Märchenhaftes „Schattenspiel“ – Strauss-Premiere kommt an in Hamburg

Richard Strauss, Die Frau ohne Schatten,  Hamburgische Staatsoper

Foto (c): A. Delair
Richard Strauss, Die Frau ohne Schatten
Hamburgische Staatsoper, 16. April 2017

von Leon Battran

Vereinzelt blieben nach der zweiten Pause ein paar Sitze leer. Alle anderen Zuschauer aber, die ausgeharrt und mitgefiebert hatten, nahmen Andreas Kriegenburgs Inszenierung an diesem Ostersonntag begeistert auf und erlösten sie mit geradezu überschwänglichem Beifall.

Es gab Bravo-Rufe für die Sängerinnen und Sänger, und auch Generalmusikdirektor Kent Nagano und sein Philharmonisches Staatsorchester wurden lautstark bejubelt. Leichte Kost im Sinne von sich zurücklehnen und berieseln lassen, bietet „Die Frau ohne Schatten“ jedoch nicht – ja, wer sonst nur für Belcanto in die Oper geht, sollte lieber auf den nächsten Donizetti warten.

Ihrem märchenhaften Sujet zum Trotz kommt die „FroSch“, wie Strauss sie liebevoll nannte, keineswegs naiv und unbeschwert daher. Gerade die Inszenierung von Andreas Kriegenburg legt besonderes Gewicht auf eine psychologische Ausdeutung. Schon rein optisch macht das viel her: Harald Thors Bühnenbild und Andrea Schraads Kostüme erwecken eine fantastische und symbolstarke blitzend weiße Traumwelt zum Leben, die von Tier- und Geisterwesen bevölkert ist. Sie steht im krassen Gegensatz zur trostlosen schmutzigen Welt der Menschen.

Der Färber Barak und seine Frau leben in Armut und finden auch ineinander keinen Rückhalt mehr. Die Kaiserin verlässt mit ihrer Amme die weiße Welt und ersucht die Färberfrau, weil sie sich erhofft, ihren Schatten zu erkaufen, um selbst menschlich und damit fruchtbar zu werden. Gelingt dies nicht, muss der Kaiser versteinern (Märchenlogik).

Die Wirklichkeitsebenen durchdringen sich, der Handlung sind surreale Traumsequenzen zwischengeschaltet. Traumhaft-irreal wirkt die Szenerie, in die sich die Färberin hineinträumt. Zu dem entrückten Stimmungsbild trägt maßgeblich der Frauenchor der Staatsoper bei. Der tummelt sich auf der Bühne in Gestalt von knapp drei Dutzend grellweißen Bräuten, die die Färberin mit ihrem Gesang verlocken – schwerelos und duftig-süß wie eine Wolke aus Zuckerwatte. Dazu gesellt sich ein makelloser Tenor, gesungen von Alex Kim. Die Färberin gibt sich der Vision hin. Gerade weil dieser Traum sich in seiner Unwirklichkeit doch so echt anfühlt, gehört diese Szene zu den spannendsten und eindrucksvollsten der Oper.

Auch Horrorszenarien voller Blut, Schmerz und Gewalt spielen sich ab, Mordfantasien erwachen zum Leben. Diejenigen, die lieben, trachten dieser Person jetzt nach dem Leben – voll schrecklich! Die Bilder sind gleichsam stark wie verstörend: Der treue Falke und der Jüngling mit der cremigen Tenorstimme sind von Pfeilen durchbohrt und bluten aus ihren Wunden. War das nun Wirklichkeit?

Der Schluss ist dagegen ein so drastischer Glückstaumel, dass er einfach zu schön wirkt, um wahr zu sein. Das Kaiserpaar nimmt auf einer weißen Holzbank Platz, all die ungeborenen Kinder treten symbolisch auf, bringen rosarote Blumen und einen Erdbeerkorb für das Paar. Sie tragen bunte T-Shirts, toben herum und spielen Ball. Hier ist die Oper plötzlich nur noch Märchen mit einem Happy-End ohne Wenn und Aber, der Himmel auf Erden.

Nach all dem Leid, all den Kämpfen und dem Psychohorror mag man sie nicht so recht glauben, diese heiter-duselige Episode, die wie ein Heimatfilm anmutet. Fehlt nur noch, dass der Osterhase höchstpersönlich auftritt und Schokobons verteilt – vielleicht eine Idee für die nächste Osterpremiere, liebe Staatsoper?

