So jagt man auch die Staatsorchesterhörner aus dem Graben: Das Hamburger Landesjugendorchester begeistert mit Schostakowitschs Leningrader in der Laeiszhalle

Schostakowitsch, 7. Sinfonie C-Dur, op. 60, „Leningrader“ Landesjugendorchester Hamburg  Johannes Witt, Dirigent Lutz Herkenrath, Sprecher, Laeiszhalle Hamburg, 23. Mai 2023

Johannes Witt, Künstlerische Leitung des LJO Hamburg
Foto © Sarah Wijzenbeek

Wahnsinn, was diese jungen Musiker und Musikerinnen da an kämpferischer Energie in der Laeiszhalle freisetzen! Über siebzig monumentale Minuten baute sich hier ein ballerndes Feuerwerk an überwältigender Symphonik auf, dass die Laeiszhalle fast nur so bebte.

Laeiszhalle Hamburg, 23. Mai 2023

Landesjugendorchester Hamburg

Johannes Witt, Dirigent
Lutz Herkenrath, Sprecher

Dmitri Schostakowitsch      7. Sinfonie C-Dur, op. 60, „Leningrader“

von Johannes Karl Fischer

Vor Schostakowitschs Leningrader las der Sprecher und Schauspieler Lutz Herkenrath einige Zitate zur Uraufführung der Sinfonie. Schon diese Umstände: Hunger, Krieg, Terror. Zu Tränen erschütternde Bilder, die einem da durch den Kopf gehen.

Doch die Musik will sich diesen Gedanken nicht ergeben. Allein der erste Satz dauert fast eine halbe Stunde, da müssen selbst die besten Spitzenorchester ordentlich kämpfen. Und dann rattert da das Hamburger Landesjugendorchester ganz locker eine Variation nach der anderen runter. Wie ein Rennfahrer, der mit 250 durch Haarnadelkurven düst, als wäre es das natürlichste und selbstverständlichste der ganzen Musikwelt. Marschmäßig gibt Dirigent Johannes Witt den Takt vor, führt seine Truppe furchtlos durch die hammerschwere Schostakowitsch-Partitur.

Allen voran glänzte an diesem Abend eine Armada an kampfstarken Blechbläsern. Was da aus den hintersten Reihen der Bühne hervortrat, hätte in weiten Teilen glatt die Staatsorchester-Bläser aus dem Graben jagen können! Saftig, schallstark und trotzdem wie an einem seidenen Faden zusammengezogen: Da spielten nicht vier Hörner und drei Trompeten, da spielte eine riesenstimmige Blechbläsertruppe. Das ist die große Kunst des gemeinsamen Musizierens!

Diese Hörner trieben das ganze Orchester zu Höchstleistungen an, holten den ganzen Klang eines  siegessicheren Schostakowitschs aus diesem Orchester. Irgendwie weiß man nicht so wirklich, was man da fühlen soll. Einerseits ist es natürlich toll, inmitten dieser Stürme an Streichern die Donnerschläge und Blitze nur so vorbeikrachen zu sehen. Dazwischen schweben schimmernde Wolken durch die Luft, für ein paar gar nicht so kurze Momente herrscht Stille vor dem Sturm.

Aber immer wieder diese kleine Trommel mit ihrem per se militärischen, drohenden Klang. Und schon stehen einem die Bilder eines brutalen Schlachtfelds – die die meisten von uns, einschließlich mir, zum Glück nur aus Zeitungen und Filmen kennen – wieder mitten im Kopf. Das ist wahrhaftig erschütternd, so weit und dennoch so nah. Übrigens auch eine künstlerische Meisterleistung, diese Trommelpartie über hunderte von Takten so stabil durchzuziehen. Als würde man einen Marathon laufen… und gleichzeitig einen Porzellanteller auf der Nasenspitze balancieren!

Das Finale wurde wahrhaftig zum Triumphzug eines spektakulären Abends. Ein feuriger Klang schallte durch die Ränge und holte donnernden Applaus aus dem Publikum. Völlig zurecht, bis auf die aller letzten Meter stürzten sich die Musizierenden nochmal so richtig in ihre Stimmen, ihre sichtliche Begeisterung schmetterte mit voller Wucht in den Saal. Da sollte sich die Hamburger Profiorchesterlandschaft warm anziehen, wenn ihnen diese Leute bald auf den Fersen folgen werden!

Schostakowitsch wollte mit dieser Sinfonie vor allem die Kampfmoral einer körperlich und geistig ausgehungerten Gesellschaft aufrechterhalten. Was er geschaffen hat, verdient mehr als… Und der Sieger? Die Freiheit, die Moral… und natürlich die Musik!

Johannes Karl Fischer, 25. Mai 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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