Ravenna Festival, Rocca Brancaleone
Ravenna, Italien, 12. Juli 2020
Foto: Riccardo Muti © Marco Borrelli
Orchestra Giovanile Luigi Cherubini
Dirigent: Riccardo Muti
Tamás Varga, Violoncello
Antonín Dvořák
Cello Concerto No. 2 in B Moll, Op. 104
Symphony No. 9 in E Moll, Op. 95 “From the New World”
von Dr. Holger Voigt
Abermals war die Rocca Brancaleone, eine venezianische Festungsanlage der Stadt Ravenna aus dem 15. Jahrhundert (1457), Schauplatz eines denkwürdigen Konzertabends für das Ravenna-Festival.
Mittlerweile hatten die Techniker auf akribische Weise Hand angelegt, um die Mängel der LiveStream-Übertragung des Eröffnungskonzertes zu beseitigen. Und man muss sagen, dass es ihnen hervorragend gelungen ist: Positionierung von Musikern und Mikrophonen sorgten für eine ausgezeichnete Akustik, und insbesondere Kameratechnik und Bildregie lieferten beeindruckende Einstellungen, die den Live-Charakter packend einfingen. Man sah in die Gesichter der einzelnen MusikerInnen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln und konnte – zum Greifen nahe – mit ihnen die Kraft der Musik erfühlen und ihre Wirkung spüren. Ein großes Lob also vorweg für das Übertragungsteam, das dieses Konzert zu einem großen Erlebnis machte. Dass der Live-Stream die Übertragungsserver immer wieder überlastete und zu Unterbrechungen führte, zeigte, wie hoch die Zugriffszahlen waren und wie hungrig das Publikum mittlerweile geworden ist.
Nun saß man – im Freiluft-Atrium – ein wenig (!) auf Abstand, konnte zuweilen eine Nasen-Mundschutzmaske erkennen und beobachtete, dass die Orchestermitglieder auch mit Masken die Bühne betraten, um sie dann aber abzulegen und an einem Haken der Stuhlrückseite aufzuhängen. Der Abstand unter den ausführenden MusikerInnen war zwar etwas großzügiger als üblich, jedoch sicher nicht überall exakt auf die metrische Mindestdistanz bemessen. Es störte niemanden.
Der Konzertabend stand ausschließlich im Zeichen Antonín Dvořáks, dessen anrührendsten Werke – das Cello-Konzert und die 9. Symphonie („Aus der neuen Welt“) – auf dem Programm standen. Als Orchester diente dem Dirigenten Riccardo Muti erneut das 2004 von ihm selbst ins Leben gerufene Orchestra Giovanile Luigi Cherubini, ein inzwischen ganz hervorragendes (ausgesprochen weibliches!) Orchester junger MusikerInnen, die unter Mutis Betreuung ein eindrucksvolles Niveau erlangt haben, das man getrost als Spitzenklasse bezeichnen darf.
Solist des Konzertabends war der 1969 in Budapest geborene, langjährige Solocellist der Wiener Philharminker, Tamás Varga, der mit allen namhaften Dirigenten unserer Zeit intensiv zusammengearbeitet hat, u.a. mit Andris Nelsons, mit dem es 2017 zu einer grandiosen Präsentation des Cello-Konzertes von Antonín Dvořák kam. Antonín Dvořák scheint ihm zu einer „zweiten Natur“ geworden zu sein, weshalb man sich glücklich schätzen konnte, ihn heute mit genau diesem Konzert erleben zu dürfen.
Nach einer längeren sinfonischen Introduktion des Orchesters und einem romantischen Hornsolo eröffnet Varga mit energischen Strichen im beginnenden Allegro des 1. Satzes das Basisthema, aus dem deren Verarbeitungen entwickelt werden. Das Cello ist ein zutiefst menschlich klingendes Instrument, das gleichsam als menschlische Stimme Beachtung und Zuhören einfordert. So entwickelt Varga das kompositorische Material als solistisches Narrativ, eingebettet in einen romantisch-sinfonischen orchestralen Klangraum, ohne je die Dominanz des Soloinstrumentes an das Orchester abzutreten. Vielmehr im Dialog mit dem Orchester bleibt es stets unverzichtbar präsent. Mit einer festlich anmutenden, fanfarengestützten Schlußwendung kommt der erste Satz in seiner Dynamik gesteigert zu einem markanten Abschluß.
