Michael Nagy, Amfortas © Sandra Then
Während im ersten Akt die Regie Michael Thalheimers noch starke Bilder zeigt, vermag sie im Laufe des Abends immer weniger zu überzeugen und verstrickt sich in konzeptionelle Schwächen und Widersprüche. Unter der Leitung von Axel Kober bleibt die Musik Wagners aber unverwüstlich. Positiv an der eher statischen Personenführung ist, dass es für den Chor und für die Solisten optimale Voraussetzungen für den Gesang schafft. Die musikalische Darbietung der Düsseldorfer Symphoniker ist auf exzellentem Niveau. Großartige Leistungen erbringen auch der Chor und insbesondere die Solisten in den Hauptrollen, allen voran der umwerfende Hans-Peter König als Gurnemanz.
Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf, 15. Oktober 2023
Richard Wagner
Parsifal, Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Besetzung
Parsifal: Daniel Frank
Gurnemanz: Hans-Peter König
Kundry: Sarah Ferede
Amfortas: Michael Nagy
Klingsor: Joachim Goltz
Titurel: Luke Stoker
Erster Gralsritter: Andrés Sulbarán
Zweiter Gralsritter: Žilvinas Miškinis
- Knappe: Bogdana Bevziuk
- Knappe: Verena Kronbichler
- Knappe: Nils Sandberg
- Knappe: Johannes Preißinger
Blumenmädchen Gruppe 1: Elena Sancho Péreg, Mara Guseynova, Alexandra Yangel
Blumenmädchen Gruppe 2: Lavinia Dames, Anke Krabbe, Anna Harvey
Stimme aus der Höhe: Anna Harvey
Chor der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker
Musikalische Leitung: Axel Kober
Chorleitung: Gerhard Michalski
Inszenierung: Michael Thalheimer
von Petra und Dr. Guido Grass
Dunkel war alles und leer. Die Ouvertüre beginnt, mehr braucht es nicht, die Musik sagt alles. Doch schon bald ward Licht auf der Bühne. Parsifal tastet sich durch einen Mauerspalt in die Welt. Mit den Händen vorsichtig suchend tappst er, der Held in Feinripp-Unterwäsche gekleidet, umher. Zunächst noch wie blind, dann öffnet sich sein Blick und Staunen erfasst ihn, während die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Axel Kober in unseren Köpfen ein Waldidyll mit See malen. Hoch oben im Berg geht über der Burg Monsalvat die Sonne auf. Einfach schön, diese Konzentration auf die Musik, kein Bühnenbild, kein Video stört die eigene Fantasie.
Obwohl Hans-Peter König als Gurnemanz in blutgetränkter Schlabberhose und auf Krücken auf der Bühne humpelt, ist er trotzdem eine stattliche Erscheinung. Sein Bass strömt kraftvoll, autoritär und väterlich warm. Altersweise erzählt er hervorragend verständlich die Vorgeschichte.

Mit sirrenden Violinen taumelt Sarah Ferede als Kundry durch den Mauerspalt rückwärts auf die Bühne. Heilenden Balsam bringt sie Amfortas. Die wiedergeborene Herodias, jetzt Kundry, verhöhnte Jesus Christus am Kreuz und lässt sich nun in ihrem schwarzen Hosenanzug lasziv rauchend am vorderen Bühnenrand nieder. Verführerisch schön, an Carmen erinnernd, sitzt sie dort.
Die lange Erzählung Gurnemanz wird dramaturgisch geschickt umgesetzt, da Kundry den Text pantomimisch darstellt. Sarah Ferede, die dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein angehört, singt die Rolle souverän. Ausdrucksstark dringt ihre Stimme in die Tiefe. Strahlend ist ihr Mezzosopran in der Höhe.
In der minimalistische Inszenierung werden fast alle Symbole des von Wagner als „Bühnenweihe“ angelegten Festspiels wegrationalisiert. Der heilige Schwan, den Parsifal nichts ahnend, erschießt, wird erstaunlich eindrucksvoll von Gurnemanz gespielt, der seine Krücken schwingend das heilige Tier mimt.
