Rising Stars 7: Hanna-Elisabeth Müller, Sopran – trittsicher auf dem Weg nach oben

Rising Stars 7: Hanna-Elisabeth Müller, Sopran – trittsicher auf dem Weg nach oben

Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.

Francis Poulenc | La Reine de Coeur | Hanna-Elisabeth Müller & Juliane Ruf bei den Aufnahmen für das gleichnamige, 2020 erschienene Album

von Lorenz Kerscher

Als Hanna-Elisabeth Müller im Februar 2016 als Marzelline in Calixto Bieitos Münchner Fidelio auf einem bühnenhohen Gerüst herumklettern musste, war ihr trockener Kommentar: „Jetzt weiß ich, wofür meine Mitgliedschaft im Alpenverein gut ist.“ Dort hat sie gelernt, dass man für eine große Tour gut vorbereitet und gerüstet sein muss und dass man immer einen sicheren Stand braucht, um gefahrlos den nächsten Schritt zu tun. Also übernimmt sie nur Rollen, von denen sie sicher ist, dass ihre Stimme die erforderliche Reife erreicht hat. „Ich will die Leiter Stufe um Stufe rauf“, sagte sie in einem Interview und bekundete, dass sie für das Studium neuer Partien nach Möglichkeit einen längeren Zeitraum einplant. Dass jeder Schritt sie bislang ein schönes Stück weiter aufwärts führte, ist nicht nur ihrem ganz besonderen Talent zu verdanken, sondern auch dem soliden Fundament gründlicher Vorbereitung für jedes ihrer Engagements.

Ihre Eltern sind keine Musiker, doch sie haben ihren vier Töchtern Instrumentalunterricht bei sehr guten Lehrern ermöglicht. Als Quartett erzielten sie auch einige Erfolge bei Jugend musiziert. Hanna-Elisabeth spielte Geige, doch bald fiel ihre schöne Stimme auf. Sie wirkte in Dannstadt bei dem renommierten Jugendchor „Juventus vocalis“ der Gesangspädagogin Judith Janzen mit und erhielt von dieser ab dem 11. Lebensjahr Unterricht, um Solopartien zu übernehmen, darunter den Knabensopran in Leonard Bernsteins „Mass“. Es war, wie sie sagte, „ein heißgeliebtes Hobby – und nach dem Abitur wurde es dann ernst.“

Landesart Portrait Hanna-Elisabeth Müller, Aug. 2014 (4 min)

Alle neun Musikhochschulen, bei denen sie sich vorstellte, hätten sie aufgenommen, doch sie war sehr froh, bei Rudolf Piernay in Mannheim studieren zu können, dessen Klassenkonzerte sie schon vorher besucht hatte. Der gestrenge Herr, der eine Vielzahl erfolgreicher Schüler vorweisen kann, arbeitete zuerst intensiv an der Technik und verlangte einige Geduld ab, bis auch Lieder und Arien geübt werden durften. Am Ende der Ausbildung standen dann Meisterkurse, u. a. sogar noch bei Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady. Hinzu kamen einige Wettbewerbserfolge und schließlich die Aufnahme in das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper. Zwei Jahre später, im Jahr 2012, wurde sie dann ins Ensemble dieses Hauses übernommen.

Dieses bewährte sich dann, um wieder auf den alpinistischen Vergleich zurückzukommen, als Basislager. Da die großen Häuser für die Hauptrollen bevorzugt internationale Stars engagieren, bleiben den Ensemblemitgliedern die kleinen Partien, im besten Fall auch mal eine Gretel oder Pamina in einer vorweihnachtlichen Familienvorstellung. Damit und auch als Susanna in Le nozze di Figaro konnte Hanna-Elisabeth Müller Bühnenerfahrung sammeln, die in ihrem Studium gefehlt hatte, und als Woglinde in Rheingold und Götterdämmerung schon einmal zeigen, dass ihre Stimme auch ohne Mühe über große Klangwogen aus dem Orchestergraben trägt. Dies beruht auch auf der hervorragenden Legatokultur, mit der sie ihren Melodiebögen eine besondere Substanz verleiht.

