Die traditionelle Übergabe der silbernen Rose vermeldet in Richard Strauss’ Oper Der Rosekavalier die Ankunft des Bräutigams. Im Vorgänger Elektra wird deren Vater mit einem Beil erschlagen, das fortan stets präsent ist. Beides führt zu einigen Konflikten, die unterschiedlich gelöst werden. Im Rosenkavalier unblutig, mit viel Humor, in der Elektra ziemlich blutig.
Staatsoper Hamburg, 10. November 2024
Richard Strauss, Elektra
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano / Dirigent; Foto: © Felix Broede
von Jörn Schmidt
In der Hamburger Inszenierung von Dmitri Tcherniakov wird es noch blutiger, es geht dort zusätzlich Chrysothemis (Jennifer Holloway) an den Kragen. Orest (Kyle Ketelsen) ist halt ein Killer durch und durch. Das Libretto (Hugo von Hofmannsthal) gibt das nicht her. Schlüssig ist dieser Ansatz auch sonst nicht, jedenfalls nicht für mich. Aber Regietheater ist heute nicht das Thema.
Ich gebe zu, zuweilen habe ich gedacht, Kent Nagano hätte andere Stärken als Richard Strauss. Olivier Messiaen liegt ihm ohne Zweifel, zuletzt nachgewiesen in der Elbphilharmonie Hamburg mit Saint François d’Assise. Dazu hat sicher beigetragen, dass der Maestro 1983 fast ein Jahr lang mit Messiaen und dessen Frau in einem Haushalt lebte, um gemeinsam die Uraufführung von Saint François an der Opéra Garnier vorzubereiten.
Überhaupt die Franzosen, Kent Nagano debütierte 2015 als Generalmusikdirektor der Hamburger Staatsoper mit Hector Berlioz’ Oper Les Troyens. Auch ein komplexes, opulentes Werk, dessen Umsetzung, wie Werner Theurich seinerzeit im SPIEGEL schrieb, genau das erfordert, was Nagano liegt: „feingeschliffenes, filigranes Orchester, elegante Pointen, dezente rhythmische Akzente, aber keine krachende Kraftentfaltung, keine Exzesse.“
Das hätte ich nicht besser auf den Punkt bringen können. Wenn man so will, ist Berlioz der Schlüssel zu Naganos Strauss. Elektra ist voll von Exzessen. Das Orchester ist groß besetzt, den hochromantische Klangzauber treibt der junge Strauss bis an die Grenzen der Dissonanz. Mich berührt diese Oper jedes Mal, mehr noch als Salome und FROSCH (Frau ohne Schatten).
Bislang war ich überzeugt, dass ein mitreißendes Elektra-Dirigat von glutvoll ausgelebten spätromantischen Ausschweifungen lebt. Wo ich früher gedacht habe: Bitte noch mehr stampfende Rhythmik, das käme doch jetzt gut. Und wäre vielleicht noch etwas mehr Power möglich, der Saal muss schließlich beben?
Da hat mich Feingeist Nagano mit seiner Lesart eines Besseren belehrt. Es ist unnötig, sich an diesem Spektakel abzuarbeiten, es überzeichnet auf die Bühne zu bringen. Die Partitur ist eindrucksvoll genug, man muss sie wie ein guter Anwalt frei von Übertreibungen zum Klingen bringen.
Hinzu kommt, dass der Exzess vom Kontrast lebt. Sonst nutzt sich das irgendwann ab. Nagano hat, so scheint es mir, den Rosenkavalier-Strauss in der Elektra gesucht. Elektras Hass tönt bei ihm auch lyrisch und gewinnt dadurch ungemein an Intensität.
Wenn Iréne Theorin davon fantasiert, wie sie über Leichen hin das Knie hochheben wird Schritt für Schritt, um das Grab ihres Vaters königliche Siegestänze tanzend, dann singt die Schwedin diese Zeilen streckenweise innig, als schreite sie gleich zur Übergabe der Silbernen Rose – dabei hat sie doch das Beil im Sinn, das den Vater rächen soll.
Naganos Dirigat nimmt dem Tanz die Schwerkraft, der Rhythmus stampft nicht, er federt. Die Wechsel von Zärtlichkeit zu Aggressivität und wieder zurück hört man selten in dieser Deutlichkeit. Aus dieser Extremsituation heraus kann Elektras Tanz seine ganze Wucht entfalten.
Neben krachender Kraftentfaltung und polternder Exzesse braucht es auch alle Facetten eines feingeschliffenen, filigranen Rosenkavalier-Orchesters und dezenter rhythmischer Akzente, damit die Spannung bis zum blutigen Ende nicht abreißt.
Einfühlsam geht eben einfach besser unter die Haut.
Jörn Schmidt, 11. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 2 klassik-begeistert.de, 31. Mai 2024