Fotos © M & B Concerts
Edvard Mirzoyans – Waltz
Edward Elgar – Cellokonzert e-moll op. 85
Pjotr I. Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 5 e-moll op. 64
Raphaela Gromes, Violoncello
Armenian State Symphony Orchestra
Sergey Smbatyan, musikalische Leitung
VILCO Bad Vilbel, 29. November 2025
von Dirk Schauß
Die VILCO in Bad Vilbel ist an diesem 29. November 2025 gut gefüllt, und das aus besonderem Grund. Das Armenian State Symphony Orchestra, seit seiner Gründung durch Sergey Smbatyan im Jahr 2018 von einer Handvoll Idealisten zu einem international gefeierten Klangkörper geworden, gastiert erstmals in der Wetterau.
Dieses Orchester, das bereits in der Carnegie Hall, der Pariser Philharmonie, dem Wiener Musikverein und der Walt Disney Concert Hall begeisterte, hat sich als kultureller Botschafter Armeniens einen Namen gemacht. Zuletzt erschien bei Deutsche Grammophon eine vielbeachtete Aznavour-Hommage zum 100. Geburtstag des Chansonniers.
Zu Gast ist außerdem Raphaela Gromes – die Cellistin, die das Rondo Magazin als „wohl erfolgreichste deutsche Cellistin der Gegenwart“ bezeichnet, Sony-Classical-Exklusivkünstlerin seit 2016, mehrfache OPUS-Klassik-Preisträgerin und eine Musikerin, die mit ihrem Album „Femmes“ monatelang die Charts anführte, weil sie 23 vergessene Komponistinnen wieder ins Rampenlicht rückte. Sie spielt ein Cello von Carlo Bergonzi aus dem Jahr 1740, das ihr privat zur Verfügung gestellt wird.
Den Abend eröffnet Edvard Mirzoyans „Waltz“ – ein Stück des 2021 verstorbenen Grandseigneurs der armenischen Musik des 20. Jahrhunderts. Kaum haben die ersten Takte geklungen, wird klar, warum dieses Orchester so schnell so weit gekommen ist: ein Streicherklang von samtenem Volumen, eine Intonation, die keinen Millimeter abweicht, und eine folkloristische Leichtigkeit, die nie ins Kitschige abrutscht. Der Walzer schwingt sich mit einer Eleganz durch den Saal, die sofort Lust macht auf alles, was noch kommt.
Dann betrat Raphaela Gromes die Bühne. In schlichtem, grünen Kleid, das Cello wie eine Verlängerung ihres Körpers tragend. Elgars Cellokonzert op. 85 begann mit jenem berühmten, zerbrechlichen Rezitativ, das sie mit einer Intensität und Fragilität anschlug, dass der Saal schlagartig still wurde. Der Ton war von Anfang an von einer schmerzhaften Introspektion durchzogen – kein Effekt, keine Pose, sondern pure Innigkeit. Die ersten Töne klangen wie ein Seufzer, der sich aus der Tiefe der Seele löst. Im weiteren Verlauf des ersten Satzes ließ sie die dramatischen Aufwallungen mit kontrollierter Leidenschaft entstehen, die nie ins Pathetische kippte. Jede Phrase atmete, jede Pause war bedeutungsvoll.

Das kurze zweite Allegro molto wurde zu einem virtuosen Tanz auf dem Vulkan. Die Doppelgriffe und schnellen Läufe, die Elgar hier verlangt, bewältigte Gromes mit Leichtigkeit und Klarheit, die atemberaubend waren – und das bei Tempi, die Sergey Smbatyan bewusst straff hielt. Das darauffolgende Adagio gehörte zu den Momenten, in denen Zeit stillzustehen scheint. Hier entfaltete sich die Kantabilität ihres Spiels in voller Schönheit: Der Ton war von einer samtigen Wärme. Lange Phrasen, die sich wie ein endloser Gesang entfalteten, dazu ein Vibrato, das mal zart schimmerte, mal intensiv glühte. Das Orchester begleitete mit einer Zurückhaltung, die an Kammer-Musik erinnerte – Streicher, geradezu flüsternd, Holzbläser mit feinsten Farbnuancen.
Der Finalsatz brachte dann die ganze emotionale Ambivalenz des Werks zur Explosion: die bittere Resignation, die verzweifelte Auflehnung, das kurze Aufflackern von Hoffnung. Gromes phrasierte die großen Kantilenen mit einer Dramatik, die unter die Haut ging, während sie die technisch anspruchsvollen Passagen mit makelloser Präzision meisterte. Das Orchester antwortete mit orchestraler Wucht, die in den Tutti-Stellen körperlich spürbar wurde, aber stets den nötigen Raum für die Solistin ließ. Am Schluss, als die Musik in jener berühmten, kurzen resignativen Geste verklingt, dann die stramme Schlusswendung – sofort brach der Applaus los wie ein Gewitter.
