Garsington Opera: Ein sprühender „Rosenkavalier“ an einem lauen englischen Sommerabend

Richard Strauss, „Der Rosenkavalier“,  Garsington Opera, 6. Juni 2021

Die zehnte Saison am neuen Spielort Wormsley Manor beschert dem Festival einen sensationellen Publikumsrekord

Garsington Opera, 6. Juni 2021
Richard Strauss, „Der Rosenkavalier“

von Charles E. Ritterband

Rosen sind überall in diesem in ein englisches Landgut transferierten Wiener „Rosenkavalier“: Natürlich die silberne Rose (die es als Tradition bekanntlich nie gegeben hat – von Hoffmannsthal frei erfunden), gleich zu Anfang des Stückes eine kitschige Plastik-Rose, vom putzigen, rosaroten Gott Amor, der in dieser Produktion politisch korrekt den üblichen Mohren-Pagen der Marschallin ersetzt, Rosen in den überdimensionierten Rokoko-Reliefs, die das Schlafzimmer und dann, mit neureichem Goldrand versehen, das neureiche Stadtpalais des Freien von Faninal schmücken, ein etwas unmotivierter Rosenstrauß im Arm des italienischen Tenors und schließlich ein Blumenverkäufer, der im „Vorstadtbeisl“ dem Verführer Ochs eine in Plastik verpackte Rose aufdrängt.

Diese Inszenierung von Bruno Ravella mit den kongenialen Bühnenbildern in farbenfrohem Rokoko-Pop-Amalgam hebt sich von allen anderen, die ich an den großen Opernhäusern der Welt zu sehen bekam, in dreierlei Hinsicht positiv ab: Liebe zu ebenso intelligenten wie originellen Details, jugendliche Frische und sängerische Strahlkraft. Geradezu übermütig ist diese Inszenierung in ihrer Komik – als ob die Darsteller nach der zweijährigen, Covid-bedingten Spielpause mit potenziertem Enthusiasmus auf die Bühne eilten!

Vielleicht wollte der Regisseur  doch etwas zu viel auf einmal, wenn er diesen bittersüßen, entzückend anachronistischen Abgesang auf das Ende einer aristokratischen, vom Barock geprägten Ära, das Wiener Fin-de-Siècle eben, auf nicht nur zwei sondern drei Zeit-Ebenen platzierte: Nicht nur die Hommage an Mozarts „Nozze“ und die Epoche der Maria Theresia (weshalb ja die Marschallin „Marie Thérèse“ heißen muss) und die Epoche des aufsteigenden, neureichen Großbürgertums (verkörpert als „Fanal“ einer neuen Zeit durch Herrn von Faninal) – sondern zugleich die 50er und 60er Jahre bemühte: Im herrlichen, goldgelben Kleid der Marschallin im Dior-Stil und in den grell-farbigen Pop-Effekten des Bühnenbilds.

Rofrano (Hanna Hipp) und Sophie (Madison Leonard), Foto: Charles Ritterband

Das ist zwar attraktiv, aber für das Publikum vielleicht doch etwas verwirrend. Wenn am Ende des dritten Aktes nacheinander die drei Frauen, Marschallin, Sophie und Rofrano, feststellen, es sei „zu Ende“, so ist nicht nur die erotische Affäre zwischen der Aristokratin und ihrem knabenhaften Liebhaber Quinquin sowie, vermeintlich, der aufkeimenden Liebe Sophies zum jungen Grafen gemeint – sondern eben das Ende der wienerisch-aristokratischen Epoche: Jetzt haben die neureichen Geschäftsleute wie Faninal das Sagen und die Aristokraten ziehen sich zurück (in die Diplomatie beispielsweise) oder sind nur noch peinliche Clowns, wie der – nomen et omen – Ochs.

Ein Falstaff als Ochs

Sei’s drum. Nie zuvor habe ich einen komödiantischeren, spritzigeren „Rosenkavalier“ gesehen – garniert mit zahlreichen witzigen Regieeinfällen, welche das Hauspersonal Faninals, das skurrile Gefolge des Ochs auf Lerchenau, vor allem aber den pointenreichen dritten oder Beisl-Akt betreffen: Da treten die vielen, angeblichen, illegitimen Kinder des Barons sämtlich mit knallroten Lockenperücken auf. Klar – denn dieser Ochs, eine schauspielerisch-komödiantische und zugleich sängerische Spitzenleistung des illustren Bassbaritons (und Heldenbaritons!) Derrick Ballard. Seine Tiefen sind faszinierend, seine Stimme besticht durch Geschmeidigkeit und Wärme. In Denver, Colorado, geboren beherrscht er die Nuancen des Wienerischen virtuos: Genauso wie meine Wiener Großmutter, die mitten im Satz vom „noblen“ Hochdeutsch, mit dem sie sozial hochgestellte Personen angesprochen hatte, auf derbes Wienerisch umstellte, welches auf die „unteren Schichten“ Anwendung fand, schaltete Ballard mühe- und akzentfrei von Hochdeutsch auf Derbwienerisch um, wenn er sich von der Marschallin ihrer vermeintlichen Kammerzofe „Mariandl“ zuwandte.

