Ricarda Merbeth (Brünnhilde), Andreas Schager (Siegfried) © Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Ein letztes Mal wurde Wagners Ring in der Inszenierung von Willy Decker unter der musikalischen Leitung von Christian Thielemann aufgeführt. Am Ende der Götterdämmerung ist, wie wir wissen, die Zukunft ungewiss – doch es gibt auch ausreichend Grund zur Freude.
Richard Wagner,
Götterdämmerung
Christian Thielemann, Dirigent
Sächsische Staatskapelle Dresden
Willy Decker, Regie
Wolfgang Gussmann, Bühnenbild
Semperoper Dresden, 10. Februar 2023
von Leander Bull
Wenige Sekunden nach dem Ausklingen des letzten Akkords der Götterdämmerung erlebt man in der Sächsischen Staatsoper etwas Kurioses. Es dauert nicht lange, bis der Applaus beginnt, doch nicht alle stimmen in den vorzeitigen Jubel ein. So kommt es, dass das Klatschen tatsächlich nach wenigen Sekunden endet und wieder eine selige Stille in den Saal einkehrt. Immer noch schwebt das Erlösungsmotiv in der Luft, immer noch flimmert der Weltenbrand vor den Augen des Publikums. Es gibt Zeit, durchzuatmen. Nach einigen Sekunden beginnt der wohlverdiente Applaus erneut. Dieses Mal nimmt er kein Ende.
Doch nicht nur hinter den Kulissen ist es ein außergewöhnlicher Abend. Thielemann, dessen Dirigat des Rings letztes Jahr an der Berliner Staatsoper noch durch eine fast grenzwertige Langsamkeit auffiel, leitet das Orchester hier zügiger. Direkt zu Beginn des Vorspiels, wenn das Erwachen-Motiv erklingt, wird erkennbar, dass die Sächsische Staatskapelle Dresden fließender, schneller spielt, als man es von entschleunigten Interpretationen kennt. Immer doch ist das Orchester unter der Führung des Kapellmeisters präzise, immer kontrolliert, sodass trotz erfreulich zügigen Akzenten, die beispielsweise in der Rheinfahrt gesetzt werden, immer auch langsame, meditative Momente wie die Morgendämmerung den späten Wagner des Parsifal durchschimmern lassen.
Generell weist dieser ganze Ring musikalisch eine herrlich umfangreiche Spannweite auf. Thielemann traut sich, auch stürmische Momente durchaus überraschend sachte zu dirigieren, jedoch nicht nur zu Gunsten einer für Wagner-Interpretationen leider seltenen klanglichen Klarheit. Große, ergreifend laute Momente, in denen der wagner’sche Weltenatem aus dem Orchestergraben anschwillt, kommen vollends zur Geltung. So umarmen sich Siegfried (Andreas Schager) und Brünnhilde (Ricarda Merbeth) in einer herzergreifenden Eröffnung der Morgendämmerung, während im Hintergrund betörend laut die Töne erklingen, die wir auch später im Trauermarsch hören werden. Besagter Trauermarsch selbst ist genauso grandios wie erwartet.
Doch nicht nur das wunderbare Orchester glänzt – trotz gelegentlicher Unreinheiten der Bläser – an diesem Abend. Auch die Sänger atmen diesem monumentalen Werk bebendes Leben ein. Klare Höhepunkte, wie der Schlussapplaus allerspätestens beweist, sind Andreas Schager als Siegfried und Stephen Milling als Hagen.
