Wagners Parsifal in Minden eröffnet die Saison 2023/24 im neu gestalteten Stadttheater

Richard Wagner, Parsifal  Stadttheater Minden, 8. September Premiere

Schlussbild Parsifal, 3. Aufzug © Christian Becker

Stadttheater Minden, 8. September 2023 Premiere

Richard Wagner
Parsifal

Das Bayreuth des Nordens berauscht mit einer werktreuen Inszenierung

von Patrik Klein

Wo ist der Welterlöser? „Salvator mundi“, das teuerste Gemälde der Welt von Leonardo da Vinci befindet sich (wahrscheinlich) im Besitz des saudischen Prinzen Salman und bleibt somit für die Augen der Welt „verborgen“. Dieses Gemälde bildete das Schlussbild der umjubelten Premiere in Minden. Fünf Stunden spannendes Musiktheater mit starken musikalischen und schauspielerischen Leistungen lagen hinter dem begeisterten Wagnerfreund.

Am Nachmittag der Vorstellung erblickte man in der spätsommerlichen Hitze gut gekleidete Zuschauer, die durch den Ort schlenderten und zu den hell leuchtenden weißen Fassaden des frisch renovierten schmucken Stadttheaters pilgerten. Man erblickte Damen in Abendgarderobe, Herren zumeist in schmuckem Anzug oder Smoking, erlebte auf dem Balkon des Stadttheaters den Bläserchor der Schaumburg-Lippischen Landeskirche, der ganz wie in Bayreuth mit jeweils drei Fanfaren die Pausen beschloss und zum Einsteigen ins Abenteuer Wagner aufforderte. Im Foyer wurde man von freundlichen Helfern begrüßt, bekam ein Programmheft und schnupperte an den neuen Gegebenheiten des Hauses. Man durfte sich beinahe wie auf dem Grünen Hügel in Oberfranken vorkommen.

Man betrat den Zuschauerraum und stand vor der Bühne. Kein Orchestergraben trennte das Publikum vom Geschehen. Die eigentliche Bühne, die Fläche, die dort hauptsächlich bespielt wurde, hatte die Grundfläche eines wohlbemessenen Wohnzimmers, nämlich exakt 43 Quadratmeter. Das Orchester saß dahinter auf der Bühne, abgeteilt durch einen Gazevorhang, der auch als Projektionsfläche für die handlungsunterstreichenden Videos diente.

1. Aufzug, Parsifal und Gurnemanz © Christian Becker

Nach dem Abschluss der zyklischen Aufführungen des Rings von Richard Wagner im Herbst 2019, wo sich Zuschauer und Presse darüber einig waren, dass hier allergrößte Kunst in der beschaulichen Kleinstadt an der Weser über die Rampe ging, fragte man sich: War es das? Konnte da noch irgendetwas kommen? Konnte man hier diesen Wagnerflow seit 2002 überhaupt noch fortführen oder sogar steigern?

Es rumorte in der Wagnergemeinde, ob Wagnerianer oder begeisterter Musikliebhaber, Mindener Bürger oder von weit her angereister Pilger. Wagners allerletztes Werk bot sich an, welches bisher noch nicht gespielt wurde. Eigentlich sollte Schluss sein, so verlautete es aus der Chefetage des Richard Wagner-Verbands Minden, der nach dem Fliegenden Holländer 2002, Tannhäuser 2005, Lohengrin 2009 und Tristan und Isolde 2012 sowie den vier Teilen des Ring des Nibelungen von 2015 bis 2019 eine mehr als erfolgreiche Serie wichtigster Werke Wagners mit viel Engagement und finanziellem Risiko auf die kleine Mindener Bühne wuchtete.

Dann kam die Pandemie und legte alle aufkommenden Gedanken und Pläne zunächst auf Eis. Hinter den Kulissen wurde aber heftig an der Umsetzung der Idee mit dem Bühnenweihfestspiel gearbeitet.

Für den Start in die Saison 2023/24 am 8. September 2023 planten der Wagner-Verband Minden, das Stadttheater und die Nordwestdeutsche Philharmonie in bewährter Partnerschaft die Fortführung dieses erfolgreichen Wagnerprojekts, nachdem nun auch das Stadttheater im neobarocken Stil aus der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts mit rund 500 Zuschauerplätzen nach einer aufwändigen Renovierung in neuem Glanz erstrahlte.

