“This is not a small voice” – das gilt für all die Stimmen der Komponistinnen und der Solistin dieses zauberhaften, berauschenden Konzertabends!
Elbphilharmonie Saisoneröffnung 2022/23, Foto: Dr. R. Ströbl
Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, 30. August 2022
The Philadelphia Orchestra
Angel Blue, Sopran
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
Saisoneröffnung mit Kompositionen von Gabriela Lena Frank, Samuel Barber, Valerie Coleman und Florence Price
von Dr. Andreas Ströbl
In Zeiten hitziger Diskussionen über vermeintliche oder tatsächliche kulturelle Aneignungen darf man dankbar sein, wenn sowohl durch Werke als auch Ausführende bewiesen wird, was für glanzvolle und für Alle verständliche Kulturerzeugnisse entstehen können, wenn man das Beste aus verschiedenen Ethnien und ihrer Schöpfungen kombiniert.
Das sensibel und klug zusammengestellte Programm für das Konzert zur Saisoneröffnung präsentierte neben einem Stück von Samuel Barber hierzulande unbekannte Werke von Gabriela Lena Frank und Valerie Coleman, beides zeitgenössische Komponistinnen, und die erste Symphonie der jüngst zu spätem Ruhm gekommenen Florence Price. Für die zu Unrecht vergessene Musik der ersten Afro-Amerikanerin, die als namhafte Komponistin in den USA bekannt wurde, setzt sich der Dirigent Yannick Nézet-Séguin leidenschaftlich ein und veröffentlichte 2021 eine Einspielung ihrer ersten und dritten Symphonien.
Den Abend eröffneten drei Sätze aus einem musikalischen Streifzug durch die Anden, komponiert von der 1972 geborenen Gabriela Lena Frank. Einerseits litauisch-jüdischer, andererseits peruanisch-chinesischer Herkunft, ist diese Künstlerin ein großartiges Beispiel dafür, dass ein gut gemischter Gen-Pool mitunter die beste Grundlage für entsprechend vielfältig komponierte Musik sein kann.
Drei Sätze aus ihren „Leyendas: An Andean Walkabout“ entführten in die andine Bergwelt und – zumindest musikalisch – darüber hinaus. Harte Pizzicati pickten in „Toyos“ wie Hühnerschnäbel auf einem peruanischen Bauernhof die Töne auf, eine nervös-temperamentvolle Rhythmik wurde durch folkloristische Synkopen strukturiert, während Spiele mit der Blues-Tonleiter das Klangbild geographisch nach Norden hin erweiterten. In „Chasqui“ wurden Bottleneck-artig gespielte Streicherglissandi mit pentatonischen Anklängen verbunden; „Coquetos“ schließlich, eine musikalische Liebeserklärung an die Andenregion, bestach durch volksmusikalische Leichtigkeit, die mit leidenschaftlicher Dramatik eine überraschende Wendung erhielt. Eine mitreißende, frische Musik voller neuartiger Aspekte, die leider durch das für das „Elphi“-Publikum typische Satz-Zwischenklatschen nicht angemessen gewürdigt wurde.
Samuel Barbers „Knoxville: Summer of 1915”, die Vertonung eines Gedichts von James Agee, ist – vom klanglichen Duktus her europäisch-spätromantisch – eine Schwelgerei aus Kindheitserinnerungen und der Beschwörung einer Heimeligkeit von, zumindest persönlich empfundenen, guten alten Zeiten. Ein wenig gemahnt es in der je eigenen Behandlung von Wort und Musik an Gustav Mahlers „Lied von der Erde“, weil auch hier die Texte nicht einfach musikalisch untermalt werden, sondern losgelöste tonale Strukturen und Linien entstehen.