Tumult im Lazarett
Beim Einzug der Ritter, ein abgewrackter Haufen Verwundeter in blutgetränkten Schlabberleinen, bleibt nur ein Symbol: das Kreuz. Blut strömt in Hülle und Fülle und wird an die Wände geschmiert. Alle leiden mit Amfortas (Michael Nagy), der durch den von Klingsors Hand geführten Speer verwundet wurde. Die Wunde wird sich erst wieder schließen, wenn nämlicher Speer sie erneut berührt. Bis dahin gibt nur der heilige Gral Linderung, aber auch Unsterblichkeit.
Luke Stoker, den wir noch aus seiner Kölner Zeit in guter Erinnerung haben, tönt mahnend als Stimme des Titurel. Sein Bass hat kein Problem aus dem Bühnenhintergrund verständlich durchzudringen. Ihn werden wir nicht zu Gesicht bekommen, lebt Titurel doch in seiner Gruft und droht zu sterben, wenn sein Sohn Amfortas nicht mehr den Gral enthüllt. Amfortas steht so in einem Dauerkonflikt zwischen dem Wunsch, sein Leiden endgültig durch seinen Tod zu beenden, und der Verpflichtung, als Gralskönig die Gemeinschaft am Leben zu erhalten. Michael Nagy verkörpert die Rolle des Amfortas absolut glaubwürdig. Dabei hütet er sich, seinen angenehmen Bariton ins hässliche abgleiten zu lassen. Er hat genügend Kraft, die Nuancen im gut verständlich bleibenden Gesang auszudrücken.
Die Situation der zerlumpten Ritterschaft droht zu eskalieren. Blutkonserven zerbersten an den Wänden. Nur der Gral kann helfen.
Der Chor bringt die Rettung
Himmlisch erschallt der unsichtbare Chor aus der Höhe, ein Lichtkegel erscheint im Nebel. Die Mischung aus Orchestermusik und Engelsstimmen verfehlt seine Wirkung nicht. Dies ist hörbar gut einstudiert (Chorleitung: Gerhard Michalski). Wackeln anderenorts bei Chören in der Distanz schon mal die Einsätze, bleiben hier Orchester und Gesang gut beisammen. Die Ritterschaft erstarkt und singt von feuriger Kampfeslust im Verein. Beim Auszug hinterlassen sie eine Friedhofslandschaft aus roten Kreuzen, die sie mit blutigen Händen an die Wand gemalt hatten – ein starkes Bild.
Parsifal, der Tölpel, hat alles am Bühnenrand sitzend beobachtet und schaut einfältig erstaunt. „Weißt du was du sahst?“, fragt ihn Gurnemanz. Entnervt von soviel Torheit schickt er ihn fort.
Der zweite Akt wird zum Krimi
Lebhaft führt das Orchester im zweiten Akt unser inneres Auge in den wunderbaren Zaubergarten Kingsors, den er in der Wüste hat aufblühen lassen. In Düsseldorf bleibt dieser zappenduster: Diabolisch erscheint Klingsor im lila Lackmantel. Joachim Goltz lässt mit seinem starken und beweglichen Bariton keinen Zweifel an seiner Macht. Wie ein Zuhälter behandelt er Kundry, die es mit deutlichem „Ich will nicht!“ ablehnt, Parsifal zu verführen. Beide bringen stimmgewaltig und emotional durchdringend den Konflikt auf die Bühne.
Nur die Blümchenkleider des Chores auf der Empore bringen etwas Farbe in den Garten. Zusammen mit den Blumenmädchen locken und foppen sie Parsifal, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht, bis sich der ganze Kuddelmuddel endlich auflöst im zuckersüßen „Komm, komm, holder Knabe!“ Das ist nicht nur schön gespielt, sondern ebenso schön gesungen. Bei den verlockend hellen Gesängen der Blumenmädchen kann man eigentlich nur schwach werden. Sirenengleich ziehen sie uns jedenfalls in den Bann.

