„Va pensiero“ auf „Goldenen Schwingen“ im Cyberspace
Oper nur auf CD, YouTube oder im Stream. Konzerte ebenso.
Viele Klassik-Begeisterte sehnen sich nach packenden, berührenden Klassik-Erlebnissen. Klassik-begeistert.de bringt deshalb Impressionen von Autorinnen und Autoren, die unsere Leserinnen und Leser am meisten berührt haben. Teil 7: Giuseppe Verdi, Nabucco.
von Charles E. Ritterband
Aus Italien, wo die Zahl der Covid 19-Todesopfer täglich ansteigt und mittlerweile die Schwelle von 10 000 Verstorbenen überschritten wurde, erreichen uns nicht nur Schreckensnachrichten. Durch die sozialen Medien schwirren unzählige, mit tiefschwarzem Galgenhumor angereicherte Karikaturen und Videos; eine besondere Spielart von Kreativität feiert Urständ: Lachen vor einer Kulisse absoluten Horrors. Es zirkulieren Video-Clips von jungen Männern, die einander mit geschickten Tennis-Spielen von Fenster zu Fenster die Einsamkeit vertreiben. Und aus Italien stammt auch die hübsche Idee der Ständchen für die Nachbarn auf Balkonen und in Fenstern. So wird in dem am härtesten von der Pandemie getroffenen Land Europas dem Virus in vielfältiger Weise die Stirn geboten.
Am beeindruckendsten geschah dies in Rom. Eine einzigartige Idee hat in Rom der International Opera Choir realisiert: „Va, pensiero“, der Gefangenenchor aus der Oper „Nabucco“ als virtuelles Puzzle: Der Dirigent Giovanni Mirabile, ließ jedes Mitglied dieses Chores jeweils bei sich zu Hause, in der staatlich verordneten „Selbstisolation“, die eigene Stimme auf Smartphone aufnehmen. Mit einer ausgefeilten Montagetechnik wurden diese individuellen Beiträge dann zusammengeschnitten und mit der entsprechenden Orchester-Einspielung zu einem Ganzen kombiniert.
Das Ergebnis ist beeindruckend, berührend – und den Umständen entsprechend ziemlich perfekt. „Trotz der Ausbreitung des Virus belebt die Musik weiterhin die Herzen und die Tage der Italiener“ heißt es im eingeblendeten Text. Das „Va, pensiero sull’ali dorate“ (Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen) erhält nun plötzlich eine ganz andere, hochaktuelle, zutiefst symbolische und dann doch wieder zugleich prosaische Bedeutung: Die poetisch-metaphorischen „goldenen Schwingen“ des Textes werden nunmehr zum Medium Internet, das die sehnsuchtsvollen Gedanken im Cyberspace an Freiheit (von den vielfachen Beschränkungen in diesem Ausnahmezustand) und Erlösung (von der Angst vor dem Virus) hinausträgt, aus den Zimmern und Wohnungen der Choristen in die Welt.
In einem weiteren eingeblendeten Text wird dieses musikalische Experiment allen Sanitätern, Krankenpflegern und Ärzten gewidmet, die sich an der medizinischen Front dem Einsatz gegen das Covid-19-Virus widmen. Und am Ende, nach Luftaufnahmen der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Italiens im besten Licht, zeigt das Video eine Krankenpflegerin in Schutzkleidung und Atemmaske, welche die Silhouette Italiens, den „Stiefel“, innig umschlungen in Armen hält wie Maria den Erlöser – die Assoziation an die Pietà, diese in der Kunstgeschichte Italiens so tief verwurzelte Figur, ist kein Zufall. Und ebenso wenig zufällig sind die patriotisch-evokativen Bilder sowie vor allem die Wahl des emotionsgeladenen Musikstücks, das Italien an die Aussenwelt sendet: Jegliche Alternative zum symbolträchtigen „Gefangenenchor“ aus Verdis „Nabucco“ wäre hier völlig undenkbar. Dieser berühmteste Opernchor aller Zeiten wurde immer wieder als Italiens „geheime Nationalhymne“ bezeichnet. Zu Recht?
https://www.youtube.com/playlist?list=RDJTVXEGIS3LE&feature=share&playnext=1
Italiens „geheime Nationalhymne“?
Der weltberühmte Chor berührt die Herzen der Italiener wie kein anderes Musikstück – auch heute noch unvermindert, 178 Jahre nach der Uraufführung (9. März 1842) an der Mailänder Scala von Giuseppe Verdis „biblischer“ Oper, mit überwältigendem Publikumserfolg und unter bissigen Kommentaren der Musikkritiker („Lärmoper“, „beispiellose Monstrosität“). Seither hält „Va, pensiero sull’ali dorate“ (Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen) in der Hitparade der Opernchöre des Großmeisters Verdi – und nicht nur hier – den ersten Platz.
