Besser geht Strauss nicht - Christian Thielemann gastiert mit Renée Fleming und der Dresdner Staatskapelle im Wiener Musikverein

Richard Strauss, Vier Letzte Lieder
Richard Strauss, Eine Alpensinfonie op. 64
Sächsische Staatskapelle Dresden
Christian Thielemann
Renée Fleming
Musikverein, Wien, 23. Mai 2017

von Antonia Tremmel-Scheinost

Kaum ein anderer verkörpert den Habitus des streitbaren wie exzellenten Maestros so bestechend wie Christian Thielemann. Künstler mit „ausgeprägtem Persönlichkeitsprofil“, zwischen Genie und Wahnsinn changierend, sind zwar keine Novität, dennoch hat der erfolgreichste Dirigent seiner Generation absoluten Seltenheitswert.

Skandal, Furore und Thielemann waren lange Zeit ein bestens eingespieltes Trio Infernal. Vom Vorwurf des – milde ausgedrückt – Wertkonservatismus, über Vorbehalte gegen die 68er-Bewegung, bis hin zu Zerwürfnissen, ließ der preußisch-gestrenge Kapellmeister in seiner Laufbahn nahezu nichts aus. Doch so sehr der Urberliner (Jahrgang 1959) abseits des Pultes polarisieren mag, überragende Könnerschaft vermögen ihm auch seine schärfsten Kritiker nicht abzusprechen.

Bereits in Jugendjahren war er Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin und eigensinniger Assistent des großen Herbert von Karajan. Danach machte er, allen Hürden zum Trotz und stets begleitet von seinem Porträt Friedrichs des Großen, rasch Weltkarriere. Mittlerweile gibt Christian Thielemann bereits in fünfter Saison den Chefdirigenten der Staatskapelle Dresden. Einst von Wagner als seine „Wunderharfe“ bezeichnet, hat Thielemann das Orchester wieder zu dem herausragenden Klangkörper von einst gemacht. Zuzüglich ist er Schlüsselfigur in Bayreuth, Künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele sowie gefeierter Gastdirigent der Wiener Philharmoniker.

Thielemann ist ein Dirigent der alten Schule, mit einem Qualitätsmaßstab ganz in der Tradition Knappertsbuschs und Furtwänglers. Er ließ unmodern modern werden, mimt in unverwechselbarer Weise den Bewahrer des deutschen Repertoires. Es gehört schon einiger Mut dazu, sich stetem Fortschrittsgehabe und Zeitgeist so vehement zu widersetzen, wie diese Lichtgestalt des musikästhetischen Wertkonservatismus. Dass die Bastion Thielemann romantisches Schwelgen in Wagner, Bruckner, Strauss und ja: auch Pfitzner, wieder en vogue gemacht hat, vergilt ihm die Hörerschaft jedenfalls mit Nibelungentreue.

Für das Salz in der Wiener Suppe sorgte der Charismatiker ersten Ranges nun auch an zwei Abenden im Wiener Musikverein. Thielemann als Strauss-Institution par excellence gastierte mit „seinen“ Dresdnern, um (nach französischem Repertoire an Tag eins) die „Vier letzten Lieder“ und die „Alpensymphonie“ zu dirigieren. Ein Heimspiel also.

Bei den Proben noch gewohnt selbstbewusst und im obligatorischen (Ringel)Polo den Taktstock schwingend, ließ Thielemann während der Aufführung große Demut vor Strauss erkennen und die Musik für sich sprechen. Frei nach „Fu’s“ Motto „Es gibt nur ein Tempo und das ist das richtige“ ließ er das Wiener Musikvereinspublikum die Langsamkeit wiederentdecken.

Den ersten Teil des Abends bestritt Thielemann mit seinem langjährigen „partner in crime“, der Starsopranistin Renée Fleming. Diese betrat den Goldenen Saal nicht, sie erschien. In makelloser Aufmachung wirkte der Soprano wie gerade dem Opern-Olymp entstiegen, ein Anblick der nach Nektar und Ambrosia schmeckte. Die amtierende amerikanische Diva steht mittlerweile im Herbst ihrer langen Karriere, hat vom Superbowl über Grammy bis zum Diamond Jubilee der Queen alles erlebt. Die Fachwelt feiert sie als eine der führenden Opern- und Konzertsängerinnen. Mitunter gilt die Grande Dame mit dem neckischen Blick als grandiose Feldmarschallin, steht Thielemann in puncto Strauss-Expertise also um nichts nach.

Die „Vier letzten Lieder“ vertonte der greise Richard Strauss 1948 im Schweizer Exil im Jahr vor seinem Tod, als er sich noch ein letztes Mal dieser Kunstform seiner Jugend zuwandte. Der Trilogie an Gedichten Hermann Hesses, der erst zwei Jahre zuvor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, folgte Joseph von Eichendorffs „Im Abendrot“, ein Höhepunkt des Liedschaffens.