Im 2. Satz – dem Adagio, ma non troppo – wird aus dem „erzählenden“ Cello ein „singendes“ und gar „weinendes“, dessen wundervolle, später auch von den Hörnern quasi als Echo nachklingenden Kantilenen unmittelbar zu Herzen gehen und voller romantischer Wehmut sind. Hier singt Dvořák gleichsam seine Seele aus. Es wird angenommen, dass der Komponist diese wunderschönen Melodien in Remineszenz an seine im Frühjahr 1895 verstorbene Schwägerin komponiert hat, die er sehr schätzte, wenn nicht sogar insgeheim geliebt hatte.
Der vierte Satz – Finale. Allegro moderato – beginnt mit einem hart angeschlagenen, Stakkato-artigen Marschrhythmus der Celli, der von den Hörnern und Holzbläsern übernommen wird, bevor ihn die Streicher aufgreifen und verarbeiten. Erst dann setzt das Solo-Cello ein. Die thematische Entwicklung erreicht dabei eine immer weiter ansteigende emotionale Intensität, in der Dvořák seine Wehmut in allen Facetten atmen lässt. Von der hervorragenden Kameraführung wunderbar eingefangen wurde der liebevoll-anerkennende Blickkontakt zwischen Dirigent, Solist und Konzertmeisterin, die so intuitiv harmonierten, dass es ihnen ein Lächeln auf ihre Gesichter zauberte. Das Konzert endete mit einer dramatisch-anschwellenden Coda und löste unmittelbar Bravo-Rufe aus.
Großer Applaus, ganz besonders warmherzig für den Solisten Tamás Varga, der sich mit einem Encore aus der Feder seines Sohnes Konrád Varga bedankt, der Komposition „Ballad in Yelow“.
Die Symphonie No. 9 E Moll kennzeichnet den Höhepunkt imsinfonischen Schaffen Antonín Dvořáks. Voller neuartiger Eindrücke durch seinen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten trägt sie die Bezeichnung „Aus der neuen Welt“. Sie ist eines der meistgespielten sinfonischen Tonschöpfungen der auslaufenden Romantik, weist aber bereits deutlich in die Zukunft. Am 16.12.1893 erklang sie zum ersten Mal (Uraufführung) in der Carnegie-Hall in New York. Ihr Erfolg ist bis heute ungebrochen.
Im ruhigen Adagio des ersten Satzes (Adagio – Allegro molto) entwickelt sich der orchestrale Rahmen, in dem die eingeführten Themen verarbeitet werden. Hier zeigt sich schon der Aufbruchcharakter einer völlig neuartigen sinfonischen Sichtweise: Die Themenentwicklung erfolgt nicht organisch, sondern in Form dynamischer Sprünge und Steigerungen, fast eine Neuauflage des Beethoven’schen Umbruches – freilich fast ein Jahrhundert später. Durch dieses Tor werden alsbald die Komponisten der Moderne schreiten.
Das weltberühmte „Largo“ des zweiten Satzes stellt eine der anrührendsten Tonschöpfungen der sinfonischen Musikliteratur dar. Antonín Dvořák gehört zu den Komponisten, die auf vielfältige Weise volkstümliche Musik ihrer jeweiligen geographischen Umgebung verarbeitet haben, sei es durch Zitateinbindungen, Anklänge oder freie Schöpfungen auf der Basis vorhandenen Musikmaterials (z.B. Volksmusik).
Dieses gilt ganz besonders auch für diesen zweiten Satz, in welchem Antonín Dvořák nordamerikanisch-indianische Melodien mitverarbeitete. In einer absteigenden Kadenz erklingt im Schlußteil dieses Satzes – anrührend von den Streichern gespielt – die Melodie des Klagegesanges Hiawathas, die interessanterweise in gleicher Form in der Kantaten-Trilogie „The Song of Hiawatha“nach Henry Wadsworth Longfellow vorkommt. Diese wurde von dem britischen Komponisten Samuel Coleridge-Taylor (1875-1912) im Jahr 1898 komponiert und am 11.11.1898 uraufgeführt. Kannte Coleridge-Taylor die Melodie oder gar die Komposition Antonín Dvořáks?