Nach Wagners Willen sollte sein letztes Werk eigentlich nur noch im Festspielhaus in Bayreuth zur Aufführung gelangen. Bereits nach wenigen Jahren wurde diese Verfügung jedoch gebrochen. Parsifal nahm nicht als Opern- oder Musikdrama, sondern als „Bühnenweihfestspiel“ eine außergewöhnliche Stellung ein. Im Parsifal wurden alle Elemente seines die Opernwelt revolutionierenden Komponierens noch einmal zusammengetragen. Mystische, literaturhistorische und philosophische Aspekte verweisen in Parsifal rückblickend auf etliche Figuren seiner früheren Opern.

2. Aufzug, Parsifal mit Blumenmädchen © Christian Becker

Der international erfahrene Regisseur und Intendant an der Oper in Lausanne Eric Vigié, der bereits Parsifal und andere Opern Wagners an europäischen Bühnen erfolgreich inszenierte, arbeitete erstmalig in Minden und war sogleich für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich.

Im Vorfeld der Premiere des Parsifal verkündete er:

 „Die Musik wird im Zentrum unserer Produktion stehen. Wir erzählen keine neue Geschichte, weil ich Revisionismus nicht mag. Es wird aber neue Blickwinkel geben! Die Herausforderung wird sein, das Bühnenweihfestspiel auf die besonderen Bedingungen des Hauses in Minden mit dem Orchester auf der Bühne, davor dem Gaze Vorhang und der kleinen Bühnenspielfläche von nur rund 40 Quadratmetern ohne szenischen Chor abzustimmen.“

Parsifal – ein Stück über Weltverbesserung, nicht über Religion im klassischen Sinne.

Stattdessen erlebte man auf der Bühne so etwas wie die Kopie von Religion. Im Gegensatz zum kirchlichen Sinne, in dem die Oblate zum Leib Christi gewandelt wird, gab der Gral den Rittern etwas. Er gab der Gemeinschaft Kräfte, die dazu dienten „Werke zu Wirken“. Es ging also darum, die Welt besser zu machen und nicht etwas anzubeten. Kunstreligion ohne Transzendenz sozusagen.

Das Bühnenweihfestspiel wurde von Eric Vigié und seinem Team (Video: Gianfranco Bianchi, Licht: Hermenegild Fietz) ohne Decouvrierung und Verfremdung präzise und sehr individuell als Tragikomödie, als Anlehnung an die Comédie Française mit operettenartigen Facetten aufgefasst. Dabei spielten in den drei Akten vor allem der Speer und der Gral wichtige Rollen. Der Gral bedingte den Speer, der fast den ganzen Abend als Requisit auf der Bühne präsent gewesen war. Dabei versuchte der Regisseur zu klären, woher Gral und Speer kamen. Kundry wurde in allen drei Akten unterschiedlich und individuell skizziert nämlich als Büßerin, Verführerin und Dienerin. Glanz trat in den Vordergrund durch das kammermusikalische Agieren, Schauspielern und Singen der Protagonisten. Man hatte intensiv geprobt in den letzten Wochen und kaum Ablenkung durch weitere Engagements erfahren.

3. Aufzug, Parsifal und Gurnemanz © Christian Becker

Bereits im Vorspiel wurde nicht nur musikalisch geklärt, wie es zu der ungünstigen Lage der Gralsritterschaft kam. Wolkenumfangen wanderten die Augen über die Videoleinwand, der abgesenkte Orchestergraben brachte beim langsamen Hochfahren agierende Personen oder Gegenstände in die Szenerie. In den drei Aufzügen hatte der Kopf des Römers, der damals Jesus die Wunde mit dem Speer zufügte, in Form einer überdimensionalen Skulptur, zum Teil mit offenem Blick auf dessen Gehirn, die Bühne bestimmt. Im zweiten Aufzug bei Klingsors Gegenwelt mutierte er zum riesigen Totenkopf und im finalen Teil lag er in Trümmern vor den zu erlösenden Gralsrittern.

