Parsifal, Hannover © Sandra Then
Richard Wagner, Parsifal
Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Libretto vom Komponisten
Staatsoper Hannover, Premiere am 24. September 2023
Stephan Zilias, Dirigent
Thorleifur Örn Arnarsson, Inszenierung
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Chor, Extrachor und Kinderchor, Statisterie und Bewegungschor der Staatsoper Hannover
von Dr. Andreas Ströbl
Tränenschwer und düster klingen die ersten Takte des zu Herzen gehenden Vorspiels zum „Parsifal“ am 24. September in der Staatsoper Hannover. Dann keimt Hoffnung auf, die den drei Kerzen auf dem Boden der noch vollständig dunklen Bühne entspricht, bis sich die musikalische Einleitung zum Bühnenweihfestspiel in ganzer Größe entfaltet.
Dieser „Parsifal“ ist geprägt durch das Spiel mit Dunkelheit und Licht, einem Spannungsbogen zwischen sinistrer Archaik und kalter Moderne; auf Zauber hofft man vergeblich und religiöse, zumal christiche Rituale sind auf ein Mindestmaß reduziert. Der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson, der den nächsten „Tristan“ in Bayreuth inszenieren wird, setzt auf Dekonstruktion und eine Reaktivierung der Erlösungshoffnung, die Wagners letzte Oper doch im Kern bestimmt. Funktioniert das?
Das Publikum im fast ausverkauften Hannoveraner Haus erwartete sicht- und hörbar mit Spannung diese Premiere und die Pausengespräche waren lebhaft, ja mitunter erregt. Und es gab deutlich vernehmbar einige wenige im Publikum, die ihrem Unmut bereits zwischen den Aufzügen Ausdruck gaben.
Doch von Anfang an: Eine dystopische Stimmung beherrscht die Bühne von Wolfgang Menardi, hohe, schwarze Baumstümpfe wie nach einem verheerenden Waldbrand stehen herum und in der Mitte befindet sich eine Metallrohr-Konstruktion, die im weiteren Verlauf unter anderem als Becken für die Flüssigkeit dient, die das enthält, was die Gralsritter nährt; dann ist es Taufbecken und zwischendrin Versammlungszentrum einer Gemeinschaft, die offenbar an etwas festhält, was irgendwie aus der Zeit gefallen ist. Der Gral ist trotz aller harten Materialität des Gestänges nicht wirklich fassbar; er scheint in dieser Produktion eher als das beschreibbar, was mit Nicht-Loslassenkönnen und der Angst vor der Erneuerung, ja vor der Erlösung verbunden ist.
Arnarsson ist laut Programmheft nicht der Meinung, dass Wagner an Erlösung geglaubt hat. Das, was die Gralsgemeinschaft in ihren festen Formen gefangenhält, ist für ihn ein Sinnbild des Festhaltens an den weltzerstörenden Mechanismen und Prinzipien der fortschreitenden Industrialisierung, durch die wir gerade unseren Planeten und das, was auf ihm lebt, ruinieren – nicht zuletzt uns selbst. Das wird hier sehr deutlich, weil alle ihre Wunden tragen (deutlich sichtbar als herausquellende Organfetzen auf den Kostümen von Karen Briem und Andri Hrafn Unnarson) und vor allem dadurch, weil hier nicht nur Amfortas’ Energie angezapft wird, sondern alle eine Art von Milch, die aus ihren Armen fließt, in das Gralsbecken geben. Auch die Bäume werden wie bei der Kautschukgewinnung angestochen und ihres allerletzten Saftes beraubt. Froh und erfrischt scheint die Gemeinschaft dadurch nicht zu werden, alle Handlungen und Gesten haben etwas Verzweifeltes, das sich in die allgemeine Endzeitstimmung fügt.
Christlich wirkt das alles nicht, denn es gibt keine klassische Amfortas-Christus-Nähe, wenngleich sein Aufgehängtsein und Schweben an Drahtseilen in der Enthüllungsszene zumindest reduzierte ikonographische Assoziationen erlaubt. Die Gralsritter tragen alle Hörner unterschiedlichen Aussehens, was an archaisch-heidnische Riten erinnert; Pan und seine wilde Bocksschar sind hier näher als Jesus und so werden die angeblich keuschen Recken zu tierhaften Geschöpfen, die den haarigen Gesellen aus den Rauhnächten oder den Perchten aus dem alpinen Raum deutlicher verwandt sind als stolzen Rittern in schimmernder Wehr.
