Ritterbands Klassikwelt 20: Lockdown auf der Insel

Ritterbands Klassikwelt 20: Lockdown auf der Insel

„Das Insulare des Lockdown, wo man unweigerlich auf sich selbst zurückgeworfen ist, wird durch die Geographie der Insel verstärkt, potenziert – und manchmal nahezu unerträglich.“

von Charles E. Ritterband

Ein Lockdown ist, wie wir inzwischen alle wissen, keine einfache Sache. Alles, was einem lieb, teuer und wichtig war, ist nun plötzlich schwierig, unerreichbar – oder schlicht verboten: Oper, Konzerte, Reisen, spontane Flirts, Familienbesuche, gemeinsame Mahlzeiten mit Freunden. Aber auf einer Insel ist das alles noch viel schwieriger. Inseln können als ausbruchssichere Gefängnisse fungieren – von Alcatraz bis zur Teufelsinsel in Französisch-Guayana, auf die Hauptmann Dreyfus 1895 schuldlos verbannt wurde. Inseln können auch Orte der Inspiration sein: Heinrich Böll beispielsweise verbrachte seine Sommerferien in den 50er Jahren gerne auf der Insel Achill im Westen Irlands. Und Paul Gauguin suchte paradiesische Exotik auf Tahiti.

Das Insulare des Lockdown, wo man unweigerlich auf sich selbst zurückgeworfen ist, wird durch die Geographie der Insel verstärkt, potenziert – und manchmal nahezu unerträglich. In welche Richtung man sich auch wenden mag – immer stößt man, nach spätestens einer Dreiviertelstunde Autofahrt, an eine Grenze: das Meer, das einen vom Festland trennt, wo ungezählte Verlockungen schlummern, wie in einem staatlich verordneten Dornröschenschlaf. Zugegeben – jene Grenze, auf die man hier täglich stößt, hat einiges für sich: herrliche, menschenleere Küstenlandschaften, das Meer, das wie ein schlummernder Riese ein- und ausatmet, zahm die Strände emporleckt dann aber plötzlich wild gegen Klippen peitscht. Die beiden großen (und wegen ihrem uneingeschränkt wuchernden Haarwuchs täglich größeren) Pudel sind begeistert: so viel Abenteuer, so viel uneingeschränkten Auslauf gab es zuvor noch nie. Und kein lästiger Pudelfriseur weit und breit. Wow.

Die Insel heißt Isle of Wight, mit einer Fläche von 381 Quadratkilometern, 35 Kilometer lang und 20 Kilometer breit, 138700 Einwohner, liegt ganz im Süden Englands und hat – theoretisch zumindest – ein fast mediterran-mildes Klima und folglich eine entsprechend exotische Vegetation. Palmen wachsen hier, Kamelien blühen und auf zwei Weinbergen gedeiht ein ganz passabler Weißwein. Der botanische Garten von Ventnor, hoch über dramatischen Klippen, ist mein Lieblingsort. Und in Ventnor kann man plötzlich auch französisches Radio hören – Frankreich liegt gleich gegenüber. Fürwahr – keine Teufelsinsel, doch eine populäre touristische Destination, nicht nur für Engländer.

Wagner-Reminiszenzen

Ein gnädiges Klima, von dem man in den letzten Wochen und Monaten allerdings wenig spürte: Es regnete ununterbrochen, war oft bitterkalt und düster. Die einzige Abwechslung boten frühmorgens die Nebelhörner der unterhalb unseres Gartens im „Solent“ vorbeigleitenden Frachter – die großen Kreuzfahrtschiffe sind längst irgendwo vor Anker gegangen und warten auf die Lockerung der Vorschriften. Und doch: so ganz prosaisch ist das alles nicht. Denn die Nebelhörner, die gespenstisch aus dem dicken, undurchdringlichen Grau dringen, erinnern an Wagner, der im Fliegenden Holländer die Nebelhörner der Schiffe kunstvoll in die Orchestermusik einbaute.