Als ich erst vor nicht allzu langer Zeit im Turiner Teatro Regio, unmittelbar vor der Schließung auch dieses Opernhauses als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus, eine ästhetisch aufwendige Aufführung des „Nabucco“ erleben durfte, wurde mir die ungebrochene Popularität dieses Chors einmal mehr vor Augen geführt: Zu meiner Linken brummelte ein älterer Herr im dunkelgrauen Dreiteiler die Melodie mit so gut es ging, zu meiner Rechten liess eine elegante Dame ungehemmt eine Träne kollern, die eine dünne Spur auf dem geschminkten Antlitz hinterliess und danach brach das Publikum des vollbesetzten Hauses in tosenden, minutenlangen Applaus aus. Noch enthusiastischer reagiert das Publikum in der Arena di Verona zu erleben, wo „Nabucco“ selbstverständlich zum Standard-Repertoire zählt.
Der italienische Dichter und Librettist Temistocle Solera nahm sich für den Text des „Va, pensiero“ den Psalm 137 („An den Strömen Babylons“) zum Vorbild – ein Hymnus, der die Sehnsucht des Jüdischen Volkes im babylonischen Exil nach der verlorenen Heimat zum Ausdruck bringt. Im Jahr 587 vor unserer Zeitrechnung wurde Jerusalem von den Babyloniern unter Nebukadnezar („Nabucco“) erobert und weitgehend zerstört. Der Psalm wird dem Propheten Jeremia zugeschrieben. In einem Gemälde von van Rijn aus dem Jahr 1630 (Rijksmuseum Amsterdam) ist der von Gram erschütterte Prophet – für den Rembrandts Vater als Modell gesessen hatte – zu sehen, der die Zerstörung Jerusalems und des Tempels beklagt.
Verdis Schlüsselerlebnis
Verdi hatte sich nach dem Flop Opera buffa „Un Giorno di Regno“, die 1840 an der Scala gnadenlos ausgepfiffen wurde, geschworen, „keine einzige Note“ mehr zu schreiben. Dennoch erhielt er von Temistocle Solera im Herbst 1840 ein Libretto angeboten, das er sofort „ziemlich heftig“ beiseite warf – doch „im Fallen“ so berichtete es Verdi selbst in einem Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi, „hatte es sich geöffnet, unwillkürlich haftet mein Blick auf der aufgeschlagenen Seite und dem Vers „Va, pensiero, sull’ali dorate“. Verdi habe, schreibt er weiter, hastig die weiteren Verse überflogen und sie hätten ihm „starken Eindruck“ gemacht. In der folgenden, schlaflosen Nacht habe Verdi dann das ganze Libretto Soleras zwei-, dreimal gelesen, bis er es „sozusagen auswendig“ konnte. Das klingt wie eine romantische Selbst-Glorifizierung und ist es wohl auch: „Se non è vero, è ben trovato“, wie die Italiener so schön formulieren.
Wahr oder vom Meister selbst (gut) erfunden – es dauerte jedenfalls nicht lange, bis Verdi seinen Vorsatz aufgab und eine neue Oper schrieb, dessen Herzstück jener Chor werden sollte, der zu seinem berühmtesten wurde: „Va, pensiero“. Verdi schrieb später an Ricordi, dass mit dieser Oper eigentlich seine künstlerische Laufbahn erst begonnen habe. Im Herbst nach der Uraufführung wurde „Nabucco“ wieder aufgenommen und erlebte 57 Aufführungen – ein nie dagewesener Erfolg. Und der Beginn eines Siegeszuges dieses Werkes durch alle Opernhäuser der Welt.
Verdis Nabucco war ein Volltreffer – das Werk passte genau in die Zeit. Es war die Zeit des Risorgimento, den Bestrebungen zur italienischen Vereinigung der unabhängigen Fürstentümer und Regionen in einem von Österreich unabhängigen Nationalstaat.
Und es war die Zeit von Verdis steilem Aufstieg zum beliebtesten und berühmtesten Opernkomponisten Italiens. Bekannt waren seine patriotischen Gefühle – mit „Nabucco“ und dem Gefangenenchor wurde Verdi in jenem Kontext zur idealen Projektionsfigur, der oft heroische Duktus so mancher seiner Opernarien verklärte den Komponisten zur Verkörperung der (imaginierten oder tatsächlichen) heldenhaften Tugenden eines geeinten Italien. Verdi wurde als nationale Identifikationsfigur, als „Padre della Patria“ auf den Sockel des Patriotismus gehievt. Bekanntlich tauchten zu jener Zeit an den Hauswänden Italiens jene viel zitierten Graffiti auf: „Viva V.E.R.D.I.“ – das Akronym stand für „Vittorio Emanuele Re D’Italia“, den herbeigesehnten König eines vereinten Italiens.
War also Verdis „Nabucco“ eine Metapher für das unter österreichischer Fremdherrschaft geknechtete italienische Volk, ein Fanal zur Abschüttelung dieses Jochs? Die Verszeile des berühmten Chores „O mia patria, si bella e perduta“ (O mein Vaterland, so schön und verloren) würde nahtlos in diese Hypothese passen. Ist also „Va, pensiero“ die geheime Nationalhymne des vereinten Italien?