Einen wirklich guten Beitrag zur Nachwuchsförderung leistet die Bayerische Staatsoper, indem sie die jungen Mitglieder auch für interessante Rollendebüts an anderen Häusern und bei Festspielen freistellt. So verpflichtete sie Christian Thielemann für die Salzburger Osterfestspiele 2014 als Zdenka in Arabella. Mit dieser Produktion hatte der Maestro Großes im Sinn, nämlich die Weltstars Renée Fleming und Thomas Hampson in den Hauptrollen zusammenzubringen. Doch am Ende der auch auf DVD erschienen Produktion erhielt Hanna-Elisabeth Müller die lautesten Bravorufe und die Rezensenten überschlugen sich mit Lob für die damals noch unbekannte junge Deutsche und berichteten, dass sie den großen Stars die Schau gestohlen habe.

Wie gelang dieser Überraschungscoup? Sie selbst erklärte ihn damit, dass sie früh angereist war, um gründlich mit den musikalischen und szenischen Teams zu arbeiten, während die Stars erst viel später dazukamen. Wie beim Alpenverein gelernt, war die Etappe also bestens vorbereitet. Und es war auch die richtige Partie zur richtigen Zeit, das hatte Thielemann gut unter Dach und Fach gebracht und auch Professor Piernay, der immer noch ihr Mentor ist, hatte zugestimmt. Eine weitere jugendliche Rolle in einer Strauss-Oper ließ dann nicht lange auf sich warten: die Sophie im Rosenkavalier, als die sie im September 2015 in Amsterdam debütierte. Beide Partien stellte sie in der Folgezeit auch an der Bayerischen Staatsoper dar. Wenn die Eigengewächse sich in einer Rolle erst einmal auswärts bewährt haben, setzt man sie auch gerne im Stammhaus ein und fährt damit oftmals besser als mit auswärtigen Stars.

Anja Harteros (Arabella), Hanna-Elisabeth Müller (Zdenka), Duett aus ARABELLA (2015)

Die Zeitschrift Opernwelt kürte sie 2014 aufgrund ihres Wirkens an der Bayerischen Staatsoper und ihres Erfolgs in Salzburg zur Nachwuchskünstlerin des Jahres. Es ergaben sich Engagements an der Metropolitan Opera New York, der Mailänder Scala, dem Opernhaus Zürich und später auch der Wiener Staatsoper. Als Konzertsolistin wirkte sie 2016 beim Antrittskonzert von Daniel Harding in der Pariser Philharmonie als Gretchen in Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ und 2019 zum Auftakt des Rheingau-Musikfestivals in Dvoraks „Stabat Mater“ mit. Und für das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie im Januar 2017 holte man sie aus der Sauna eines oberbayerischen Wellnesshotels und flog sie als Einspringerin für eine erkrankte Kollegin im letzten Moment nach Hamburg. Schließlich rundeten noch zwei sehr schöne Lied-CDs das Spektrum ihrer künstlerischen Vielseitigkeit ab.

Das klassische Lied ist ihr eine Herzensangelegenheit und auch auf diesem Gebiet ist ihr Wirken auf langfristige Entwicklung angelegt. Wie eine vorsichtige Alpinistin ihre zuverlässige Partnerin am Seil nicht wechseln möchte, arbeitet sie seit 10 Jahren mit der stilsicheren und einfühlsamen Pianistin Juliane Ruf zusammen. So hat das von Schumann bis Poulenc reichende Repertoire einen hohen Reifegrad erreicht, der sowohl in Live-Konzerten als auch auf den CDs viel Anerkennung bei den Rezensenten findet.

Ebenso hat sie auch das Gespür und die stimmlichen Möglichkeiten für orchesterbegleitete Lieder. Ein Rezensent beschrieb das nach einer Aufführung der „Sieben frühen Lieder“ von Alban Berg sehr treffend: „Hanna-Elisabeth Müller breitete diese Musik zwischen verklärter Ruhe und sanfter Leidenschaft als subtil interpretierende Vermittlerin aus, die ihren präzise geführten Sopran mal raumtragend ausfuhr, mal aus dem Nichts aufblühen ließ: quasi wie ein solistisch hervortretendes Orchesterinstrument, ein weiteres in der ohnehin reichen Farbenpalette des philharmonischen Bläserapparates.“

Sich bestens in das Gesamtgefüge einzuordnen, kann als eine ihrer besonderen Stärken gelten. Es kann gut sein, dass dieses Talent auf die frühere Hausmusik mit ihren Schwestern zurückgeht. Jedenfalls harmoniert sie auch hervorragend mit kammermusikalischen Besetzungen wie in dem folgenden reizvollen Sextettsatz mit Sopransolo.