2. Akt Faninals Stadtpalais, Foto: Charles Ritterband

Ballard wurde vom Regisseur zu einem wienerischen Falstaff stilisiert – der Parodie vielleicht auch auf einen schottischen Landadligen, im auffälligen Karo-Anzug, und vor allem mit einem gewaltigen roten Bart und einem mächtigen – und, da er sich als Perücke herausstellte, abnehmbaren – feuerroten Haaarschopf. Ein Lacherfolg nur schon durch seinen Auftritt. Es war sein Bühnendebut als Ochs und es ist grandios ausgefallen.

Die schwedische Sopranistin Miah Persson hat – von der Staatsoper zur Londoner Royal Opera – bereits an vielen großen Häusern gesungen; ihre Marschallin bestach durch Eleganz und Würde und überragenden stimmlichen Wohlklang. Hanna Hipp gab einen streitbaren Oktavian, der (die) sich von der verehrten Marschallin nicht unterkriegen lässt und sich mit dem Mut der Verzweiflung an diese dem Untergang geweihte Beziehung klammert. Ihre Stimme besticht durch Stärke, ihr Gesang durch wohlbeherrschte Präzision. Madison Leonard bringt eine berührende, stimmlich leuchtende Sophie von Faninal auf die Bühne – subtil der Wandel von der unerfahren-naiven einstigen Klosterschülerin zur selbstbewussten jungen Frau, die den ungehobelten Mitgiftjäger Ochs umgehend durchschaut und in erst trotzig, dann in reifer Konsequenz zurückweist.

3. Akt Vorstadtbeisl, Foto: Charles Ritterband

Die Gesangseinlage des „italienischen Tenors“ ist zwar kurz und wird bekanntlich vom randalierenden Ochs („als Morgengabe!“) jäh unterbrochen – er gehört jedoch traditionell zu den Glanzstücken dieser Oper, ein Stück im italienischen Stil des 18. Jahrhunderts und damit ein humorvoll eingesetzter stilistischer Kontrast zur Strauss’schen Musik des 20. Jahrhunderts und dem berühmten (von Strauss seinem Namensvetter Note für Note gestohlenen) „Rosenkavalier-Walzer“). Hofmannsthal hat den Text zu dieser wunderschönen kleinen Kantilene dem „Quatrième Entrée“ des „Ballet des Nations“ aus Molières „Le Bourgeois Gentilhomme“ entnommen – zweifellos eine geistreiche Anspielung auf die Handlung des „Rosenkavaliers“. Diese einzige, wenn auch abrupt unterbrochene Tenorarie der Oper, wurde mit wunderschön eingesetztem tenoralem Schmelz und doch Präzision dargeboten von Oliver Johnston – ein kleiner musikalischer Leckerbissen in dieser an Glanzstücken reichen Produktion.

Wenn in musikalischer Hinsicht Kritik geübt werden darf, dann vielleicht am Überschwang, mit der das – übrigens ausgezeichnete – Philharmonia Orchestra unter der Stabführung von Jordan de Souza die Protagonistinnen begleitete. Es war, stellenweise, in den Terzetten für mich einfach zu kraftvoll – auf Kosten der berührenden Subtilität des Gesangs und der Handlung, die ja zugleich von einem Ende und einem Anfang kündet.

Garsington The Grounds, Foto: Charles Ritterband
Das Opernfestival Garsington – längst kein Newcomer mehr

Mit dieser Inszenierung ist das relativ junge Garsington-Festival seinem geheimen (oder eingestandenen) Rivalen, dem etablierten Upper-Class-Festival Glyndebourne, um eine ganze Nasenlänge voraus. Was Wunder, dass sich das Publikum um Karten für diesen herausragenden „Rosenkavalier“ reißt (und fast ein Wunder, dass ich kurzfristig noch Karten erhielt): Die Warteliste für jede Vorstellung – wegen der konsequent eingehaltenen Covid-Sicherheitsmaßnahmen wird nur die Hälfte der total 600 Sitzplätze besetzt – beläuft sich auf 100 Personen!

Die Engländer sind bekannt für ihre enthusiastische Begeisterung für sommerliche Picknicks, Open-Air-Konzerte und Opernfestivals in den Parks alter, vornehmer Landhäuser: Der englische Sommer ist kurz, warme Sommerabende sind rar – und sie werden mit einer wahren Inbrunst genutzt, wenn sie sich ereignen. Neben dem längst etablierten und weltberühmten Glyndebourne sind, oft in ständigem Kampf um die finanzielle Existenz, eine Handvoll anderer Opernfestivals in die englische Spitzenliga vorgedrungen: Garsington, inzwischen nicht nur beim kultivierten Publikum der englischen Oberschicht, sondern berühmt weit über die Gestade der britischen Inseln hinaus, spielt längst in dieser Liga.

