Mit einigem Grausen von solcherart Nabelschau verlässt man nach insgesamt sechs Stunden das Haus an der Bismarckstraße erschöpft, ohne sein Missfallen Herheim ausdrücken zu können, der sich beim Schlussapplaus nicht zeigt. Man sollte an der Deutschen Oper Götz Friedrichs „Ring“ exhumieren!
Deutsche Oper Berlin, Premiere am 12. November 2021
Foto: Deutsche Oper Berlin/Bernd Uhlig
Richard Wagner, Siegfried
Siegfried Clay Hilley
Brünnhilde Nina Stemme
Der Wanderer Iain Paterson
Mime Ya-Chung Huang
Fafner Tobias Kehrer
Alberich Jordan Shanahan
Erda Judit Kutasi
Ein Waldvogel Sebastian Scherer
Inszenierung Stefan Herheim
Dirigent Sir Donald Runnicles
von Peter Sommeregger
Wenn man bereits die ersten drei Opern dieser „Ring“-Neuinszenierung gesehen hat, so hofft man, der „Siegfried“ könnte so schlimm nicht mehr werden. Aber Stefan Herheim, dem offenbar auch die Reste seines ursprünglichen Regie-Talents abhanden gekommen sind, toppt noch einmal alle Schwächen und Absurditäten der bisherigen „Ring“-Teile.
Nachdem immer noch die Musik das Wichtigste an einer Opernaufführung ist, lieber darüber zuerst. Der „Siegfried“ stellt im „Ring“ so etwas wie das Scherzo dar, wenige handelnde Personen, eine übersichtliche Handlung. Mit Iain Paterson als Wanderer erlebt man bereits den dritten Wotan dieses Ringes, und er hinterlässt einen überzeugenden Eindruck. Textdeutlich und souverän porträtiert er den resignierenden Göttervater, seinem Bass stehen durchaus weiche, warme Töne zur Verfügung, ohne dass er im Forte Abstriche machen müsste. Er bietet die vielleicht ausgewogenste Leistung des Abends. Sein Gegenspieler Alberich wird von Jordan Shanahan mit der verlangten Bitter- und Bösartigkeit ausgestattet. Als dritter Bass gibt Tobias Kehrer dem Wurm Fafner das notwendige Format und Volumen.
Ya-Chung Huang überrascht als bösartiger Schmied Mime mit starker Präsenz und bietet Siegfried mit seinem kräftigen Tenor durchaus Paroli.
In der Episodenrolle der Erda lässt Judit Kutasi sonore Urmutter-Töne hören und überzeugt durch ihr Volumen und Timbre.
Der Newcomer Clay Hilley bringt für den Siegfried einen groß dimensionierten Heldentenor mit, der speziell im ersten Akt in dem Schmelz-und Schmiedelied über schier unerschöpfliche Kraftreserven zu verfügen scheint. Ab dem zweiten Akt beginnt er vorsichtiger zu disponieren, nimmt sich etwas zurück. Im besonders fordernden dritten Akt gerät er dann mehr und mehr an seine Grenzen, bleibt aber bis zum Ende sehr präsent und raumfüllend. In der Schluss-Szene trifft er auf die Brünnhilde Nina Stemmes, die sich unüberhörbar im Herbst ihrer Karriere befindet. Noch liefert sie eine souveräne Beherrschung dieser kurzen, aber schweren Rolle, aber manchen Tönen und Phrasierungen fehlt es an der Geschmeidigkeit und dem Glanz vergangener Tage.
Die Stimme des Waldvogels mit einem Knabensopran zu besetzen, war keine gute Idee. Sebastian Scherer, Mitglied des Kinderchores der Chorakademie Dortmund, liefert praktisch sämtliche Spitzentöne ab, die sonst einem Koloratursopran vorbehalten bleiben.
Ob diese Besetzung Stefan Herheims oder Donald Runnicles Idee war, ist nicht bekannt, falsch war sie allemal. Den Eingriffen in die Partituren wird allmählich Tür und Tor geöffnet, ein gestandener Dirigent wie Runnicles sollte sich dem vehement widersetzen. Sein Dirigat überzeugt abermals nicht vollständig, der große, voluminöse Wagner-Klang will sich nicht einstellen.
Zum Ärgernis wird der Abend aber erneut durch Herheims Regie. Läuft der erste Akt noch ohne besondere Auswüchse ab, so schlägt der Regisseur im zweiten kräftig zu. Im „Waldweben“ werden auf einmal zwei Engel sichtbar, die wohl Siegfrieds Eltern Siegmund und Sieglinde symbolisieren sollen. Warum sie dies in Unterwäsche tun müssen, bleibt unklar. Schon bald legt aber auch Mime kurz vor seinem gewaltsamen Ende seine Oberbekleidung ab. Dabei wird es im weiteren Verlauf nicht bleiben. Der etwas quietschig klingende Waldvogel tritt auch szenisch in Erscheinung, gewandet in Feinripp – wen wundert’s.
Im dritten Akt erklimmt Siegfried mit Mühe den absurden Berg von Koffern, der sich als unstimmiges Motiv durch alle vier Opern zieht, um Brünnhilde schließlich im ebenfalls omnipräsenten Flügel schlafend zu entdecken. Der folgende Zwiegesang wird ganz entgegen Wagners Vorstellungen in der Gesellschaft von plötzlich auftauchenden Komparsen absolviert, die eigentlich nur stören.
Als Siegfried schließlich die Hingabe Brünnhildes fordert, bleibt das Paar zwar bekleidet, aber die erwähnten Komparsen legen ihre Kleidung bis auf die Feinripp-Unterwäsche ab und beginnen ziemlich realistisch Kopulation zu simulieren. Unter den sich findenden Paaren sind auch gleichgeschlechtliche Kombinationen zu beobachten, schließlich will man ja am Puls der Zeit bleiben. Mit einigem Grausen von solcherart Nabelschau verlässt man nach insgesamt sechs Stunden das Haus an der Bismarckstraße erschöpft, ohne sein Missfallen Herheim ausdrücken zu können, der sich beim Schlussapplaus nicht zeigt. Man sollte an der Deutschen Oper Götz Friedrichs „Ring“ exhumieren!
Peter Sommeregger, 13. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik- begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt 100: Siegfried Wagner – von der Schwierigkeit, Sohn zu sein
Richard Wagner, Siegfried, Tomasz Konieczny, Stephen Gould, Wiener Staatsoper, 16. Januar 2019
„Siegfried-Idyll“: ein Gedicht zu Wagners Symphonischer Dichtung (Ladas Klassikwelt 72)