„Im herzlichen, langanhaltenden Applaus schwang ein bisschen das Gefühl mit, so langsam Abschied von den ganz großen Auftritten dieser phantastischen Künstlerin nehmen zu müssen.“
Elbphilharmonie Hamburg, 14. Oktober 2021
Olivier Messiaen, Poèmes pour Mi
Anton Bruckner, Symphonie Nr. 4 Es-Dur
Leitung: Alan Gilbert
Solistin: Renée Fleming
NDR Elbphilharmonie Orchester
von Dr. Andreas Ströbl
Zugegeben: Die großartige Sopranistin Renée Fleming noch einmal hören zu dürfen, war sicher der Hauptgrund für das Gros des Publikums, das zu einem ihrer selten gewordenen Auftritte in Deutschland am 15. Oktober in die Hamburger Elbphilharmonie pilgerte. „Pilgern“ trifft es tatsächlich, denn der Abend war, was die beiden Komponisten und ihre programmatische Ausrichtung betraf, stockkatholisch.
Dass Katholizismus allerdings nicht zwingend mit Konservatismus gleichgesetzt werden darf, bewies der fromme Franzose Olivier Messiaen in seinen Kompositionen, mit denen er als Organist der Pariser Kirche La Trinité mitunter seine eigene Gemeinde vor den Kopf stieß. Dabei ging es ihm doch vor allem um das ehrlich empfundene und in Klang gegossene Gotteslob. Sich auch als Komponist mit Inbrunst seinem Glauben hinzugeben, bedeutete für Messiaen die künstlerische Umsetzung dessen, was er als Wahrheit in der Welt und sich selber fand.
Das muss man akzeptieren, wenn man Messiaen ernstnehmen und sein Schaffen würdigen will. So sind seine neun „Poèmes pour Mi“ für dramatischen Sopran und Orchester keine romantischen Liebeslieder; sie rücken die irdische Liebe eines Ehepaars nicht nur in die Nähe zur Gottesliebe, sondern verankern sie in der gottgeschaffenen Weltordnung, deren Vollendung am Jüngsten Tag die Gläubigen freudig erwarten. Darunter tut es Messiaen nicht und um das zu verstehen, war die kurzweilige Einführung des Dramaturgen Julius Heile mit zahlreichen Tonbeispielen ausgesprochen hilfreich: Hier wurde die symmetrische Struktur des Zyklus offenbar und die Ausrichtung auf die Heilsbotschaft deutlich.
Für die Hörer reduzierte sich das Sakrale in diesen Liedern auf den psalmodierenden Vortrag, denn die Musik zitiert keine kirchenmusikalischen Themen oder Klänge. Vielleicht mag man hin und wieder an eine Antiphon denken, wenn Instrumentengruppen oder Orchester und Solistin in einen Dialog treten.
Die Tonsprache in den Poèmes ist oft kantig und hart, dabei der Gesangspart mörderisch anspruchsvoll, vor allem im Ansingen gegen ein sehr großes Orchester.
Bei den ersten drei Liedern gelang das Renée Fleming durchaus und es war sicher ganz im Sinne des Vogelliebhabers Messiaen, wenn sich ihre Stimme wie eine Lerche erhob, dann wieder eine intime Stimmung wie im Sinkflug erzeugte. Ihre einfühlsame Gestik unterstrich ihren Vortrag und wer die Augen schloss und nicht den gefeierten Weltstar im wunderschönen grünen Kleid sah, hörte tatsächlich die Stimme einer Priesterin, die eine mögliche sinnliche Wärme zurücknimmt, um sich in den Dienst des Größeren zu stellen.
Gerade aber die flehenden Aufschreie im 4. Gesang, wo sich die Sängerin gegen knallende Ausbrüche im Orchester behaupten muss, und die reduziert schmiegsamen Partien im 5. Lied gingen bereits etwas im Orchesterklang unter. Womöglich wäre es besser gewesen, die Sopranistin vor die Musiker zu platzieren als am Rande zwischen Bläsern und Violinen, aber es entstand der Eindruck, dass sich Renée Fleming nicht gegen den tatsächlich monumentalen Klangkörper durchsetzen konnte. In der Tat gestaltete sie den Vortrag in den letzten Liedern – den Texten des Komponisten unbedingt angemessen – einerseits aufragend-fliegend, andererseits wie in Stolperschritten mit trotziger Härte, dann wieder fügte sie sich sanft und vollführte schließlich den Wechsel eines starken Selbstbewusstseins zum demütigen Gestus einer Adorantin, die sich voller Hoffnung ihrem tiefen Glauben hingibt.
Im herzlichen, langanhaltenden Applaus schwang ein bisschen das Gefühl mit, so langsam Abschied von den ganz großen Auftritten dieser phantastischen Künstlerin nehmen zu müssen.