Garsington 2021, Foto: Charles Ritterband

Das Festival wurde 1989 von Bankier Leonard Victor Ingrams an seinem Landsitz Garsington Manor (Oxfordshire) gegründet und mit Mozarts „Nozze“ lanciert. Nach dem Tod des Gründers und dem Verkauf des Landgutes übersiedelte das Festival nach Wormsley Park in der Grafschaft Buckinghamshire auf den Landsitz der Familie Getty. Es findet in einem als Provisorium erstellten, lichtdurchfluteten Stahlgerüst-Bau statt – ursprünglich als „Pop-Up-Opernhaus“ geplant, dass jeweils Ende der Saison abgerissen und im kommenden Jahr neu erbaut werden sollte. Seit 2013 ist der namhafte Oboist und Dirigent Douglas Boyd künstlerischer Leiter des Garsington-Festivals, das in dieser Saison 2021 neben dem „Rosenkavalier“ mit Tchaikovskys „Eugen Onegin“, Händels selten gespieltem „Amadigi“ und Rossinis „Comte Ory“ aufwartet.

Garsington Opernhaus, Foto: Charles Ritterband

Inzwischen ist das Provisorium permanent – der minimalistische, immer noch improvisiert wirkende graue Bau mit seiner ausladenden Freitreppe krönt eine endlose, typisch englische Naturlandschaft mit alten Bäumen und Gewässern – das Publikum hält sein Picnic in den (wie in Glyndebourne!) verlängerten Pausen in einer Reihe gemieteter weißer Zelte ab: Man weiß ja nie, wenn in England die Witterung zwischen den Akten plötzlich umschlägt…

Garsington Picnic-Zelte, Foto: Charles Ritterband

Wenn man im transparenten Zuschauerraum (mit erstaunlich guter Akustik) der Oper folgt, wandert die Abendsonne an den großen Plexiglas-Fensterscheiben vorbei, in der Pause ertönen vielstimmige Vogelstimmen und man bringt das Picnic besser vor den bereits kreisenden Raubvögeln in Sicherheit, sonst ist es in der nächsten Pause weg. So wird das Opernfestival neben dem musikalischen zum Naturerlebnis: Beginnend bei strahlendem Sonnenschein am frühen Nachmittag, im warmen, allmählich versiegenden Licht der Abendsonne in den Pausen – und am Ende, wenn alles den Parkplätzen zustrebt, ist es Nacht, aus der die Lichter der Zeltstadt und des modernen Musentempels herausleuchten.

Garsington 2021, Foto: Charles Ritterband

Sehr wienerisch und doch sehr englisch, diese muntere, ja übermütige Inszenierung: Nicht nur erinnert dieser Ochs an Falstaff oder einen schottischen Landedelmann – wer weiß denn noch, dass Hofmannsthal seine Inspiration für das große „Lever“ der Marschallin im ersten Akt mit dem Auftritt vom „üblichen Bagaschi“ sich nicht etwa beim Lever des französischen Sonnenkönigs, sondern von einer berühmten Bilderfolge (Stiche) des englischen Malers Wilhelm Hogarth aus dem Jahr 1745 erhielt?

Charles E. Ritterband, 8. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Charles Ritterband in Garsington, Sommer 2021

Musikalische Leitung: Jordan de Souza

Regie: Bruno Ravella

Bühne: Gary McCann

Licht: Malcolm Rippeth

Oktavian („Quinquin“): Hanna Hipp

Die Marschallin: Miah Persson

Baron Ochs von Lerchenau: Derrick Ballard

Sophie von Faninal: Madison Leonard

Herr von Faninal: Richard Burkhard

Ein italienischer Tenor: Oliver Johnston

Annina (Intrigantin): Kitty Whately

Valzacchi (Intrigant): Colin Judson

Philharmonia Orchestra

Garsington Opernchor

Coproduktion mit der Irischen Nationaloper und dem Opernhaus Santa Fe (USA)

Ein Gedanke zu „Richard Strauss, „Der Rosenkavalier“,
Garsington Opera, 6. Juni 2021“

  1. Dank an Herrn Ritterband für den lebendig gestalteten Bericht! Die Begeisterung ist ansteckend, man möchte sofort nach Garsington reisen (kulturgeschichtlich genauso interessant). „Meine“ Marschallinen hießen noch Lisa Della Casa oder Sena Jurinac (beide traten übrigens auch im virtuosen Wechselspiel als Oktavian in Erscheinung), als Sophie brillierten Anneliese Rothenberger oder Lucia Popp… natürlich gab es immer wieder überzeugende Interpretationen der drei großen Frauenrollen, das moderne Regietheater konnte mich beim RK dagegen nie überzeugen.

    Alf Gerd Fantur

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