Daniel Frank als Parsifal kann im zweiten Aufzug seine Fähigkeiten voll ausspielen, sowohl darstellerisch, als auch sängerisch. War er im ersten Akt noch (zurecht) zurückhaltend, darf sein Heldentenor in der Szene mit Kundry strahlen und den Raum füllen.
Nur kurz währt die heitere Stimmung, denn schon erscheint nun ganz in Rot Kundry mit einer Pistole bewaffnet und ruft den unwissenden Toren bei seinem Namen: Parsifal! So ist er von seiner Mutter genannt worden, an die er sich liebevoll erinnert. Kundrys Avancen erwehrt er sich, lässt sich dennoch zu einem Kuss hinreißen. Parsifal entdeckt seinen eigenen freien Willen und verspricht auch Kundry Befreiung.

Warum Kundry in dieser Szene völlig unmotiviert mal Parsifal mit der Waffe bedroht, mal lustvoll mit dieser spielt und mal wahllos sich selbst oder Parsifal zu töten beabsichtigt bleibt unaufgelöst.
Nun naht der Moment, in dem die Inszenierung endgültig in diametralen Gegensatz zu Wagners Intention driftet: Kundry erschießt Klingsor. Man mag es als feministischen Akt, Befreiung von der Herrschaft Klingsors oder schlicht als Rache verstehen. Auch der Gedanke, dass Kundry die eigentliche Erlöserin ist und nicht Parsifal, scheint gar nicht so abwegig. Schließlich wird durch ihren Kuss Parsifal erst welthellsichtig und blutet, jetzt empathisch geworden, auch. Doch hat die primitivste Form der Konfliktbewältigung – Gewalt wird mit Gewalt beantwortet – keinen Platz in Wagners letztem Werk: Mitleid – und nicht Gewalt – bringt die Erlösung.
Noch dazu führt dies zu einem dramaturgischen Problem, in das sich Thalheimer hoffnungslos verheddert, eine Falle, aus die er nicht mehr herauskommt. Er beraubt Parsifal, aber auch Kundry einer sinnvollen Funktion im dritten Akt. Den wollten schon einige gar nicht mehr sehen, wie die leeren Plätze nach der zweiten Pause vermuten lassen. Schade, denn der musikalische Höhepunkt kommt erst noch.
Die Musik ist stärker als Wort und Bild
Nach dem Bruch im zweiten klaffen im dritten Aufzug Text und Inszenierung völlig auseinander. Die besonders intensive Verknüpfung von Musik, Text und Handlung machen Wagners Opern aus. Da aber die Musik stärker als alles andere über das Unbewusste wirkt, können auch sinnfällige Bilder die in dieser Inszenierung stattfindende Entseelung nicht ausgleichen.
Kammermusikalisch durchsichtig gestaltet Kober die Ouvertüre zum dritten Aufzug. Zweifelnd schaut Gurnemanz auf die weiße, mit verschmiertem Blut getünchte Rückwand. Ferede als Kundry stöhnt und schreit erschreckend echt, wie sie beinahe sterbend dort liegt. Sie hat sich auch sichtbar aus der Herrschaft der Männer befreit, trägt nun Gummistiefel statt High Heels.
Wenn aber Kundry sich im zweiten Aufzug selbst erlöst hat, ergibt es keinen Sinn mehr, dass Thalheimer sie mit Blut die Parole an die Wind schmieren lässt: „Durch Mitleid wissend der reine Tor: Parsifal“. Wieso braucht sie noch die Erlösung? Und wieso soll Parsifal sie bringen?
Parsifal schleppt sich mit letzter Kraft, den Speer als Gehstütze benutzend zurück zu den Gralsrittern. Sein Gesicht ist wie das des Jokers aus den Marvel-Comics geschminkt. Mit ihm hat jedoch weder die Figur des Parsifal, noch die vom Regisseur gewollte Darstellung desselben etwas gemein.