Völlig ins Gegenteil umgeschlagen war bereits die Stimmung bei den ersten Takten von Bruckners 4. Symphonie, der er selbst den programmatischen Beinamen „Romantische“ zugedacht hatte. Die Hörner wiesen mit entsprechender Dominanz den Weg in ein breites hochromantisches Klanggemälde ohne jede tümelnde Schwere, dafür mit anpackendem Tempo und herausragend rhythmisch akzentuiert. Selten hat man die 4. Bruckner so differenziert und entschieden gehört; Gilbert reizt wirklich alles aus, was dieses Werk in seiner vielschichtigen Farbigkeit zu bieten hat. Bereits der erste Satz besticht ja schon durch die Wechsel von kraftvollen Tutti und verschwörerisch-heimeligen Reduktionen. Und so gestaltet Gilbert mit einem in allen Instrumentengruppen und Solisten überzeugenden Orchester diese plötzlichen Umschwünge absolut akkurat, ohne irgendwelche Themenschlüsse zu verschleppen. Dem satten Blechbläserklang steht in Ergänzung das flirrende, manchmal an Wagners „Waldweben“ erinnernde Tongeflecht der Streicher gegenüber, Flöten und Hörner setzen selbstbewusste Strukturmale.
Im zweiten Satz zaubern die Streicher aus einer melancholischen Stimmung heraus ein großes moosig-grünes Bett, die Bratscher brillieren ebenso wie die Bässe, diese mit feinem, rhythmusgebendem Pizzicato. Tänzerisch stapft diese Musik durch ein weiträumiges Naturbild und wie Tanzschritte wirken Gilberts geschmeidige Bewegungen, mit denen er das Orchester in Leichtigkeit führt, um es dann wieder mit Entschiedenheit zu fordern. Gerade die Tutti-Stellen in völliger Synchronizität machen diese Interpretation der Symphonie so stark und klar. Feierliche Dramatik wird abgelöst von zweifelnder Moll-Wehmut, die sich dann wieder zu funkelndem Dur-Leuchten erhebt.
Die munteren Jagd-Themen im dritten Satz schwingen sich im Crescendo temperamentvoll auf, im Ständchen entwickelt sich eine bukolische Harmonie und das ist tatsächlich reinste 19. Jahrhundert-Romantik, wenngleich die Zeit von Novalis, Eichendorff, Friedrich und Runge bei der Entstehung dieser Musik schon lange vorbei ist. Die Posaunen malen starke Striche in dieses Gemälde aus sehnsüchtiger Rückwärtsgewandtheit, die in dieser Symphonie so überzeugend liebenswürdig erklingt.
Fast drohend kommt der schnelle Marsch zu Beginn des vierten Satzes daher, aber auch hier bestechen Rhythmuswechsel, alles ist in ständiger Spannung. Während wiederum das Pizzicato der Bässe volkstanzhafte Erinnerungen weckt, wird eine schwelgerische Leidenschaft durch heftige Ausbrüche im raschen Tonartwechsel in die Erwartung eines immer wieder hinausgezögerten Finales gezogen. Die Variationen der Themen in der Instrumentierung halten auch in Wiederholungen eine beständige Spannung und formen sie immer aufs Neue. Die ganze Musik ist ein immer wiederkehrendes „Aber“, musikgewordene Dialektik, in der immer wieder ein Gegenentwurf zum eben Gesagten erscheint.
Wenn man nicht den Katholizismus des Komponisten im Kopf hätte, könnte man diese Musik als hocherotisch empfinden. Man ginge sicher zu weit, dem in Liebesdingen unbeholfenen und wohl kindlich unerfahrenen Bruckner hier einen in seiner Phantasie beschworenen Liebesakt anzudichten. Dennoch spricht aus dieser Musik echte sinnliche Hingabe und leidenschaftliche Steigerung bis zum fulminanten Finale. Das ist tatsächlich ein strahlender Triumph und womöglich treffen sich hier die beiden so gegensätzlichen Tonkünstler des Abends, indem ein „Jubilate“, ein Gotteslob sich auf mehr oder weniger klare Weise mit der leiblichen Sinnlichkeit trifft, im besten Falle vereint.
Den begeisterten Beifall nahm ein Orchester entgegen, dem die Spielfreude anzusehen und zu -hören war. In diesem Klangkörper suchte Alan Gilbert im Schlussapplaus seinen Platz, mitten unter den Musikerinnen und Musikern, in sympathischer Bescheidenheit. Eine grandiose Leistung aller Mitwirkenden – so muss Bruckner klingen und strahlen!
Dr. Andreas Ströbl, 15, Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at