Als Höhepunkt der Auto-Aggression schießt der tumbe Parsifal auch keinen Schwan ab, sondern sich selbst – genauer gesagt: sein inneres Kind. Das ist ein Bub, der den jungen Parsifal darstellt und mimisch das wiedergibt, was Marco Jentzsch singt. Der Tenor war als Walther von Stolzing in den „Meistersingern“ in Wiesbaden im Juli viel präsenter zu sehen und vor allem zu hören; er bleibt an diesem Premierenabend ein bisschen hinter seinen Möglichkeiten zurück. Das Textverständnis allerdings ist bei ihm sehr gut, was grundsätzlich für alle Solistinnen und Solisten gilt. Michael Kupfer-Radeckys Amfortas ist voll tiefempfundenen Schmerzes und todessehnsüchtiger Müdigkeit; sein Aufbegehren gegen die Unbarmherzigkeit der dürstenden Meute erzeugt echtes Mitleid – wenn schon weder der Titelheld noch die Gralsgemeinschaft dazu in der Lage sind, so geht es dem Publikum ins anteilnehmende Herz. Bass Shaveg Armasi formt mal einen ganz anderen Gurnemanz, denn das ist nicht der väterliche Alte, sondern ein markiger Macher, der alles im Griff hat – wenn nötig auch mal im Polizeigriff, um einen Gralsritter zur Raison zu zwingen. Fallen mal minutenweise die Übertitel aus, ist das egal, denn man versteht bei ihm jedes Wort. Reagiert er auf Parsifals naive Frage „Wer ist gut?“ durchaus mit lehrerhafter Strenge, so wird er ihm im dritten Aufzug mit lächelndem Wohlwollen trösten.
Die grandioseste Nebenrolle des Abends hat zweifellos Daniel Eggert als Titurel, dessen voller Bass mit echter Grabesstimme aus der Gruft ruft. Mit riesigen Widderhörnen und langem Zauselbart sieht er tatsächlich aus wie eine Gestalt aus Wodans winterlicher Schar.
Einer der Kunstgriffe der Inszenierung ist, dass Amfortas und Klingsor durch denselben Sänger, eben Michael Kupfer-Radecky, verkörpert werden. So sind auch diese beiden Rollen nahe aneinandergerückt; alle haben miteinander und mit dem selbstverschuldeten Unglück zu tun. Der Bariton verleiht dem Zauberer, der wie eine Mischung aus Alice Cooper und Dschingis Khan im angedeuteten Reifrock-Gerüst wirkt, genau die richtige fiese Bosheit. Der Speer ist hier ein phallischer Knüppel, offenbar äußert sich hier bildhaft eine Kritik an urtümlicher Männer-Macht.
Die Blumenmädchen sehen in ihren fleischfarbenen Kopftüchern und den Gewändern, auf die unbekleidete Frauenkörper gedruckt sind, wie nackte Nonnen aus, die in trauriger Langeweile herumsitzen, weil nichts passiert. Das Spiel mit Verhüllung und vorgeblich durchscheinender Körperlichkeit ist offensichtlich plakativ; wirklich erotisch ist hier gar nichts.
Was aber zwischen Kundry und Parsifal passiert, ist voller psychologisch tiefgehender Spannung, von geschlechtlicher Lust bis zu einem Mutter-Sohn-Verhältnis. Irene Roberts gibt die bekennende Sünderin mit aller stimmlicher Größe und Varianz. Kundrys innerste Regungen trägt sie mit Differenziertheit und bewundernswerter Innigkeit nach außen. Wenn sie in aufrichtiger Reue beschreibt, wie sie den gekreuzigten Heiland verlacht hat, stockt der Atem der beklommenen Zuhörerschaft.
Die Tänzerin im Hintergrund hätte man sich allerdings sparen können, denn das ist eine Idee, die offenbar einer Art von horror vacui entsprungen ist bzw. aus der Angst davor, dass die drei Solisten nicht in der Lage sind, die Spannung zu tragen, die sie aber zweifelsohne vermitteln.
Das gilt auch für die Text-Leuchtbänder, auf denen nach Art der Installationskünstlerin Jenny Holzer in roter Lichterschrift ständig englische Verben durchrasseln, wobei das Wort „obey“, also „gehorchen“, inflationär erscheint. Das Ganze wirkt wie eine überflüssige Reminiszenz an eine Kunst, die längst nicht mehr aktuell ist und kommt durch die englische Sprache wie eine Anbiederung an einen sprachlichen Universalismus rüber. Es schafft Unruhe und bietet inhaltlich keine Erweiterung.