Dass Thalheimer weder die Salbung Parsifals, noch die Taufe Kundrys vollziehen lässt, ist im Versuch beinahe alle religiösen Symbole aus der Inszenierung zu verbannen nur konsequent. Hierdurch entstehen jedoch immer größere Widersprüche der gezeigten Handlung zum Text und – wichtiger noch – dem musikalischen Gehalt.
Parsifal bleibt geschwächt und bedarf des ermutigenden Trostes Kundrys. Es ist einer der vielen widersprüchlichen Momente der Inszenierung. Im Programmheft führt Thalheimer hierzu aus, dass Parsifal nicht verstünde, was hier passiere. An anderer Stelle betont er jedoch, wie viel ihm die Szene bedeute, in der Parsifal durch den Kuss hellsichtig wird. „Was denn nun?“, möchte man dem Regisseur zurufen.
Der von Parsifal wiedergewonnene Speer scheint auch bei Amfortas nicht die erwünschte Wirkung zu zeigen. Parsifal und Amfortas humpeln sich gegenseitig stützend über die Bühne.
Statt des Grals erscheint ein Lichtkegel, in dem sich Parsifal abschminkt und wenigstens etwas zu Kräften zu kommen scheint. Er lässt also die Maske fallen – wird er wieder er selbst, der reine Tor? Was aber war er vorher? Eine Wirkung auf alle andere Bühnenpersonen hat der Gral übrigens nicht. Auch Kundry bleibt starr vor der blutverschmierten Wand verwurzelt, wohl doch nicht erlöst.
Erlösung bringt der Klang
Und all dies zu einer Musik, derer Kraft man sich nicht erwehren kann, die Trost und Hoffnung spendet, die wir mehr denn je brauchen. Wie himmlisch singt wieder der Chor, wie tröstend die Stimme von oben. Wie genial lässt Kober den Schlussakkord im Orchester erklingen!
Wenn Thalheimer im Interview ausführt, dass er „die Handlung […] so einfach wie möglich erzählen [will] – etwa so, als wenn ich sie einem Kind erzählen würde“, fragt sich, welches Kind die von ihm entleerte Geschichte verstehen soll. Wenigstens ist die Aufführung erst ab 16 Jahren empfohlen.
Parsifal ist kein einfach zugängliches Werk. Die von Schopenhauer inspirierte Philosophie des Mitleids und Erlösung mag man kritisieren. Doch ist diese keineswegs die Idee eines Toren. Gerade in diesen Zeiten sollten wir über das Motiv des Mitleids nachdenken. Diese Philosophie hat uns auch und gerade heute noch etwas zu sagen. Schade, dass sich Thalheimer dem zu verweigern scheint.
Den Abend rettet allein die Musik, die uns von der Inszenierung erlöst. Kober führt das Orchester mit sicherer Hand. Ihm gelingt die Quadratur, die komplexe Partitur durchsichtig zu gestalten, so dass die verschiedenen, sich oft durchmischenden Motivlinien erkennbar bleiben, und zugleich einen einfangenden Gesamtklang zu erzeugen. Dies ist auch den guten Orchestersolisten zu verdanken. Der lang gehaltene klare Ton der Trompeten im Schlusstakt klingt noch immer in unseren Ohren.
Großer Applaus für den Chor und die Solisten zum Schluss. Zurecht fällt dieser für Hans-Peter König als Gurnemanz besonders kräftig aus. Mit nie nachlassender Kraft und Wärme hat seine Stimme durch den gesamten Marathon seiner Rolle getragen. Noch hörbarer ist nur der Jubel für den Dirigenten des heutigen Abends, Axel Kober – auch dies völlig berechtigt.
Im kommenden Frühjahr gibt es noch zweimal die Gelegenheit, in Düsseldorf das Werk zu hören. Aus musikalischer Sicht können wir dies uneingeschränkt empfehlen.
Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 19. Oktober 2023
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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