Apropos Kultur: Einst, es scheint lange her und ist schon fast nicht mehr wahr, gab es auf dieser abgelegenen Insel eher bescheidene, aber durchaus sympathische Lichtblicke kultureller Art. Abgesehen vom berühmten Isle of Wight Festival, an dem vor der Covid-Pandemie jeweils im Sommer die Rock-Musik vor Tausenden von Zuschauern Urständ gefeiert hatte (und mich panisch die Flucht von der Insel ergreifen ließ) gab es hier dann und wann ein Klavierrecital in einem kleinen Kulturzentrum im Hauptort Newport, hübsche Jazz-Konzerte in verschwiegenen Gärten alter Landhäuser, Kammermusik im viktorianischen Ambiente und ein rührendes Ukulele Festival. „Gone“, wie die Engländer sagen – vorbei. Doch hoffentlich nicht für immer.

Wider den insularen Covid-Trübsinn

Was also tun, inzwischen, dass einen nicht allmählich der insulare Trübsinn erfasst? Vor genau einem Jahr hatte ich noch herrliche Opernaufführungen in Italien besucht, an der Mailänder Scala, im Teatro La Fenice in Venedig, im Teatro Comunale di Bologna und im Teatro Regio di Torino, zu guter Letzt auch an der Wiener Staatsoper. In allen fünf Häusern schlossen sich buchstäblich die Tore hinter mir und die Covid-bedingte Zwangspause, die heute noch andauert, begann.

Immerhin: Monate später gelang es mir, zwei Opern im winterlichen Glyndebourne anzuschauen – unter allen erdenklichen und peinlich genauen, von Dutzenden vornehmer älterer Ladies mit unerbittlicher Strenge durchgesetzten Covid-Sicherheitsmaßnahmen. Zwar waren die herrlichen Gärten, für viele Gäste die Hauptattraktion von Glyndebourne, umständehalber geschlossen und ohnehin von dichten Regenschleiern verhüllt. Wehmütige Erinnerungen an sommerliche Picnics während der großzügig ausgedehnten Opernpausen, in denen der Butler den Champagner aus dem Bentley holt und auf Spitzentischtüchern zum Räucherlachs kredenzt, oder die bescheideneren Opernbesucher in Abendgarderobe ihre Picnicdecken auf der Wiese ausbreiten und die in Körben mitgebrachten Köstlichkeiten unter den wohlwollenden Blicken weidender Kühe und Schafe genießen.

Aber hier, auf dem insularen Exil? Noch in normalen Zeiten hatten wir die ausgezeichnete Idee, im Wohnzimmer ein Privat-Kino zu installieren – mit raumfüllender Leinwand, ausgezeichnetem Projektor und der besten erhältlichen Soundbar. Das Ergebnis ist überwältigend – und ein täglicher Trost für die im zweieinhalb Stunden per Fähre und Bahn schlummernde Großstadt-Kultur. Ich besorgte mir eine „subscription“ für die Metropolitan Opera, um rund 14 Euro monatlich – und kriege dafür Abend für Abend wohlfeil eine neue, spektakuläre Inszenierung ins Haus geliefert. Manchmal, bei inzwischen historischen Produktionen (Zeffirelli, Pavarotti, Alfredo Kraus, Beverly Sills), etwas unscharf – aber bei den aktuellen Inszenierungen in brillanter Bild- und Tonqualität.

Norma – von Netrebko zu Callas

Eine der denkwürdigen Aufführungen, die von der Met in unser Privat-Kino auf der Insel übertragen wurden, war „Norma“ (2016): Mit einer großartigen Anna Netrebko in der Titelrolle und der fantastischen Joyce DiDonato as Adalgisa. Doch danach sagte Netrebko die Auftritte als „Norma“ an der Met und in der Neuinszenierung an der Royal Opera Covent Garden ab, wo sie durch die hervorragende bulgarische Sopranistin Sonya Yoncheva ersetzt wurde. Netrebko begründete ihren Rückzug mit der – seit der Geburt ihres Kindes – veränderten, „größer“ gewordenen Stimme.

„Norma“ und insbesondere die ebenso berühmte wie gefürchtete Arie „Casta Diva“ wird wohl für alle Zeiten assoziiert mit der „Diva Assoluta“ Maria Callas. Auch sie hatte seinerzeit die Flucht vor der „Casta Diva“ ergriffen – allerdings weit weniger kontrolliert als Jahrzehnte später die Netrebko, sondern, wie es dem Temperament der Callas entsprach: impulsiv.