„Viva V.E.R.D.I.“
Skepsis ist angebracht. Die Historiker liegen sich darob seit Jahren in den Haaren. Zwar ist die politische Rechte Italiens längst auf diesen Zug aufgesprungen: Senator Umberto Bossis politische Partei, die Lega Nord/Padania deklarierte „Va, pensiero“ zu ihrer offiziellen Hymne, und diese wurde denn auch an allen Parteiversammlungen angestimmt. Selbst Riccardo Muti stieß in diese Kerbe, als er vor einer Vorstellung des „Nabucco“ am Dirigentenpult der Römer Oper eine kurze Ansprache ans Publikum hielt, in der er die Kürzungen im italienischen Kulturbudget beklagte – und das Auditorium aufforderte „Va, pensiero“ mitzusingen, um so seinen Patriotismus und die Unterstützung für das Kulturleben der Nation zum Ausdruck zu bringen.
Die Geschichte jedenfalls, dass bei der Première an der Scala ein patriotisch erregtes Publikum frenetisch ein „Encore“ des Gefangenenchors forderte, ist offenbar nicht zutreffend. Tatsächlich verlangte das Publikum nach einem Chor im „Nabucco“ damals eine Zugabe – aber es war nicht der Gefangenenchor, sondern die Chorhymne „Immenso Jehova“ im vierten Akt…
Immerhin – „Va, pensiero“ wurde spontan von den rund 300 000 Personen angestimmt, die Ende Januar 1901 in den Straßen von Mailand zusammengeströmt waren, um sich dem Trauerzug für den verstorbenen Komponisten anzuschließen. Und bei der Umbettung der sterblichen Überreste in die von Verdi selbst 1896 gegründete Casa di Riposo per Musicisti in Mailand wurde „Va, pensiero“ von 300 Sängern unter der Leitung keines Geringeren als Arturo Toscanini gesungen.
Freiheitshymne Italiens?
„Va, pensiero“ als nationales Erweckungserlebnis der Italiener, als historische Freiheitshymne, als heimliche Nationalhymne Italiens? „Nabucco“ als für musikalisches Monument für Verdis geliebtes, unterworfenes, nach Freiheit dürstendes und schließlich diese Freiheit erringende Italien? Geschichtsklitterung, wie manche Historiker sagen? Wahrscheinlich ein Mythos.
Der Dirigent der aktuellen Zürcher Inszenierung, Fabio Luisi, spricht von einer Vereinnahmung des Gefangenenchors für politische Zwecke, die schon zu Verdis Lebzeiten begonnen habe. Er finde es absurd, diesen Chor als „heimliche Nationalhymne zu bezeichnen, denn ein Chor von Gefangenen könne keine Hymne sein – eine „Hymne des Schmerzes“ allenfalls, aber keine Hymne der Erhebung, wie der italienische Journalist und Verdi-Kenner Alberto Mattioli (Autor von „Meno grigi piu verdi“) feststellt.
Wer den „Nabucco“ als Patriotismus in Reinkultur versteht, wird einigermassen erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass man im Revolutionsjahr 1848 am Teatro San Carlo befand, die Chöre im „Nabucco“ seien nicht patriotisch genug… Bemerkenswert ist ausserdem, dass Verdi diese Oper dem Spross eines Habsburgers widmete: Der Herzogin Adelaide von Österreich, Tochter des Erzherzogs Rainer von Österreich, der als Vizekönig über Lombardo-Venetien herrschte.
Im März 1848, sieben Jahre nach der Uraufführung des Nabucco, vertrieben die Mailänder die österreichischen Herrscher für fünf symbolträchtige Tage aus ihrer Stadt – plastisch dargestellt übrigens in der bewegten Inszenierung der Arena di Verona (Neuinszenierung 2017 von Arnaud Bernard, Bühnenbild Alessandro Camera). Doch – zur herben Enttäuschung jener, die an jenem Mythos hängen, spielte der Name Verdis in den „Cinque Giornate di Milano“ kaum eine Rolle. Nachdem die Österreicher die Kontrolle über Mailand zurückerlangt hatten, wurde die Scala wiedereröffnet. Auf dem Spielplan standen drei Opern – unter diesen auch der „Nabucco“. Wenn die Herrscher dieser Oper so viel revolutionäres Potenzial zugemutet hätten, hätten sie dies wohl kaum gewagt. „Nabucco“ war ganz einfach populär.
Rund zwei Jahrzehnte nach der Uraufführung des „Nabucco“ an der Mailänder Scala nahm die Fremdherrschaft der Habsburger tatsächlich ein Ende. Die Mailänder Scala, Italiens berühmtester Kulturtempel, in dem der „Nabucco“ seine Uraufführung erlebte, war 1778 auf Anordnung von Maria Theresia als kulturelles Kernstück Mailands, der Hauptstadt der österreichischen Lombardei, errichtet worden…
Dr. Charles E. Ritterband, 31. März 2020, für
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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.