Ritterbands Klassikwelt 17: „Rule Britannia“ ohne Worte – Misstöne in Britanniens inoffiziellen Nationalhymnen

Ritterbands Klassikwelt 17: „Rule Britannia“ ohne Worte – Misstöne in Britanniens inoffiziellen Nationalhymnen

Rule Britannia, Jerusalem und Land of Hope and Glory werden, Covid und Political Correctness zum Trotz, weiterhin unverzichtbarer Bestandteil des britischen Sommers bleiben – auch wenn nach dem unvermeidbar kommenden nächsten schottischen Unabhängigkeitsreferendum Großbritannien nur noch aus England und Wales besteht.“

von Charles E. Ritterband

Das Zusammentreffen der Corona-Pandemie und der Protestwelle unter dem Motto „Black Lives Matter“ („schwarze Leben zählen“) hat zu neuen Varianten von „political correctness“ geführt. Teils mit spektakulären, teils aber auch skurrilen Ergebnissen: So hat sich die Fast-Food-Kette KFC („Kentucky Fried Chicken“) von ihrem seit 64 Jahren in den mehr als 20.000 Filialen hochgehaltenen Slogan verabschiedet, der behauptet, ihre frittierten Hühnerteile seien „finger lickin‘ good“ (so gut, dass man danach die Finger abschlecken möchte) – denn in Zeiten von Corona widerspreche solches Verhalten krass sämtlichen ärztlichen Empfehlungen.

In Portland, Oregon, zerstörte eine Menschenmenge das Denkmal von George Washington und das Museum für Naturgeschichte in New York beschloss, die Statue von Theodore Roosevelt, welche seit 80 Jahren vor den Stufen zum Museumseingang steht, zu entfernen. Grund: Der (offen rassistische) Ex-Präsident der Vereinigten Staaten (1901 – 1909), hoch zu Ross, wird flankiert von einem Native American („Indianer“) und einem Afro-Amerikaner.

Von MykReeve at the English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=102998
Die Proms vor leeren Rängen

Selbstverständlich macht die weltweite Sensibilisierung gegenüber der eigenen Geschichte auch vor Großbritannien nicht Halt: Vor kurzem hat trotz Covid-19 wieder die Saison der seit 1941 in der Londoner „Royal Albert Hall“ abgehaltenen legendären Sommerkonzerte unter dem Titel „Proms“ begonnen. Und zugleich entbrannte ein heftiger Streit um das traditionelle Abschlusskonzert, der „Last Night of the Proms“, in welchem jeweils „Rule Britannia“, Edward Elgars „Pomp and Circumstance March Nr. 1″ („Land of Hope and Glory“) und William Blake’s Hymne „Jerusalem“ angestimmt wird, während das teilweise karnevalesk kostümierte Publikum in patriotischer Hochstimmung, Arme und Union-Jack-Flaggen schwenkend, mitsingt.

Wegen Covid-19 müssen die 9500 Sitz- und Stehplätze der riesigen Halle leer bleiben; die Konzerte werden aber wie jedes Jahr von der BBC live übertragen. Doch die BBC, Hauptsponsor der Proms, erwägt, an dieser „Last Night“ am 12. September, nur die Musik jener patriotischen Gesänge erklingen zu lassen – ohne Chor und vor allem ohne das übliche Mitsingen. Dies nicht etwa wegen der bekannten Tatsache, dass das (vor allem laute) Singen die Verbreitung der Covid-Partikel stark begünstigt – sondern wegen der unerwünschten historischen Assoziationen mit dem British Empire. Das hatte einen nationalen Aufschrei zur Folge – bis hin zu Morddrohungen gegen die (finnische) Gastdirigentin von „Last Night“, Dalia Stasevska, Unterstützerin von „Black Lives Matter“.

Dalia Stasevska. Foto: (c) Jarmo Katila
Ein historisches Missverständnis

Dabei ist das Ganze ein Missverständnis: Im Text dieser „inoffiziellen britischen Nationalhymne“ heißt es nicht etwa „Britannia rules the waves“ sondern „rule“ – also keine imperiale Überheblichkeit des 19. Jahrhunderts, sondern eine Aufforderung zur Konzentration auf maritime Stärken im Jahr 1740, als das Lied (Schlussgesang eines Bühnenstücks unter dem Titel „Alfred“) entstand.

Als das Musikstück entstand, teilten sich nämlich die Briten die Vorherrschaft zur See noch mit Franzosen und Niederländern. Doch im Pariser Frieden von 1763 erhielt Großbritannien die meisten französischen Kolonien in Nordamerika, und nachdem 1805 Großbritannien in der Schlacht von Trafalgar Napoleon besiegt hatte, zeichnete sich die uneingeschränkte Vorherrschaft der Briten über die Weltmeere ab und es begann Großbritanniens „imperiales Jahrhundert“. Briten werden „niemals, niemals, niemals“ Sklaven sein, so lautet die „charter of the land“, begleitet vom Gesang der Schutzengel – ein Text, den die „Brexiteers“ gerne zur Illustration ihres Austritts aus der EU zitieren. Das mit viel nationalistischem Pathos angereicherte Lied stammt vom (heute vergessenen) englischen Komponisten Thomas Augustine Arne.

Laut Umfragen wären nur gerade acht Prozent der Briten dafür, auf den problematischen Text zur pompösen Musik zu verzichten. Für Premierminister Boris Johnson, der sich für diese Tradition kräftig ins Zeug legt, ist diese Kontroverse eine höchst willkommene Ablenkung für die vielen Blamagen der letzten Wochen. Aber auch der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Sir Keir Starmer, beeilte sich, das rituelle Absingen von „Rule Britannia“ in Schutz zu nehmen – dies sei schließlich ein unverzichtbarer Bestandteil des englischen Sommers, ein Teil der britischen Folklore. Er tat gut daran, denn sein glückloser Vorgänger Jeremy Corbyn musste sich einen Mangel an Patriotismus vorwerfen lassen – und verlor prompt Hunderttausende von Labour-Stammwählern im Norden Großbritanniens an die Tories.

„Rule Britannia“, „Jerusalem“ und „Land of Hope and Glory” werden, Covid und Political Correctness zum Trotz, weiterhin unverzichtbarer Bestandteil des britischen Sommers bleiben – auch wenn nach dem unvermeidbar kommenden nächsten schottischen Unabhängigkeitsreferendum Großbritannien nur noch aus England und Wales besteht. Gesungen wird weiter – auch im kleineren Rahmen.

Charles E. Ritterband, 1. September 2020, für
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Charles E. Ritterband mit seinem Königspudel auf der Isle of Wight

Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.


Beitragsbild: The original uploader was Joma at German Wikipedia. / CC BY-SA (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

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