Unmittelbar mit Beginn des Satzes wird die getragene Stimmung in Abkehr von derjenigen des vorangehenden Satzes vermittelt. Das gelingt dem Orchestra Giovanile Luigi Cherubini unter Riccardo Muti nahezu übergangslos. Das Klagethema ertönt (Englischhorn). Muti lässt das Orchester den Weg selbst finden; nur wenige Andeutungen reichen. Trauer liegt in der Luft. Das Thema wird von der Klarinette in Echoform wiederholt. Die Atmosphäre ist nunmehr feierlich und wird durch das Orchesters Choral-artig dynamisch markiert. Was dann mit den einsetzenden Streichern hervorgezaubert wird, ist einfach nur noch als überirdisch schön zu benennen. Muti lässt es allerdings nicht zu langsam werden, bis das Klagethema schließlich wiederkehrt und von den Holzbläsern und den nachfolgenden Hörnern als Echo wiederholt wird.
In dem sich anschließenden, variationsreichen Mittelteil verliert sich die trauererfüllte Grundstimmung und lässt sogar muntere, optimisch erscheinende Vogelstimmen erahnen, die zu einer Wiederaufnahme des sinfonischen Grundthemas hinführen, bis das Englischhorn wieder in die wehmutgetragene Ausgangsstimmung zurückweist und dabei das Thema an die Streicher übergibt, die es in geradezu hymnisch-verklärter Form replizieren. Sie sind es, die in einer wunderschönen Kadenz das Satzende vorbereiten, das mit einem paukengestützten Tutti-Klang den feierlichen Satzabschluss markiert. Dieses Orchester atmet mit der Musik und dem Dirigenten in vollkommener Übereinstimmung. Man kann nur voll des Lobes sein.
In dem sich anschließenden 3. Satz – Scherzo, molto vivace – ist wiederum ein abrupter Wechsel zu lebhafter Dynamik erforderlich, der dem Orchester mühelos gelingt. Die thematische Entwicklung lässt an pastoral-volkstümliche Einflüsse denken, auch an die Rhythmik des Reitens: Alles mögliche Eindrücke, die der Komponist hier zu einem naturalistischen Klanggemälde gestaltet, immer wieder von kurzen, rhythmischen Schlägen und Unterbrechungen durchsetzt, die ein wenig an Beethoven erinnern. Dabei wird schon die thematische Steigerung des 4. Satzes vorbereitet, der ja oft unmittelbar – ohne größere Satzpause – angeschlossen wird.
Dieser 4. Satz – Allegro con fuoco – läßt das dynamische Hauptthema aus einer Art Anlaufsteigerung entstehen und ist bei Riccardo Muti folglich in den besten Händen. Faszinierend zu beobachten, wie er es nicht zulässt, dass die Dynamik abreißt. Auch in den Passagen lyrischer Zwischenthemen läßt er nichts anbrennen, freilich ohne dabei zu hetzen. Dabei hat er große Unterstützung durch die hervorragende Konzertmeisterin, so dass es zu keiner Verschleppung der Dynamik kommt. Die „neue Welt“ ist eben pulsierend und voller Dynamik – also ist es auch die Musik.
Ein furioses Finale („full-blown symphonic“) mit einem entfesselten Maestro Muti und einem phantastisch aufspielenden Orchester beendete diesen wunderbaren Konzertabend. Großer, lang anhaltender Beifall nebst vielen Bravo-Rufen, ein hochzufriedener, geradezu glücklich und gelöst wirkender Riccardo Muti, strahlende Gesichter überall im Orchester – was will man mehr? Das ist der Stoff, aus dem die Musikkunst gemacht ist! Selbst der Solo-Cellist Tamás Varga musste noch einmal auf die Bühne treten, um Applaus entgegenzunehmen. Ein grandioser Konzertabend!
Dr. Holger Voigt, 18. Juli 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at