Auch die Figuren wandelten ihre Gestalt und die mit ihnen verbundenen inhaltlichen Bezüge von Szene zu Szene. Kundry wurde an einem roten Band, einer Art Blutspur vom Speer ausgehend zu ihren unterschiedlichen Charakteren geführt. Am Ende wurde sie erlöst und legte sich zu dem im Sarg aufgebahrten Titurel. Die Gruppe der Blumenmädchen umgarnten den Titelhelden auf einem knallroten zu einem Kussmund geformten Sofa wie in einer Cabaret Nummer.

Welthellsichtig wurde Parsifal in den Armen Kundrys, tötete Klingsor und raubte den Speer für Amfortas. Das Ende kennen wir… Kennen wir es wirklich oder wollte das Schlussbild „Salvator mundi“ uns sagen, dass die „Welterlösung“ im Verborgenen bleibt und zu unser aller Auftrag wird?

Die Geschichte des Dichters und Komponisten Richard Wagner wurde erzählt, dargestellt in leuchtenden Bildern und Sphären immer mit einer atemberaubenden Relevanz zum Text. Das war für den erprobten, modernes Theater gewohnten Zuschauer eine mehr als erfreuliche Konsolation.

Musikalisch durfte man Erfreuliches zu Ohren kommen lassen: Die Titelrolle stellte der junger Finne, Jussi Myllys, der gerade in seiner Heimat den Fachwechsel zum dramatischen Tenor vollzieht, mit leichtem, lyrischem Schmelz und feinem  dunklem Timbre, aber auch kräftigen Ausbrüchen eines Spintotenors nahe dar. Der junge Mann ist fest engagiert im Ensemble der Deutschen Oper am Rhein und machte in dem kleinen Haus in Minden bei seinem Debut als Parsifal einen souveränen Eindruck durch enorm schöne Gestaltung, Phrasierung und Intonationsgenauigkeit. Zu Recht wurde er vom Publikum am Ende stürmisch gefeiert.

Die französische, einstige Mezzosopranistin und mittlerweile Sopranistin Isabelle Cals sang die drei unterschiedlichen Frauencharaktere der Kundry mit eindringlicher Präsenz. Für diese Rolle aus dem Zwischenfachrepertoire war sie gut disponiert und gestaltete die Partie mit lyrisch dramatischer Stimmführung und zart angedeuteten dunklen Farben.

Sein Debut als Gurnemanz wurde für den belgischen Bass Tijl Faveyts, bekannt u.a. aus dem Mindener Ring als Hunding und Fasolt, zum Triumph. Der häufig an der Komischen Oper in Berlin beschäftigte Bassist überzeugte mit profunder Tiefe, dunkelsten Farben, bronzenem Timbre, guter Textverständlichkeit und überragender musikalischer wie darstellerischer Gestaltung. Man kann sicher sein, dass man ihn bald an den großen Häusern Europas in dieser Rolle erleben darf.

Als weiteren besonderen und sehr erfahrenen Gast von der Staatsoper Berlin erlebte man den lyrischen Bariton Roman Trekel als Amfortas. Mit Kunstlied-Gestalter-Kompetenz, kraftvoll gaumig knarzend, sein Leiden unter die Haut gehend darstellend, sang er den unglücklichen Gralsritter. Auch er wurde am Schluss besonders vom Publikum gefeiert.

Neu im Ensemble in Minden sang und spielte der junge schwedische Bass John Sax den Titurel, Amfortas Vater. Der freischaffende Künstler, der meist an Häusern seiner Heimatlandes engagiert ist, gab den Titurel mit satter, schwarz gefärbter Tiefe und exakter  Intonation.

Klingsor, der einstige Gralsritterkandidat und Ursache der dramatischen Handlung, wurde von dem an der Oper in Bielefeld engagierten Bass-Bariton Yoshiaki Kimura gesungen, der für den erkrankten ehemaligen Wotan des Mindener Rings Renatus Mészár eingesprungen war. Der junge Japaner, der in Bielefeld den Alberich in dieser Saison geben wird, überzeugte mit emotionaler Präsens und enormer Spielfreude.

Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen waren sehr treffend besetzt mit in Minden bekannten und neuen Solisten, wie dem herausragenden und eher „überbesetzten“ Tenor Willem van der Heyden als Gralsritter 1, Juho Stèn, Nienke Otten, Tiina Penttinen,  Nils Sandberg, Musa Nkuna, Julia Bauer, Christine Buffle, Lilli Wünscher und  Lucie Ceralová.

Schlussapplaus © Patrik Klein

Das Landesorchester NRW Nordwestdeutsche Philharmonie unter der Leitung von Frank Beermann, der bislang alle Wagnerproduktionen in Minden dirigierte und auch schon eine konzertante Parsifalproduktion mit dem Orchester einstudierte, hielt die Aufmerksamkeit der Zuhörer wie erwartet für beinahe fünf Stunden auf allerhöchstem Spannungsniveau und bescherte Wagnerklang vom allerfeinsten in dem akustisch überragend geeigneten Bühnenraum in Minden. Man mochte es, wie zuvor schon beim Ring, oft gar nicht glauben, was einem da zu Gehör kam. Glasklarer und transparenter Klang, aufregend spannungsgeladen musiziert, mit feinsten dramatischen Bögen und aufregendem Tempo ohne zu hetzen, technisch sauber bei Streichern als auch der großen Blechgruppe. Mal waren es schwelgerische Klänge,  gelegentlich auch sachlich kühle, aber immer mit Variantenreichtum, aufbrausender Dramatik und Dynamik.

Die Chorgemeinschaft „Coruso“, mit 49 Profisängerinnen und Sängern aus ganz Deutschland bereits aus der Götterdämmerung dem Publikum bekannt, konnte den hohen Ansprüchen der umfangreichen Szenen mit extremer Polyphonie und etlichen Höhenchören auf der Hinterbühnenumrandung stehend, mit geradezu höchstgenussvollem Ergebnis gerecht werden. Waren Orchester, Chor und Solisten in Momenten von Forte oder Fortissimo gemeinsam aktiv, so wähnte man sich voller Überraschung im Klangrausch wie in einem Opernhaus einer europäischen Großstadt oder gar an der Hauptwirkungsstätte des Meisters in Bayreuth.

Entsprechend enthusiastisch reagierte das Publikum bereits schon in den Pausen und steigerte den Schlussapplaus gar in nicht endenwollende Sympathiebekundungen. Wagnerrausch in Minden kann so schön sein!

Patrik Klein, 9. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Regie, Bühne, Kostüme: Eric Vigié
Video: Gianfranco Bianchi
Licht: Hermenegild Fietz

Musikalische Leitung: Frank Beermann
Landesorchester NRW Nordwestdeutsche Philharmonie

Chorgemeinschaft „Coruso“

Amfortas: Roman Trekel
Titurel: John Sax
Gurnemanz: Tijl Faveyts
Parsifal: Jussi Myllys
Klingsor: Yoshiaki Kimura für den erkrankten Renatus Mészár
Kundry: Isabelle Cals

Gralsritter 1: Willem van der Heyden
Gralsritter 2: Juho Stèn

Knappe 1: Nienke Otten
Knappe 2: Tiina Penttinen
Knappe 3: Nils Sandberg
Knappe 4: Musa Nkuna

Blumenmädchen: Julia Bauer, Christine Buffle, Tiina Penttinen, Nienke Otten, Lilli Wünscher, Lucie Ceralová

Stimme aus der Höhe: Lucie Ceralová

Die Aufführungen des Parsifal im Stadttheater Minden

A-Premiere
Freitag, den 8. September 2023 um 17.00 Uhr
B-Premiere
Sonntag, den 10. September 2023 um 16.00 Uhr
Dienstag, den 12. September 2023 um 17.00 Uhr
Freitag, den 15. September 2023 um 17.00 Uhr
Sonntag, den 17. September 2023 um 16.00 Uhr
Mittwoch, den 20. September 2023 um 17.00 Uhr

Richard Wagner, Parsifal, Tannhäuser Bayreuther Festspiele, 27. & 28. August 2023

Richard Wagner, Götterdämmerung, Stadttheater Minden

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Stadttheater Minden, 8. September Premiere“

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