Märchenhaft fantastisch ist auch die Musik. Was da alles auf einen einprasselt – das muss man erst mal verarbeiten! Es ist ein Aufblühen und Strahlen, ein Trüben und Verdunkeln, ein Winden und ein Wehen. Trugschlüsse schmiegen sich sanft an, wehmütige Vorhalte spielen miteinander Fangen. Strauss‘ rastlose Harmonik scheint keinen Abschluss zu finden, schraubt sich geradewegs in den Himmel hinauf. Analysieren Sie das mal! Mit Funktionstheorie kommen Sie da nicht weit.

Das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Kent Nagano navigiert mit anhaltendem Gespür durch diesen Strudel aus Emotionen und Farben. Das gelingt meistens gut und mit der Zeit immer besser, nur manchmal ist das Klangbild etwas unausgeglichen. Das Orchester füllt einen überwältigenden Klangraum, lässt sich dabei bis zum Finale noch Luft nach oben. Fast schon klebrige Romantik mischt sich mit grollendem Unheil. Auch die musikalische Avantgarde klingt an: Scharfe Dissonanzen sind zu hören, das penetrante Falkensignal in den Flöten bricht sich wie eine manische Episode immer wieder aufs Neue Bahn.

Einen der schönsten Augenblicke der Oper beschert das kleine Duett zwischen dem Färberehepaar im dritten Akt. Sie singen aneinander vorbei und trotzdem aufeinander zu, miteinander und doch ohne einander. Sie finden sich wieder. Hier schimmert ein romantisches Kleinod, eine Insel reinen Gefühls, feinmaschig verflochten zwischen Spiegelwelten und Traumsphären.

Dennoch gewinnt man den Eindruck, dass das Theater die Musik überwiegt; dass sich der musikalische Ausdruck vor allem aus der Dramatik der Handlung speist. Während die männlichen Partien noch eher traditionell kantabel angelegt sind, belässt Strauss die weiblichen Figuren überwiegend im Duktus eines hochverkünstelten deklamatorischen Sprechgesangs.

Die Partie der Kaiserin ist besonders komplex gestaltet. Sie enthält abrupte Lagenwechsel und Intervallsprünge, aus denen die Zerrissenheit der Figur spricht. Zum dramatischen Höhepunkt der Oper verzichtet sie sogar gänzlich aufs Singen. Die Kaiserin spricht frei, sie wehrt sich gegen das ihr auferlegte ungnädige Schicksal. Das Ringen mit sich selbst, der verzweifelte innerliche Kampf entlädt sich in einem markerschütternden Schrei und gipfelt in der mitfühlenden, menschlichen Entscheidung, die sie erlöst: Sie will den Schatten der Färberin nicht mehr.

Die Partie der Kaiserin ist eine Herkulesaufgabe. Anstrengendere Partien gibt es in der Opernliteratur wahrscheinlich kaum. Jeden Abend kann man die nicht singen. Ein bisschen merkte man Emily Magee diese Anstrengung auch an. Vielleicht gelingt es ihr, ihrer Figur für die folgenden Aufführungen noch mehr Facetten abzugewinnen. Man vermisste stellenweise ein wenig Zartgefühl und das Strahlen von innen heraus.

Auch die Partie der Amme, gesungen von Linda Watson, ist sowohl für die Ausführende als auch für die Zuhörer eine Herausforderung. Eigenartige Melodien, viele lange, hohe, leider etwas schrille Töne. Meistens versteht man gar nichts mehr vom Text – dennoch eine respektable Leistung.

Roberto Saccà glänzte mit einer tollen Bühnenpräsenz und einer hingebungsvollen und einfühlsamen Interpretation des Kaisers. Sein Tenor erklang erhaben und fein, mit hohem Wiedererkennungswert. Der Darbietung mangelte es lediglich an akustischem Volumen.

Lise Lindstrom und Andrzej Dobber gaben beide ein bravouröses Rollendebut als Färberehepaar. Lindstrom verkörperte ihre Partie mit Haut und Haaren, sang vor allem die tieferen, spannungsgeladenen Passagen mit gutem Strauss-Gefühl und erhielt großen Applaus.

Auch Dobber sang sich geradewegs in die Herzen der Zuschauer. Den Färber Barak gab er durchweg sehr überzeugend und mit großem Ausdruck, selbst wenn es nur darum ging, dass ihm das Essen nicht schmeckt. Dass zum Ende hin nach knapp vier Stunden ein kleines bisschen die Luft raus war, ist kaum der Rede wert. Als der stämmige Bariton ganz zögerlich zum Applaus auf die Bühne tritt, wird es schlagartig laut im Saal. Er ist der Mann des Abends und der Liebling des Publikums – viele Bravos für den tapferen Bariton.

Leon Battran, 17. April 2017 für
klassik-begeistert.de

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