Gesungen wurde die Komposition von der Sopranistin Angel Blue, die, ihrem Namen entsprechend, im langen blauen Rock auftrat. Nebenbei bemerkt sind Angaben zur Kleidung gerade der Sängerinnen in Kritiken eigentlich obsolet, aber die elegante Aufmachung hatte hier Programm, zumal sie synästhetisch wunderbar zum melancholischen „blue“ im angloamerikanischen Sprachraum passte. Ebendiese Stimmung vermittelten die klagenden Holzbläser und die schmachtenden Streicher, mit denen die warme, volle Stimme von Angel Blue eine schmiegsame Innigkeit erzeugte. Diese beeindruckende Künstlerin sang ebenso stark – vor allem in den Höhen fest und hell – wie lyrisch-sanft, was den träumerischen Erinnerungen inhaltlich den passenden Ausdruck verlieh.
Ihr bezauberndes Lächeln und die fein eingesetzte Mimik und Gestik schufen eine unwiderstehliche Einheit mit dem vorgetragenen Werk und zugleich dem Orchester, mit dem sie harmonisch und lebhaft interagierte. Aber sie wandte sich auch dem Publikum zu und drehte sich sogar um, um die Ränge hinter ihr charmant einzufangen.
Die manchmal wehmütige, aber nie düstere Musik hat mitunter Wiegenliedcharakter, dann wieder ertönen Trompetensignale, die wie das Gedenken an ein vergangenes Heldentum daherkommen. Sehr sanft klingt das Stück mit warmem Hornklang aus, unterstrichen durch die aufrichtige Herzenswärme einer besonderen Sängerin.
Die hatte glücklicherweise einen zweiten Auftritt, denn sie brillierte in „This Is Not a Small Voice“, einem stolzen Bekenntnis zur eigenen schwarzen Identität, komponiert von der 1970 geborenen Valerie Coleman. Das Stück beruht auf dem gleichnamigen Gedicht von Sonia Sanchez, in dem eine junge schwarze Frau ihre starke Stimme erhebt, um gleichermaßen die Individualität als auch die Kraft der Gemeinschaft afroamerikanischer Künstlerinnen zu beschwören.
Starke, wechselvolle Rhythmik und Dynamik unterstreichen den Text, einzelne Frauen-Vornamen werden genannt – von der Sopranistin laut ausgerufen, nicht fügsam gesungen. Die ließ ihre Stimme aufblühen, mit aufrechtem Selbstbewusstsein, das aber niemals plakativ wirkte. Ihr reiches Spektrum an Klangfarben entließ dieses Manifest triumphal in den großen Saal und das Publikum belohnte ihre Darbietung mit langanhaltendem Applaus.
In der Pause bemerkte beim Hinausgehen eine Dame bezüglich des ersten Werks, dass sie es noch nie erlebt habe, dass zwischen den Sätzen geklatscht wurde. Die war offenbar zum ersten Mal in der „Elphi“ und sollte im zweiten Teil erleben, dass das dort leider übliche Manier ist.
Florence Prices erste Symphonie ist tatsächlich in jüngster Zeit immer wieder einmal auf guten Kultursendern zu hören, ihre Musik ist voller Humor und Lebenslust, dazu ungemein vielfältig in der Instrumentierung und den Stimmungen. Soll US-amerikanische Klassik und der typische Klang des nördlichen Kontinentteils charakterisiert werden, wird meist George Gershwin, vor allem seine „Rhapsody in Blue“ genannt. Bei aller Sympathie für Gershwins wundervolle Musik – Florence Price muss sich von der Könnerschaft und ihrem Erfindungsreichtum her hinter niemandem, auch nicht Meister Gershwin, verstecken. Sie verkörpert die Leichtigkeit, Vielfalt, Leidenschaft und vor allem das unbestrittene afrikanische Erbe, ohne das die amerikanische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts undenkbar wäre.