Alexander Zemlinsky – “Maiblumen blühten überall” | Hanna-Elisabeth Müller | Streichsextett des WDR Sinfonieorchesters (2020)

Wir blicken also auf einen Stern am Musikhimmel, der schon sehr hell strahlt, und mancher Leser wird sich vielleicht fragen, warum Hanna-Elisabeth Müller hier überhaupt noch in der Serie „Rising Stars“ erscheint. Doch ich glaube, dass sie noch nicht in ihre endgültige Sphäre aufgestiegen ist. Man hat sie bislang meist in Jungmädchenrollen erlebt, die zu ihrer frischen Ausstrahlung und zu ihrem feinen, hellen Timbre passen. Neben Zdenka und Sophie bei Strauss waren das auch Susanna in Le nozze di Figaro, Ilia in Idomeneo oder Marzelline in Fidelio. Die letztere Partie hörte ich sie so energiegeladen singen, dass die Solistin der Leonore danach fast matt wirkte.

Mein Eindruck ist, dass ihre Stimme kontinuierlich an Grundierung gewinnt und ein müheloses Durchsetzungsvermögen entwickelt, das über das lyrische Sopranfach hinausweist. In Don Giovanni hat sie auch schon den Schritt von der lyrischen Zerlina zur dramatischeren Donna Anna vollzogen. Im Jahr 2020 hätte sich diese Entwicklung mit Engagements als Eva in den Meistersingern in München und als Arabella an der Wiener Staatsoper weiter fortgesetzt. Auch diese Schritte hat sie ihrem Naturell entsprechend gewiss gründlich wie eine Bergexpedition vorbereitet. Doch stattdessen steht der aufsteigende Stern gerade hinter einer Dunkelwolke namens Corona. Wenn diese jetzt endlich wegzieht, werden wir uns überraschen lassen, in welchem neuen Glanz er dann erstrahlt! Und wir werden uns an dem neuen Repertoire erfreuen, das sie in der Zwischenzeit erarbeitet und zum Grundkapital einer auf lange Sicht angelegten Karriere gemacht hat.

Einen Meilenstein auf neuen Wegen stellt zweifellos ihr Debüt als Cordelia in Aribert Reimanns Lear dar, das am 23. Mai 2021 wieder vor Publikum stattfinden konnte. Per Videostream aus der Bayerischen Staatsoper kann man dies am 30. Mai ab 18:00 erleben und danach noch einen Monat lang als Video-on-demand abrufen. Erste Kritikerstimmen sind sehr positiv!

Weiterführende Information:

Biografisch sortierte Playlist in Youtube

Offizielle Webseite

Hanna-Elisabeth Müller in Wikipedia

Lorenz Kerscher, 27. Mai 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.

Dr. Lorenz Kerscher

„‘Musik ist Beziehungssache‘, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“

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Ein Gedanke zu „Rising Stars 7: Hanna-Elisabeth Müller, Sopran – trittsicher auf dem Weg nach oben“

  1. Von der Bayerischen Staatsoper her kam schon lange in die österreichischen Kulturseiten viel Lob für Hanna-Elisabeth Müller. Endlich war es dann November, Dezember 2019 soweit, ihre ausnehmend schöne Stimme auf der Bühne der Wiener Staatsoper zu genießen, obwohl der Sprung ins dramatische Fach der Donna Anna noch sehr gewagt erschien. Schön finde ich, dass Sie ihr Knabensopransolo in Bernsteins „Mass“ nicht unerwähnt lassen, das ja die bedeutsame Wende des Stücks bringt.

    Lothar Schweitzer

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