mit fünf einen Revolver in die Hand gedrückt. Und in Österreich eine Querflöte.“
Und Ines, die andere Nachbarin, die sonst mit Frau Milchpeter nie einer Meinung war, stimmte mit ein: „Mich haben sie in der Schule ständig mit Zwangsbesuchen der Zauberflöte an den Rand des Tinnitus gebracht. Ich krieg heute noch einen Ausschlag, wenn ich an der Oper vorbeigehe.“
Dass meine beiden Nachbarinnen der Erzeugung von Klängen so reserviert gegenüberstanden, war aber eine Ausnahme. Normalerweise konnte man sich nie sicher sein, ob sich ein Nachbar nicht als Musikfanatiker entpuppte.
So gut wie in jedem Quartier, in dem ich bislang untergekommen war, fing früher oder später irgendein Wunderkind hinter der Wand an, an seinem Talent zu feilen. War es zu blöd, ein Instrument zu beherrschen, dann spielte es in voller Lautstärke mit den Radioprogrammen. Anfangs fand ich das sogar recht romantisch. Aber nach einigen Wochen konnte ich mich gut in jenen Straßenbahnfahrer aus Ottakring einfühlen, der eines Abends die Wohnungstür seines gerade Geige übenden Nachbarn eingetreten hatte, ihm die Geige entriss und mit einer Schere fein säuberlich die Saiten entfernte.
Dafür konnte ich ziemlich schnell eine verlässliche Liste der beliebtesten Hausinstrumente aufstellen. An erster Stelle kam in Österreich das Klavier. Dann die Geige, gefolgt von der Querflöte. Am seltensten war die Harfe, was schade war. Sie war zumindest leise. Egal, ob darauf gerade eine zarte Symphonikerin oder ein Schimpanse übte. Österreich war offenbar das einzige Land auf der Welt, das problemlos eine beliebige Anzahl an verhinderten Musikgenies als Nachbarn vertragen konnte. Noch dazu wurde eine Überfülle an Musik außerhalb der eigenen vier Wände serviert.
Sobald man auf die Straße trat, klimperte schon nach ein paar Metern ein kleines Orchester oder zumindest ein Cellist, dessen Bart sich in den Saiten verfing. Allein in Wien gab es täglich Dutzende Musikveranstaltungen, die wie durch ein Wunder immer ausverkauft waren. Die Namen von Baritonen, Tenören und Koloratursopranistinnen hatte hier jeder im kleinen Finger, als wären es Fußballstars.
Sogar das gemeine Volk war diesbezüglich auf dem Laufenden. Einmal belauschte ich an meinem Würstelstand zwei Müllmänner bei einem Gespräch, das professioneller ablief als jede Klassik-Diskussion im Fernsehen.
„Stell dir vor, Geri“, sagte der erste Müllmann zu seinem Kumpel, „ich putze gerade die Toiletten bei der Oper, als Plácido Domingo persönlich hereinkommt und anfängt, neben mir zu pinkeln. So ein Glück musst du haben.“
Sein Kumpel Geri nahm einen ordentlichen Schluck aus der Bierflasche und antwortete in einem phlegmatischen Ton, der ihn als Musikkenner entlarvte: „Willst du wissen, was Glück ist? Glück ist, dass es nicht Liberace war.“
„Wer zum Kuckuck ist Liberace?“, staunte der andere.
„Ein amerikanischer Musikpädagoge. Er hätte dir in zwei Minuten beigebracht, wie eine Nachtigall zu singen.“
Radek Knapp, 31. Dezember 2020, für
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Der österreichische Bestsellerautor Radek Knapp, geboren am 3. August 1964 in Warschau, zwangsübersiedelt mit 12 nach Wien (von seinen Großeltern zur Mutter), wo er sich mit Gelegenheitsjobs und einem Philosophiestudium über Wasser hielt. Sein Debut „Franio“ erhielt den aspekte-Literaturpreis, der „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki bescheinigte dem Werk „Witz, Pfiff und Humor“, was dazu führte, dass dieser Satz jetzt auf jedem seiner Bücher steht – auch auf dem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“, den man inzwischen sogar in deutschen Schulen vorsetzt. Humorvoll durchaus auch die „Gebrauchsanweisung für Polen“, und „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“. Bekannt wurden auch seine Romane „Ente à l’orange„ und „Papiertiger„. Radeks Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, darunter Niederländisch, Kroatisch und Slowenisch. Im Jahr 2008 kam der Film „Herrn Kukas Empfehlungen„ nach seinem gleichnamigen Roman in die Kinos. Der Autor lebt zur Zeit in Wien. Aus schreibtischbedingtem Vitaminmangel verkauft er gelegentlich auf einem Wiener Markt Obst und Gemüse.
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