Einst als ein „Requiem für sich selbst“ betitelt, beschäftigt sich der Liederzyklus kontinuierlich mit Themen wie Tod und Abschied.

Es sollten Strauss’ letzte vollendete Werke bleiben. Erst posthum vom Verleger zusammengestellt, brachte niemand geringeres als Furtwängler (sic) mit der großen Kirsten Flagstadt den Zyklus zur Erstaufführung. Ob sich Thielemann und Fleming als legitime Nachfolger bewährt haben, darüber lässt sich streiten.

Seinem nüchternen, kantigen (und furtwänglerischen) Personalstil treu bleibend, machte der Maestro seinen Strauss an diesem Abend jedenfalls zum Erlebnis. Jede Note der Partitur wie selbstverständlich kennend, interpretierte der Kapellmeister in höchster Sorgfalt und Klangpracht.

Nach einem gewohnt zackigem Einsatz Thielemanns setzte die erhabene Fleming sogleich zum ersten Lied an:

Im „Frühling“, diesem mit Lebenslust gefüllten Stück, schickte der Maestro seinen Soprano in luftige Höhen, ein Windstoß fegte durch Partitur und Saal. Flemings Stimme wurde in klanglicher Opulenz geradezu davongetragen.

Anschließend führte Thielemann geschwind wie behutsam hinüber in die Trauerstimmung von „September“ mit seinem Feuilles-mortes-Thema. Die Todesnähe ließ sich in diesem verregneten Dresdner Herbstgarten bereits erspüren.

Flemings Stimme hat ein edles Timbre, jedes Wort, jedes Vibrato ist durchdacht. Allerdings kam die Tendenz der Hesse-Gedichte der Koloratur ihrer Artikulation nicht wirklich zu gute. In den Höhen glasklar und strahlend, neigte der Ton in den tieferen Lagen manchmal zur Sprödigkeit. Interpretatorisch bewegte sich die Grande Dame jedoch auf höchstem Niveau, farbenreich und nuanciert verlieh sie den Liedern überragenden Ausdruck und Dynamik.

„Beim Schlafengehn“ gestaltete Fleming mit entrückter Hingabe und der Todesmoment wurde in nahezu feierlicher Freude auf die Ewigkeit angenommen. Die Krönung war jedoch Eichendorffs Solitär „ Im Abendrot“. Schöner, berührender und wahrhaftiger lässt sich melancholisches Schwelgen nicht ausdrücken. Fleming schlug wundervolle Legatobögen, ließ ihre Stimme in tiefer Eindringlichkeit und getragen vom dunklen Orchesterklang durch den Raum fließen. Thielemann sorgte wiederum mit intelligenten Tempi für sensible Hochspannung. „Wie sind wir wandermüde – ist dies etwa der Tod?“ Die Wehmut und Zerrissenheit dieser letzten Frage schwang in der bedrückenden Stille vor dem Aufbranden des Applauses nach.

Im zweiten Teil des Abends gab Christian Thielemann ebenfalls einen alten Bekannten zum Besten: „Eine Alpensinfonie“. Richard Strauss’ 1914 vollendete monumentale sinfonische Dichtung stellt einen wahren Gipfelpunkt im Oeuvre des Komponisten dar.

Oft stiefmütterlich behandelt und vom Vorwurf der Effekthascherei verfolgt, polarisiert dieses Alpenpanorama mindestens genauso wie der Maestro selbst. Dabei handelt es sich um ein abgründiges Werk bar jeder Verkitschtheit, von Strauss einst programmatisch an Nietzsches „Antichrist“ angelehnt (… sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen herrlichen Natur). Dem aufmerksamen Hörer (oder Partiturkenner) erschließen sich auch Ansätze vom unvollendeten Finale Bruckners Neunter oder Max Bruchs 1. Violinkonzert.

Inspiriert von einem Jugenderlebnis in seiner bayrischen Heimat, vertonte Strauss die tief empfunden Liebe zur Bergwelt in ganzen 22 Themen. Selten wurde Freude an der Natur in schöneren Klangfarben zum Ausdruck gebracht.

Der Hörer wird durch allerlei facettenreiche Motive wie Wald, Wasserfall, Alm, Gletscher, Gipfelsieg sowie Heimkehr geführt. Am eindrücklichsten gestalten sich Bedrohungen wie Nebel, Unwetter und vor allem Passagen der Stille.