Das Publikum wollte die Solistin nicht gehen lassen. Raphaela Gromes lächelte, sprach kurz und herzlich über ihre Leidenschaft für vergessene Komponistinnen und schenkte zwei Zugaben. Zuerst Pauline Viardot-Garcías „La Bohèmienne“ – ein feuriges, rhythmisch pointiertes Stück voller spanisch-maurischer Farbe, das sie mit tänzerischer Verve spielte. Das Orchester folgte ihr leicht, und zeigte, wie flexibel es auch abseits der großen sinfonischen Literatur ist. Danach wurde es ganz still: Zusammen mit vier Cellisten des Orchesters spielte sie ein ukrainisches Gebet – nur fünf Celli, keine Begleitung, reine, nackte Melodie. Die Töne schwebten durch den Saal wie ein leises, aber unerschütterliches Zeichen von Hoffnung. Man konnte eine Stecknadel fallen hören.
Nach der Pause dann der Höhepunkt des Abends: Tschaikowskys fünfte Sinfonie. Sergey Smbatyan wählte von Anfang an eine dramaturgisch klare Linie – keine Sentimentalität um ihrer selbst willen, sondern ein konsequenter Kampf mit dem Schicksal. Das berühmte Motto-Thema in den Klarinetten zu Beginn klang düster, drohend, mit einer Klangfarbe, die an dunkles Samt erinnerte. Der marschierende Hauptteil des ersten Satzes wurde mit zügigen Tempi und scharfen Akzenten vorangetrieben – die Streicher spielten sehr präzise und mit einem Klangvolumen, das an die großen russischen Orchester erinnerte. Besonders beeindruckend: das ständige Wechselspiel zwischen Streichern und Holzbläsern, das Smbatyan mit größter Transparenz ausleuchtete.
Das Andante cantabile wurde zu einem wahren Klangrausch. Das berühmte Horn-Solo (bravourös gespielt vom Solo-Hornisten) schwebte mit einer Innigkeit und einem goldenen Ton, der Gänsehaut verursachte. Die orchestralen Steigerungen wurden mit kontrollierter Glut aufgebaut, die in den großen Ausbrüchen dann förmlich explodierte – aber immer mit Sinn für die große Linie.
Der dritte Satz, der berühmte Walzer, war leichtfüßig und doch von jener elegischen Melancholie durchzogen, die Tschaikowsky so meisterhaft beherrschte. Gegen Ende schlich sich das Schicksalsmotiv wieder ein – kaum hörbar zuerst, dann immer bedrohlicher.
Das Finale war dann pure Energie. Smbatyan nahm ein forsches Tempo, das das Orchester mit einer geradezu athletischen Präzision meisterte. Die Blechbläser glänzten mit strahlendem, aber nie grellem Klang, die Pauken donnerten mit einer Wucht, die den ganzen Saal vibrieren ließ. Die große Coda, in einem sehr flotten Tempo, wurde zu einem wahren Triumph – aber eben jenem zwiespältigen Triumph, den Tschaikowsky meinte: strahlend an der Oberfläche, tragisch im Kern. Das Orchester spielte mit Enthusiasmus und einem Zusammenhalt, der zeigte, warum dieses Ensemble in den letzten Jahren in der Welt gefeiert wird.
Der Applaus wollte nicht enden. Stehender Jubel und viele Bravo-Rufe. Und weil das Armenian State Symphony Orchestra offenbar nicht gehen kann, ohne den Saal endgültig in Brand zu setzen, gab es noch eine Zugabe: Aram Chatschaturjans „Säbeltanz“. Sergey Smbatyan stellte sich mitten zwischen seine Musiker und ließ sie einfach loslegen. Was dann passierte, waren knappe drei Minuten geballte kaukasische Lebensfreude – rasend schnelle Tempi, glühende Streicher, Blechbläser, die wie Fanfaren klangen, offensives Schlagzeug, und ein Publikum, das nochmal in Euphorie versetzt wurde. So viel Energie!
Bad Vilbel kann sich glücklich schätzen, solche Abende erleben zu dürfen. Die VILCO hat an diesem 29. November bewiesen, dass auch eine kleine Stadt internationale Klasse präsentieren kann und dazu einen fabelhaften akustischen Rahmen offeriert. Bleibt nur zu hoffen, dass die Verantwortlichen weiterhin den Mut haben, solche Perlen einzuladen. Denn was hier zu erleben war, war nicht einfach ein Konzert. Es war ein Ereignis!
Dirk Schauß, 1. Dezember 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD Live Präsentation, Imagination von Raphaela Gromes, Kaufhaus Beck, 23. Oktober 2021
Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Michael Francis VILCO, Bad Vilbel, 27. September 2025
European Doctors Orchestra, Yordan Kamdzhalov VILCO Stadthalle Bad Vilbel, 25. Mai 2025