Die große Klammer, die alles zusammenhält, ist die überirdisch schöne Musik und nach einigen Unsauberkeiten gerade im Blech während des ersten Aufzugs hat sich das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter Leitung von Stephan Zilias gefangen. Eine gewollte Transparenz, fernab vom Versuch der Imitation eines Bayreuther Mischklangs, führt zu sehr guter Wahrnehmung von Soloinstrumenten und den einzelnen Instrumentengruppen, aber das verzeiht eben keinen Schnitzer. Die gewaltigen Tutti-Stellen geraten alle kraftvoll und überzeugend; alle Mitwirkenden von Chor, Extrachor und Kinderchor singen einerseits fein austariert, andererseits saftig-machtvoll, je nach Größe, Besetzung und Einsatz.
Der dritte Aufzug präsentiert – passend zum ersten – Parsifal als Greis; wiederum singt Jentzsch die Partie und begleitet sein altgewordenes Ich. Das funktioniert tatsächlich, wenn man nichts gegen eine solche Aufspaltung von Figuren in Einzelaspekte hat; man kennt so etwas aus der Verhaltenstherapie.
Eine weitgehende Auflösung der Kongruenz zwischen Text und Handlung muss man verschmerzen können, beispielsweise wenn Gurnemanz „Wie anders schreitet sie als sonst!“ singt und Kundry nur still dasitzt. Es gibt kein Kreuzzeichen, als Parsifal den ohnmächtig gewordenen Zauberer bannt, auch keine Fußwaschung. Dafür agiert der frischgekrönte König wie Johannes am Jordan, indem er gleich mal alles tauft, was so des Weges daherkommt – es sind einige der Ritter, die aber doch allesamt ihre Taufe bereits als Säuglinge erhalten haben sollten. Oder ist diese Gemeinschaft doch rein heidnisch und nur dem Libretto nach eine christlich-ritterliche? Da hakt es semantisch etwas.
Das Abräumen der Bühne vor der abschließenden Szene ist Dekonstruktion für Hartgesottene, denn man hat wirklich Angst, dass diese Musik, die, mal nüchtern ausgedrückt, hochheilig ist, durch die Wegräumaktion gänzlich aufgebrochen, ausgeweidet und zerstört wird. Zumindest die Geräusche hätte man reduzieren können, aber das soll wohl so sein. Dennoch kriegt die Produktion die Kurve durch das letzte Bild, indem wie eine intakte Familie nämlich Kundry, die aus der vorigen Szene türenknallend gestoben war, und die drei Parsifal-Zeitalter-Figuren einander zärtlich begegnen. Der Kreis schließt sich, Parsifal hat zu sich selbst gefunden und kann das Vergangene, Chaotische, Ungeklärte hinter sich lassen.
Sie verschwinden im lichtvollen Hintergrund, nur der Bub bleibt übrig. Der steht nun zur zauberhaften Musik mit erwartungsfrohem Blick auf der leeren Bühne und nun darf man assoziieren: Verbirgt sich dahinter nicht doch das christliche „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“? Oder entspricht dem vielmehr die symbolische Gestalt des Kindes gemäß Nietzsches Verwandlungen des Geistes hin zur Überwindung der Vergangenheit und aller Unzulänglichkeiten, damit zu einer Erneuerung des Seins: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“? Also sprach Friedrich Nietzsche und so ergibt das alles einen Sinn.
Dafür sowie für die sängerischen und orchestralen Leistungen gibt es reichlich und sehr lautstarken Beifall. Einem notorischen Buhrufer, der auch noch an unpassenden Stellen geblökt hatte, wird humorvoll und entschieden begegnet – der Mann hatte zwei hervorragende Gelegenheiten, zwischendrin nach Hause zu gehen, wozu er auch aufgefordert worden war.
Den Schlussapplaus nehmen alle Mitwirkenden – auch das Orchester – auf der Bühne dankbar entgegen und bei Erscheinen des Regieteams mit einigen clownesk-exaltierten Kostümierungen verstummen die hier nachgerade erwarteten Buhrufe. Wer weiß, was solche Leute treibt…
Allen anderen sei diese Produktion mit einigen Einschränkungen durchaus ans Herz gelegt.
Dr. Andreas Ströbl, 25. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die nächsten Vorstellungen sind am 3., 10. und 15. Oktober 2023
Richard Wagner, Parsifal Stadttheater Minden, 8. September Premiere
Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Staatsoper Hannover, 20.10.2017
Werter Kollege,
vielen Dank für Ihre wie immer wunderbar geschriebene Kritik. So eine nuancierte und informierte Auseinandersetzung mit Werk und Inszenierung jenseits des bloßen Nacherzählens von Sängerleistungen vermisse ich im Musikjournalismus allzu häufig.
Freundliche Grüße
Leander Bull