Foto: Monika Rittershaus (c)
Staatsoper Hamburg, 31. Oktober 2018
Robert Schumann (Musik), Johann Wolfgang von Goethe (Text),
Szenen aus Goethes Faust
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano, Musikalische Leitung
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Große Aufregung schon im Voraus: Die Abendkasse der Staatsoper kann keine Eintrittskarten ausdrucken, die online bestellt wurden – und bereits bezahlt sind. Computerpanne. Drei Angestellte mit Telefon am Ohr gucken hilflos in Richtung der immer länger werdenden Schlange: Der älteste beginnt, die Eintrittskarten manuell auszustellen. Personen mit Pressekarten bekommen den Kartenausdruck zuerst. Als ich mich bedanke und den grauhaarigen Herren für seine Initiative lobe, sagt er verschmitzt: „Hören Sie auf, sonst werde ich zu Mephisto.“ Auf dem Zettel, den ich bekommen habe, steht: 1 x Parkett, frei. Herrlich, aber – schon beängstigend! Kommt so etwas auf uns zu, kommt die Zeit der Zettelwirtschaft?
Der Saal ist gut besetzt, auch der erste Rang proppevoll. Am nächsten Tag Allerheiligen, draußen kalt und scharfer Wind. Was erwartet uns hier?
Erst einmal eine völlige Umstellung der Bühnenverhältnisse: Der Orchestergraben, mit einer schwarzen Plane zugedeckt, ist jetzt die Spielbühne – dazu noch eine schräge. Die Protagonisten schleichen vorsichtig, weil der Winkel der Plane kein forsches Gehen zulässt. Das Orchester, der Chor und die sieben Solisten finden hinter einem schwarzen Musselin-Vorhang ihren Platz. Mal wird dieser Bühnenraum hell beleuchtet, mal sieht man nur schwarze Silhouetten, mal leuchten teuflisch rote Lämpchen – Friedhof? Hölle? Paradies? Alles zugleich und der Tod spielt mit.
Schumann kam 1843 zu der Idee, ein Bühnenstück zu den Texten aus „Faust: die zweite Tragödie” zu erstellen. Er schrieb dieses Werk in Raten und quälte sich immer mehr. 1844 entstand zuerst die „Dritte Abteilung“, das säkulare Oratorium; 1852 kamen die erste und die zweite „Abteilung” hinzu. Auf Franz Liszts Anraten und „mit Aufopferung der letzten Kräfte” (Clara Schumann) schrieb Schumann noch die Ouvertüre.
Ein langsam wahnsinnig werdender Komponist kreiert ein Werk, aus Anlass des 100. Geburtstages von Johann Wolfgang Goethe. Sterben und Tod, langsames Dahinsiechen, Abrechnung mit dem Leben, Hoffnung auf die Auferstehung – in welcher Form auch immer.
Es hört sich geschreddert an: Die „Szenen” sind so verschieden geschrieben, wie es auch der gesundheitliche Zustand des Komponisten gewesen ist. Die erste und zweite Abteilung sind zwar harmonisch und „schön zu singen” – wie Sänger es zu bezeichnen pflegen. Christian Gerhahers wunderbar profunder Bariton erreicht jeden im Saal und tut jedem gut. Ob man allerdings auch in Rückenlage singen sollte, auch wenn der Künstler es kann, ist für mich mehr als fraglich. Mit brennenden Reifen um die Hüfte könnte man Klavier spielen, wenn man Klavier spielen kann – aber muss sowas sein?
Die dritte Abteilung, das säkulare Oratorium, entschädigt für alles. Wir ahnen: Es bedarf keines Gottes – den wird Nietzsche sowieso für tot erklären – um an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben. Die dritte Abteilung – der Chor, die Hamburger Alsterspatzen, Bass solo, Tenor Solo, drei Solo-Sopranistinnen und eine Solo-Mezzosopranistin – schöpft aus der Seele Schumanns. Es ist grandiose Musik! All die Unwägbarkeiten der Inszenierung sind plötzlich vergessen, Schumann und Goethe unsterblich. Der große, schwarze Mann auf der Bühne verpufft im eigenen Rauch – „Wenn es Gott geben sollte, würde er in der Musik wohnen” (Friedrich Nietzsche).
Laut neuester Forschung litt Robert Schumann an einer bipolaren Störung, auch manische Depression genannt. Eine Krankheit, bei der Hochstimmung und Depressionen sich abwechseln. Der Kranke kann nur in der Depression behandelt werden. In der Manie entstehen epochale Werke.
Teresa Grodzinska, 2. November 2018, für
klassik-begeistert.de