Während beide zu Beginn des ersten Aktes noch etwas Zeit zu brauchen scheinen, um stimmlich warm zu werden, ist Schagers Tenor von einem einzigartigen Schlag. Nach zwei Zyklen, sowohl als Siegmund und Siegfried, besitzt seine Stimme trotz dieser Herkulesaufgabe eine scheinbar endlose Weite, die zwar immer kräftig ist, doch sich nie mit einem aufbrausenden Tremolo überschlägt. Auch die vor Jugendkraft strotzende Freude, mit der Schager dieser Rolle ebenso schauspielerisch eine Präsenz verleiht, sollte nicht angesichts seiner stimmlichen Brillanz unerwähnt bleiben. Gegenüber Schagers Tenor ist es Stephen Millings Bass, der als Hagen die bedrohliche Tiefe in diese unglaublich düstere Musik bringt. Spätestens wenn während der Schlachtrufe („Hoiho!) seine ominös finstere Stimme durch den Saal donnert, hält Milling das Publikum im Bann. Auch Adrian Eröds Rollendebüt als Gunther ist solide, doch angesichts Millings Hagen, der ihn auch inszenatorisch dominiert, tritt er gewiss etwas in den Hintergrund.
Auf der weiblichen Seite glänzt Ricarda Merbeth als eine stark und dominant gezeichnete Brünnhilde, die auch in den Höhen ihres Soprans sicher bleibt. Auch Anna Gabler tritt selbstsicher und klanglich beständig auf. Ganz klar heraus sticht jedoch Waltraud Meier als Waltraute, denn die renommierte Wagner-Mezzosopranistin tritt an diesem Abend mit 67 Jahren in ihrer letzten Wagner-Rolle auf. Bereits zu Anfang spürt man diesen Abschied, doch wenn Thielemann während des Schlussapplauses das begeisterte Publikum mit einem Mikrophon unterbricht, um ihr einen Blumenstrauß zu überreichen und ihre stimmliche Perfektion zu würdigen, ist mit einem wunderschönen Abschied ihr Eingang in die Geschichte der großen Wagner-Sängerinnen besiegelt.
Was letztlich diesem herrlichen Abend noch die perfektionistische Krone aufsetzt, ist eine intelligente Inszenierung, die erfreulicherweise zur Ausnahme nicht gegen die Musik arbeitet. Willy Decker entwarf zusammen mit Wolfgang Gussmann vor über zwanzig Jahren das Bühnenbild, welches durchgängig wichtige Impulse des Librettos aufnimmt und minimalistisch stilisiert, sodass jede Szene vor werkgetreuer Atmosphäre strotzt. Besonders, wenn Alberich (Markus Marquardt) seinem Sohn Hagen in einer musikalisch aufs Feinste herausgearbeiteten, leisen Szene erscheint, untermalt das Bühnenbild die Szene unheimlich surreal.
Auch im Kontext der anderen Aufführungen dieses Dresdner Rings findet diese Inszenierung intelligent zum Schluss. Die Stuhlreihen, die wir noch zu Beginn des Rheingolds sahen, verschwinden im Weltenbrand unter der Bühne, und auch das Motiv der Weltkugel, die als allererstes im Rheingold als ursprüngliches Potenzial auftaucht, erscheint zum Ende hin. Wieder fängt das Weltendrama von vorne an, doch gibt es auch erneut das Potenzial für eine neue Welt, in der sich die Dinge vielleicht anders abspielen. Außerdem – was für eine herrliche Freude, Siegfried endlich auf der Bühne mal wieder in sein Horn blasen zu sehen!
Pierre Boulez sagte einst, die Leitmotive des Rings würden in der Musik der Götterdämmerung bereits weiße Bärtchen tragen. Diese Schwere des Werks ist durchgängig an diesem Abend bemerkbar, nicht zuletzt, da wir Thielemanns bevorstehenden Weggang 2024 jetzt schon betrauern. Wie in der Oper selbst ist nach dem Weltenbrand die Zukunft ungewiss – doch es gibt immer noch die Hoffnung auf eine neue, vielleicht sogar bessere Zukunft. Letzten Endes bleiben einem die Worte der Nornen in den Ohren: „Weißt du, wie das wird?“
Leander Bull, 11. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Giuseppe Verdi, Attila Semperoper Dresden, 4. Februar 2023 PREMIERE
Die Hugenotten, Musik von Giacomo Meyerbeer Semperoper Dresden, 22. Oktober 2022