Strauss dirigierte am liebsten seine Alpensymphonie, und um Thielemann scheint es ähnlich zu stehen. Was interpretatorisch und klangtechnisch offeriert wurde, grenzt schlichtweg an Weltklasse. Mit viel Verve wurden behutsam alle noch so feinen Motive ausgekostet. Er schlägt einen emotionalen, durchgängigen Spannungsbogen zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang, ohne sich in Pathos zu verlieren. Kein Postkartenkitsch, keine angestaubte Patina ­– es gelang Thielemann bis in jede Phrasierung plastisch wie variabel zu bleiben.

Fast schien es so, als ob der komplette (mucksmäuschen stille) Saal sich ab dem „Anstieg“ zwecks Gipfelsturm zu einer einzigen Seilschaft vereint hatte. Thielemann sorgte als Ohrenöffner und Motivator für ein Hör- und Gemeinschaftserlebnis der besonderen Art.

Glücklicherweise hat der Maestro die Alpen nicht mit dem Himalaya verwechselt und ihm gelang ein spannungsreicher Aufstieg mit flüssigen, angemessenen Tempi. Die Musik strahlte, stürmte drängend vorwärts, wurde mal samten wie beim „Eintritt in den Wald“, mal brauste der Wildbach packend-existenziell über die Köpfe des Publikums hinweg, oder es schwebten die duftigen Klänge „der blumigen Wiesen“ durch den goldenen Saal.

Die Abschnitte „Auf dem Gipfel“, „Gewitter und Sturm, Abstieg“ sowie „Sonnenuntergang“ waren fast schon überirdisch schön. Vor allem in Ersterem wurde der Holzbläserdialog – die Oboe im großen Solo schwebte glasklar über dem Gipfel ­– präzise ziseliert und virtuos von den Bässen untermalt. Thielemann legte Gewicht auf die Akzentuierung der beiden Gipfel-Melodien und schuf eindringliche Pausen. Ein Hochgenuss!

Die mahlstromartige Steigerung der Dresdner mittels wuchtiger Klangfülle übermittelte die angstvolle Gefühlswelt eines verirrten Wanderers unheimlich intensiv. Momente des Stillstandes, beklemmenden Nebels, der Elegie als Endzeitmetapher ­– all das raubte einem den Atem.

Die Gewitterszene als bedrohliches Pandämonium, inklusive Getöse durch Donnerblech und Windmaschine, bewegte auch den größten Phlegmatiker im typischen Musikvereins-Meer der grauen Häupter. Die Furcht vor Zeus und realem Wolkenbruch schien mit Thielemann als Anpeitscher hyperreal zu sein.

Krönender Abschluss war der Sonnenuntergang, in dem sich das Orchester mit der Orgel zu einem atemberaubenden Gesamtklang vereinte. Mit Beginn des Abstiegs fanden sich einzelne Themen gespiegelt wieder und es endete wie es begann: Im Dunkeln.

Thielemann, dieser hochsensible Vollblutmusiker, hat wie schon so oft ein betörendes Rezept aus Rasanz und Stille gefunden. Einziger Wermutstropfen in seinem Perfektionsstreben war die Schwäche der normalerweise exzellenten Dresdner Blechbläser, man ist sie strahlender und legatofähiger gewohnt.

Sei’s drum, das war wahrlich eine Darbietung „ab imo pectore“ – frenetisch bejubelt und von ganzem Herzen. Zum Schluss ein typisch lakonisches Strauss-Resümee: „Ich hab‘ einmal komponieren wollen, wie die Kuh die Milch gibt!“

Antonia Tremmel-Scheinost, 25. Mai 2017
für klassik-begeistert.de

 

 

Ein Gedanke zu „Richard Strauss, Vier Letzte Lieder, Eine Alpensinfonie, Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann, Renée Fleming,
Musikverein“

  1. Diesen enthusiastischen Kommentar kann ich nur bestätigen. Die goldene Kehle von Renee Fleming verbindet die tiefen Lagen dieser Lieder mit den „himmlischen“ Höhen in einem Bogen, Christian Thielemann und seine Dresdner begleiten mit unerhörter Delikatesse und erzielen Klangwunder, die auch im Musikverein leider nur sehr selten zu hören sind. Die Stimmführer der Dresdner Staatskapelle konnten bei der Alpensinfonie ihre exzellente Musikalität beweisen, indem sie im entscheidenden Augenblick aus dem Ensemble hervortraten und wieder verschwanden. Es war einfach atemberaubend schön. Bemerkenswert allerdings, dass sich die führenden Blätter in Wien als nicht kritikfähig erwiesen! Man glaubt offenbar ( als „Alt-68er“ ? ) auf diese Weise einige drittrangige Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts vor dem endgültigen Verdikt der Geschichte bewahren zu können, indem man die überlegene Meisterschaft von Richard Strauss ignoriert. Dr. Peter Pongratz (Wien)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert