„Ein Wunder ist gekommen“ – Wagners „Lohengrin“ brilliert am Theater Lübeck

Richard Wagner, Lohengrin  Theater Lübeck, 4. September 2022 PREMIERE

Lohengrin, Theater Lübeck 2022, Photos: Jochen Quast

Theater Lübeck, 4. September 2022   Premiere

Lohengrin
Romantische Oper von Richard Wagner

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck
Stefan Vladar, Dirigent
Anthony Pilavachi, Inszenierung

von Dr. Andreas Ströbl

 

Als „furchtbar großartig“ empfand Richard Wagner die Figur der Ortrud, der düsteren Gegenspielerin der lichtvollen, aber leider an der Unvereinbarkeit von Traum und Realität scheiternden Elsa von Brabant.

„Furchtbar großartig“ ist in der Tat der „Lohengrin“ am experimentierfreudigen Theater Lübeck, das mit dieser Produktion aufs Neue bewiesen hat, dass dieses Haus auf höchstem Niveau arbeitet. Dessen Strahlkraft geht weit über die Region hinaus und so hörte man bereits im Premierenpublikum am 4. September 2022 auch dänische und englische Stimmen.

Nationalistisch eingeengt dagegen fiel die Rezeption des „Untertans“ Diederich Heßling in Heinrich Manns gleichnamigem Roman aus, dessen reaktionärer Protagonist die Musik dieser romantischen Oper als „deutsche Kunst“ feierte, denn „hier erschienen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfüllt“. In ebendiesem Lübecker Theater hatten Thomas und Heinrich Mann ihren ersten Lohengrin gesehen.

Die aktuelle Inszenierung bedient nichts Heldisches und karikiert das Nationale, auch greift sie nicht das „Blaue“, das Thomas Mann und Friedrich Nietzsche, schließlich Neo Rauch in der Bayreuther Inszenierung von 2020 mit dem „Lohengrin“ verbunden haben, auf. Die Lübecker Produktion wird durch die Farbe Grau in allen Nuancen dominiert, alles Bunte oder wenigstens Farbige wirkt hier fast immer verzerrt oder parodistisch. Das Bühnenbild von Tatjana Ivschina, die auch die Kostüme entwarf, beherrscht eine Kirchenruine mit einer Glaswand, was in der schmuddeligen Betonoptik mit der Maßwerkrosette an die traurige Rekonstruktion der vom SED-Regime zerstörten Leipziger Paulinerkirche oder der Dresdener Bussmannkapelle erinnert. Dass es in dieser Oper immer wieder um die Angst vor dem „Feind aus dem Osten“ geht, gemahnt daran, dass zahlreiche ukrainische Kirchen demnächst ähnlich aussehen werden.

Dieser „Lohengrin“ ist anders und unbequem, am Ende verstörend. Aber wie Wagner an Franz Liszt nach der Uraufführung schrieb – es ging es ihm um eine künstlerische Revolution, „die unsere heutige theatralische Routine aus den Axen [sic!] hebt.“

Lohengrin, Theater Lübeck 2022, Photos: Jochen Quast

Ganz in diesem Sinne haben die Lübecker ein echtes Gesamtkunstwerk hingelegt, das von den inszenatorischen Ideen und der sängerischen wie spielerischen Umsetzung her neue Dimensionen eröffnet. Und tatsächlich ist, entsprechend dem von den Brabantern als zu ihnen gekommenes Wunder willkommen geheißenen Schwanenritter dem Haus etwas Wunder-artiges gelungen, denn kurz vor der Premiere fielen zwei der Hauptrollen aus. Eine neue Elsa musste krankheitsbedingt, eine neuer Lohengrin aufgrund unterschiedlicher künstlerischer Auffassungen hinsichtlich der Ausrichtung der Partie in kürzester Zeit gefunden werden, was GMD Stefan Vladar souverän gelang. Da hatte das ganze Team aber schon gut 60 Proben hinter sich und die aufzuholen war Schwerstarbeit.

Völlig ungerechtfertigt wäre aber, diesem Abend nur zu bescheinigen, dass er angesichts der erheblichen Probleme auf den letzten Metern dann doch gut gelungen sei. Es hätte dies alles schlichtweg niemand bemerkt, auch nicht die Indisponiertheit des Telramund, auf die der Geschäftsführende Theaterdirektor Caspar Sawade vor Beginn entschuldigend verwiesen hatte. Kleine Nervositäten waren nur geringfügig spürbar und verflogen rasch.

Das Ganze beginnt wie ein Horrorstück, weil Ortrud dem kleinen Gottfried die Kehle durchschneidet, während Elsa schläft. Dem Schwan bricht sie den Hals und wirft beide Leichname in eine Art Kellerloch mit Klappe. Bei dieser dramatischen Vorlage entsteht bereits eine ungeheure Spannung, denn man fragt sich, wie der tote Junge am Ende zum Herzog von Brabant ausgerufen werden soll.

Lohengrin, Theater Lübeck 2022, Photos: Jochen Quast

Die Brabanter sind eine heruntergekommene Gesellschaft mit dreckigen, schwarzgrauen Lumpenklamotten, die man förmlich stinken sieht, während die gepflegten Sachsen an Parteifunktionäre auf einem zünftigen Jagdausflug erinnern. Ortrud und Telramund sind Edelpunks, vor allem der Graf hart an der Grenze zur Schmierigkeit. Eigentlich hätte diese Produktion auch „Ortrud und Telramund“ heißen können, denn man merkt, dass der Personenregie dieser Antagonisten zu den Lichtgestalten Elsa und Lohengrin eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Beide sind brillant, Bea Robein spielt und singt diese Königin der Finsternis mit hintergründiger Bosheit, ihre ausdrucksstarke Stimme klingt oft schneidend, hervorragend passend zur Rolle. Anton Keremidtchievs Telramund möchte man ungerne in einer Vorstadtunterführung begegnen. Besonders überzeugend ist er in den Parlando-Teilen, was dem Text eine großartige Unmittelbarkeit verleiht und die Rolle mit aggressiver Kraft füllt. Gerade in den Duetten ist die psychologische Tiefe dieser abgründigen Charaktere beängstigend spürbar.

Lohengrin, Theater Lübeck 2022, Photos: Jochen Quast

Anna Gablers Elsa ist eine märtyrerhafte, unterdrückte Frau, deren Lächeln zwischen Traumsichtigkeit und Irrsinn oszilliert. Die Sängerin hatte, wie sie im Gespräch auf der Premierenfeier verriet, die Rolle neun Jahre nicht gesungen. Davon ist nichts zu bemerken, denn ihre Gebrochenheit und Angst, ihre hoffnungsvolle Sehnsucht und schließlich der innere Zusammenbruch erhalten durch ihren Vortrag und Ausdruck eine greifbare, ja schmerzende Intensität.

Peter Wedd als Lohengrin erscheint mit Knall, Rauch und stiebenden Schwanenfedern; er hat etwas von einem Spieler oder Heiratsschwindler. Auch er gibt alles mit größtem Einsatz und verleiht dem ursprünglich so hehren Schwanenritter eine faszinierende Vielschichtigkeit. Die ist auch in der Gralserzählung zu erleben, die er ganz zart beginnt, um sich dann mit immer stärkerem Ausdruck und Crescendo zu steigern. Wedd ist alles andere als ein knabenhafter Lohengrin, seine Stimme changiert zwischen kraftvoller Präsenz und glaubhafter Resignation am Ende.

Rúni Brattaberg ist ein bewährter Bass des Hauses, sein König Heinrich hat als opportunistischer Machtmensch einen Hang zu Spiel und Suff. In den Tiefen ist er wie immer großartig, aber er flattert in den höheren Lagen, was ihm beim Schlussapplaus einige „Buhs“ einbringt. Nun sollten wir Kritiker in diesen Zeiten aber auch gerne etwas vorsichtig sein und sich bei Gelegenheit erkundigen, ob einige der Sänger nicht mit Nachwirkungen einer Corona-Erkrankung zu kämpfen haben, was auch hier der Fall ist. Also – Nachsicht ist im Zweifelsfalle geboten.

Jacob Scharfman als Heerrufer ist ein arroganter Gehilfe der Macht, der sich gerne selbst Wichtiges verkündigen hört, natürlich immer im schicken Anzug. Dieser hoffnungsvolle junge Neuzugang des Lübecker Theaters verfügt über eine grandiose Bühnenpräsenz und vollen, starken Bariton.

Die brabantischen Edlen und die Edelknaben stehen weitab jeglichen Adels, Erstere sind zerlumpt wie der Rest des in die Subkultur abgerutschten Herzogtums und dargestellt von Gustavo Mordente Eda, Noah Schaul, Laurence Kalaidjian und Christoph Schweizer. Zweitere sind, wie Stefan Vladar so schön sagt, eher Edelzicken, nämlich manchmal frech-aufsässige, manchmal anteilnehmende Punk-Mädels, kokett gespielt von Theresa Meinig, Nataliya Bogdanova, Frederike Schulten und Iris Meyer. Diese acht Stimmen sind alles andere als zweite Garde, auch die Nebenrollen sind in dieser Produktion erstklassig besetzt.

Von erster Klasse, ja überragend ist der Chor bzw. sind die Chöre unter der Leitung von Jan-Michael Krüger; der „Lohengrin“ ist ja Wagners Chor-Oper schlechthin. Was besonders neben der Stärke, die das Publikum förmlich mit Wucht in die Sessel drückt, beeindruckt, ist die beständige Interaktion aller Mitwirkenden. Das ist das Gegenteil von Statik, denn jede und jeder wird als Individuum mit eigenen Regungen sichtbar. Es gibt aus der Menge mitunter Gelächter und Zwischenrufe, was aber nie stört, sondern immer völlig organisch und lebendig, vor allem handlungsfunktional wirkt.

Und natürlich das wunderbare Orchester unter Vladars Leitung – das zaubert schmelzenden, vollen Wagner-Klang, weitab von jeglichem Pathos, was durch die Regie-Einfälle kongenial ergänzt wird. Beim Vorspiel zum dritten Aufzug ist die Hochzeitsfeier in vollem Gange, nein – es ist ein wüstes Gelage mit einem König, der Hose und Würde verloren hat, die starken Blechfanfaren wirken wie eine Parodie. Vladars Dirigat ist bewährt leidenschaftlich und fein auf die einzelnen Instrumente abgestimmt; besser kann man das auch in Bayreuth kaum hören.

Gleiches gilt für Pilavachis Inszenierung mit all seinen charakteristischen Einfällen und Überraschungen. So portraitiert Lohengrin zu Beginn der Hochzeitsnachts-Szene Elsa, die dabei kindlich herumalbert. Beinahe alle Mitwirkenden in dieser Produktion wirken irgendwie unseriös, auch der Schwanenritter ohne Schwan, dafür mit weißem Dinner-Jacket und schwarzer Fliege. Aber in dieser Szene zeigt sich wirklich eine zarte Nähe, ja tiefes Interesse an Elsa und ihrer Schönheit. Allein, es bleibt bei der Zeichnung, die Elsa dann in der Frageszene zerreißt.

Lohengrin, Theater Lübeck 2022, Photos: Jochen Quast

Wie ein Vorbote auf ein brutales Ende wirkt die weiße Hochzeitstorte, die mit ihren blutrot verlaufenden Fruchtschichten farblich an einen geschlachteten Schwan denken lässt. Ja, und dann ist da das geisterhafte Kind, das wie in einem Gruselfilm immer wieder durch die Szene geht, Schwanenfedern wie Hochzeits-Blütenblätter streuend, still und bleich.

Getreu der dystopischen Grundstimmung fällt das Ende dieses „Lohengrin“ düster, ja katastrophal aus. Aus Wut darüber, dass Elsa durch ihre zweifelnde Frage den hehren Helden vertrieben hat, durchbohren die Brabanter sie mit dem Schwert. Der durch all die Anstrengung und Enttäuschung psychisch und physisch ruinierte Lohengrin öffnet schließlich die Klappe und holt einen Gottfried in Ritterrüstung heraus. Es kann nur klar sein, dass dies ein Traumbild ist, aber die beklemmende Szene wird noch gesteigert, als das Kind eine Handgranate hervorholt und den Zünder zieht. Ein Aufschrei aus der Menge – Dunkelheit, Vorhang.

Konnte das Publikum mit dem begeisterten Applaus nach dem ersten und zweiten Aufzug kaum warten, herrschte nun Schockstille, dann brandete der Beifall auf und endete in langanhaltenden, stehenden Ovationen.

Zur Deutung des nicht einfach zugänglichen Endes gab es anschließend lebhafte Diskussionen. Offenbar sind hier alle Illusionen zerstört, es gibt keine Rettung oder Erlösung, nur Tod und Resignation. Verstörend war allerdings auch der Abgang des Regisseurs, denn der huschte nur kurz auf die Bühne, um sogleich wieder zu verschwinden. Auch auf der Premierenfeier fehlte er als einziger. Dabei hätte er sich unzählige „Bravos“ abholen können, aber er war offensichtlich nicht zufrieden. Schade, denn dadurch düpierte er Mitwirkende und Publikum. Und darunter befanden sich viele echte Fans, die seine Rückkehr nach Lübeck lange ersehnt hatten

Um an dieser Stelle die Härte und Düsternis zu brechen, sei an die Aufführung erinnert, in der Leo Slezak der Schwan auf der Bühne vor der Nase weggezogen wurde und er den Kulissenschieber fragte, wann denn der nächste Schwan ginge. Allen, die großartig gespielte Wagner-Musik mit grandiosen Solistinnen und Solisten, einem phantastischen Orchester und einer einzigartigen Inszenierung erleben wollen, sei dringend angeraten, sich nach dem nächsten Schwan nach Lübeck zu erkundigen. Die folgenden drei Vorstellungen sind am 18. September, am 2 und am 16. Oktober.

Dr. Andreas Ströbl, 5. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Lohengrin, Matinee vor der Premiere Theater Lübeck

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