Es geschah nicht vor, sondern während der Gala-Aufführung zur Saison-Eröffnung der Römer Oper am 13. Januar 1958 – welcher der italienische Staatspräsident Giovanni Gronchi durch seine persönliche Anwesenheit höhere Weihen verlieh. Maria Callas könnte keinen unpassenderen Anlass für ihren „walkout“ gewählt haben. Zwei Jahre lang war sie Rom fern geblieben, und für ihr Comeback hatte sie ausgerechnet die anspruchsvollste aller Sopran-Partien gewählt: Die Norma. Ihr Auftritt war grandios: Mit wehenden Roben und silbernen Lorbeerblättern in ihrem tiefschwarzen Haar. Das Haus verharrte in atemloser Stille, als sie die „Casta Diva“ anstimmte.

Anfangs ging alles gut, die ersten Noten waren kristallklar – ihre weltberühmte Stimme, längst zum Inbegriff der Operndiva geworden. Als sich jedoch die Arie auf die höheren Register zu bewegte, schien sich ihre Stimme zu verdunkeln, ein leises aber unüberhörbares Zittern durchdrang den Klang. Das Publikum reagierte sofort. Mit Zischen, verhaltenen Buh-Rufen, aber auch mit aufmunterndem Applaus. Die Callas erhob einen Arm – voll Verachtung, wie Zeugen sagten.

In der Pause schloss sie sich in ihrer Garderobe mit ihrer Freundin, der Klatsch-Journalistin Elsa Maxwell ein. Als sie herauskam erklärte sie den vor der Türe wartenden Funktionären der Römer Oper, dass sie nicht mehr weiter singen könne. Weil die Callas keine Zweitbesetzungen duldete, musste die Vorstellung abgebrochen werden. Ein Amerikaner im Publikum ließ sich zum eher dürftigen Wortspiel hinreißen: „After this Casta Diva, the may just cast a diva into the Tiber“ (Nach dieser Casta Diva konnten sie genausogut eine Diva in den Tiber werfen). Eilig suchte die Römer Oper nach einem Ersatz und fand ihn in der vielversprechenden italienischen Sopranistin Anita Cerquetti. Obwohl vom Publikum bejubelt, schrieb ein Kritiker: „Sie sang wie eine friedlich grasende Kuh“.

Callas entschuldigte sich zwar beim Staatspräsidenten, zog aber erbitterte Kritik auf sich, obwohl ihr damaliger Ehemann Giovanni Battista Meneghini ihr Verhalten damit zu erklären versuchte, sie sei „sehr sehr sehr krank“. Die Römer Oper verweigerte der Callas das Honorar in Höhe von angeblich 2000 Dollar (damals eine schöne Stange Geld) und der Operndirektor warf ihr erbittert vor, sie habe Sylvester in einem Römer Nachtclub gefeiert, ohne „die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen“. Und während sie selbst argumentierte, dass die Vertiefung der Stimmlage bei vielen Sängern und Sängerinnen vorkomme („und diesmal war einfach ich dran“) war die Zeitung „Paese Sera“ gnadenlos: Sie begann schlecht und wurde schlechter. Ihre Stimme scheint durch Veränderungen im Timbre und in den tieferen Registern bedroht. In den höheren Registern gleicht Callas einer Akrobatin außer Atem.

Ein Zimmermädchen im Hotel Quirinale, in dem die Callas abgestiegen war, soll hingegen lakonisch gesagt haben: „Sie kann unmöglich ihre Stimme verloren haben. Ich hörte selbst, wie sie einen Kellner anbrüllte“. Doch die Szenen in der Via Nazionale, vor dem Hotel, in dem Maria Callas ihre Suite nunmehr nicht mehr verließ, waren weniger lustig: Polizisten gingen mit Gummiknüppeln auf Demonstranten los, die im Chor „Viva Tebaldi!“ skandierten – Renata Tebaldi war bekanntlich die große Rivalin der Callas. Und im Parlament brachte währenddessen ein Abgeordneter eine Motion ein, mit welcher Maria Callas künftig von allen staatlich subventionierten Bühnen ferngehalten werden sollte. Wer ein Opernpublikum begeistert, kann zum Nationalhelden werden – wer es aber gründlich enttäuscht, wird rasch zum Staatsfeind.

Dr. Charles E. Ritterband, 7. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Fotos im Beitrag: © Charles E. Ritterband

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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur“, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.

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