Das hat bereits Antonín Dvořák ohne jedwede Vorurteile gewusst und daher ertönt im ersten Satz ihrer Symphonie Nr. 1 e-Moll von 1932 ein kleiner Gruß an den tschechischen Kollegen und seiner „Symphonie aus der Neuen Welt“, auch ein Wink zu César Franck klingt an. Yannick Nézet-Séguin und das Philadelphia Orchestra malten ein großes amerikanisches Gemälde in leuchtenden Farben und es war eine Freude, diesen sympathischen Dirigenten wirbeln und tänzeln zu sehen. Insgesamt fiel vor Beginn und in der Pause eine harmonische Innigkeit innerhalb des Orchesters auf, der Dirigent scheint seine Musikerinnen und Musiker wirklich sehr zu mögen und mit feinem Lächeln und klaren, aber immer freundschaftlich wirkenden Gesten entfachte er aus dem Klangkörper ein Feuer nach dem anderen. Nézet-Séguin liebkoste die Musik und diejenigen, die sie hervorbrachten, mit weiten Armen, oft ausgestreckter linker Hand und flink akzentuierendem Taktstock in der rechten.
Das Orchester wird nicht umsonst als eines der „Big Five“ in den USA gefeiert und darf sich Weltruhms erfreuen – zu Recht. Alle spielten phantastisch, auch die hier sehr prominenten Schlagwerker mit den Röhrenglocken, die eine beschauliche Urbanität mit Gemeindekirche zeichneten. Florence Price entwirft ein großes Klangkino: Trotzig, aber ohne Anklage und selbstbewusst, ohne aufgesetzt zu wirken. Man mochte es dem Publikum nach dem großartigen Finale des Einleitungssatzes fast schon nachsehen, dass es aus lauter Begeisterung applaudierte, aber es war diesmal deutlich zu bemerken, dass Nézet-Séguin schon etwas nervös wurde und mit einem kleinen Wink der linken Hand forderte er zur Stille auf, um zum zweiten Satz kommen zu können.
Hier formen Trommeln einen Marschrhythmus, dann setzen Blechbläser mit einem choralartigen Thema ein; der Einfluss der Spirituals, aber auch jazziger Strömungen ist unverkennbar. Ungemein reizvoll treten Flöte und Klarinette mit dem Blech in Dialog und verweltlichen gleichsam den sakralen Duktus, um zu einer elegischen Melodie überzugehen. Nach entspannenden, ruhevollen Passagen setzen erneut die Blechbläser mit dem Choralthema ein, das immer wieder variiert wird, Röhrenglocken gesellen sich traut hinzu.
Das bekannteste Stück aus dieser Symphonie ist sicher der dritte Satz, der „Juba Dance“ mit seinem lustigen Lokomotivenpfiff und seiner mitreißenden Rhythmik, von der sich auch der Dirigent ergreifen ließ und locker wippte. Was für ein wundervoller, lebensbejahender Spaß!
Auch den folgenden Zwischenbeifall stoppte Nézet-Séguin schließlich mit erhobenen Zeigefingern, wofür ihn der Rezensent von Herzen umarmen möchte.
Der Finalsatz galoppiert wie ein junges Pferd mit flottem Tempo über eine grüne Weide, springt mit ungebändigter Lebensfreude über klare Bäche, um dann mit wildem Aufbäumen zu einem furiosen Ende zu kommen.
Price schaffte es, lange vor dem Ende der Rassenpolitik und ohne Verbitterung auch in diesem Finale eine Liebesheirat zwischen den Kulturen musikalisch herbeizusehnen. Was für eine große künstlerische Geste – die von ihr gereichte Hand wurde von der weißen Mehrheitsgesellschaft entweder nur zögerlich wahrgenommen, meist aber abgelehnt, oft überhaupt nicht gesehen. Nézet-Séguin hat sie mit Handkuss angenommen und dies dem Publikum weitergeleitet.
Als Zugabe schenkte er und das Orchester den Hamburgern noch „Adoration“, eigentlich für Klavier bzw. Orgel komponiert, hier in der Orchesterfassung.
“This is not a small voice” – das gilt für all die Stimmen der Komponistinnen und der Solistin dieses zauberhaften, berauschenden Konzertabends!
Dr. Andreas Ströbl, 1. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Photos: Dr. Regina Ströbl