Schweitzers Klassikwelt 107: Niklaus ist eine interessante Figur aus „Hoffmanns Erzählungen“

Schweitzers Klassikwelt 107: Niklaus ist eine interessante Figur aus „Hoffmanns Erzählungen“

Christa Ratzenböck als Muse / Niklas Stadttheater Baden 2009
Probenfoto: Christoph Breneis

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Es ist unglaublich, aber es gab wirklich Aufführungen, in denen Muse und Freund Niklaus mit zwei Sängerinnen besetzt wurden. Da ging viel an Reiz verloren. Denn erstens lebt die Oper oft von Verwandlungen und zweitens liebt in dieser Geschichte die Muse nicht allgemein die Dichtkunst und inspiriert die Dichter. Nein, einem Dichter gilt ihre Gunst und sie zeigt im Ersten Akt in Lutters Weinstube ihre Eifersucht auf die Opernsängerin Stella. Ob als Frau oder als Muse, sie will „sein Herz befrein, um sich nur der Muse zu weihn“. Er, Hoffmann, darf nicht durch ihren Gesang heute Abend als Don Giovannis Donna Anna ihr wieder verfallen. „Er muss wählen zwischen uns beiden und er gehöre immer mir! Ich werde mich in seinen Freund verwandeln.“

Die Muse beschwört die Geister des Biers und des Weins ihr durch einen heilsamen Rausch Hoffmanns zu helfen. Sie zeigt dabei einen gespaltenen Charakter, denn sie neigt eher zur apollinischen Form und Ordnung und nicht zu einem formsprengenden dionysischen Schöpfungsdrang. Dass sie sich ihrem eigentlichen Ideal entfernt hat, wird sie später bereuen, wenn ihr Einfluss auf den betrunkenen Dichter schwindet und sie ihm hilflos nur mehr Glück wünschen kann.

Ihre Methoden wirken eigenartig, wenn sie ihrem Freund Hoffmann Leporellos „Keine Ruh bei Tag und Nacht“ vorträllert, gerade als Stella in der Oper „Don Giovanni“ als Donna Anna Triumphe feiert und der Dichter gerade daran ist, seiner Liebe zur Sängerin abzuschwören. Aber diese Provokation hat ihr schöpferisch Gutes. Seine Angebetete bekommt drei Gesichter, Stoff für drei Geschichten, die sich die Studenten in Lutters Weinkeller lieber anhören als die Stella im zweiten Akt der Oper „Don Giovanni“. Sehen wir, welche Rolle Niklaus in den drei Erzählungen spielt!

Zweiter Akt „Olympia“:

Niklaus scheint mehr zu wissen, wenn er dem verliebten Hoffmann rät, die „Tochter“ des Physikers Spalanzani nicht nur anzustarren, sondern mit ihr in Kontakt zu treten. Ansprechen, sie kennenlernen, seine Liebe ihr auszudrücken. „Püppchen auf einer Spieluhr stand… ein Gockel plustert sich daneben, dann tanzen sie ein Menuett, abgezirkelt und adrett, man könnte meinen, dass sie leben.“ Hoffmann merkt den Spott, ohne diesen zu verstehen. „Püppchen rollt Augen aus Email, das macht das Hähnchen vollends geil.“ Niklaus macht sich weiter über seinen Freund lustig und über den eintretenden Coppelius, die er immer wieder nachäfft. Und wenn Coppelius Hoffmann nach seinem Interesse für Optik fragt, kommentiert Niklaus ironisch: „Er bietet auch Optik!“ Als Coppelius für die Wunderbrillen drei Dukaten fordert, wiederholt Niklaus nicht nur die Forderung, sondern fordert auch Hoffmann auf: „Bezahl!“. Bis dahin könnten wir glauben, Niklaus will seinem Dichterfreund behutsam die Augen öffnen. Aber durch diese täuschenden Brillen lässt er seinen Freund fast ins Unglück rennen.

Hoffmann schwärmt von Olympias Gesang vor den Festgästen und Niklaus stimmt ein. Als Spalanzani hinter seiner Olympia vorbeigeht, hört Niklaus ein Aufziehgeräusch und stellt dem Physiker die Frage: „Was gibt’s?“ Spalanzani weicht aus: „Nur rein physisch, wenn ihr wollt physikalisch.“ Wird Niklaus erst jetzt bestätigt, dass seine Beobachtung der Künstlichkeit richtig war? Alle Gäste haben Olympia bewundert, aber als Machwerk Spalanzanis. Niklaus fordert seinen Freund auf den ersten Tanz mit ihr zu tanzen, im Sinn sie richtiger (!) kennenzulernen. Hoffmann wirft den Gästen Blindheit vor. Niklaus ist überzeugt, nur durch Schaden wird sein Freund klug. Der Tanz artet zur Wildheit aus. Als der von Spalanzani um sein Geld betrogene Coppelius die Puppe zerstört, versucht Niklaus den verstörten Freund zu beruhigen.

Dritter Akt „Antonia“:

Niklaus klagt, wohl oder übel schon ein halbes Jahr hinter Herrn Krespels Tochter mit nachrennen zu müssen und will damit zu Ende kommen. Da fällt uns wieder Leporello ein. Als Antonia erscheint, verdrückt sich Niklaus in der siebenten Szene, um nicht zu stören. Im Mittelpunkt steht jetzt Antonia und die vor seiner Tochter geheim gehaltene Angst des Vaters, von einem Dichter wie Hoffmann zur für sie lebensgefährdenden Gesangskunst verführt zu werden. Antonia und Hoffmann verzichten, um von ihrem Vater nicht getrennt zu werden, aus Liebe zueinander auf eine gemeinsame künstlerische Karriere, sie Sängerin, er Dichter. Wieder allein kommen Antonia doch wieder Zweifel. Der böse Geist Dr. Mirakel fördert in ihr das schöne Gefühl, vom Publikum verehrt zu werden. Außerdem, darf sie ihr Talent vernachlässigen? Das von Dr. Mirakel herbeigezauberte Trugbild der verstorbenen Mutter bringt die tragische Umkehr. Mutters schöne Stimme darf in ihr nicht verstummen.

Niklaus kehrt erst wieder ganz zum Schluss in der dreizehnten Szene zurück, um seinen Freund vor einem Racheakt ihres Hoffmann die Schuld gebenden Vaters zu retten, dass er als Dichter und Künstler sie wieder zum den Tod bringenden Singen verführt hätte. Im Antonia-Akt steht Niklaus sehr am Rande, greift erst zum Schluss als Lebensretter Hoffmanns ein. In das übrige geschehen wird er nicht hineinverwoben.

 Vierter Akt „Giulietta“:

Giulietta und Niklaus singen mit Chor ein Hoffmann zu schmachtendes Liebeslied. Er stimmt mit einem andren Lied ein. Sein Tenor: Wer wird denn klagen, um das, was war. Wer wird Freuden entsagen, die wandelbar. Genuss ist alles, ganz und gar! Ein einz’ger Augenblick gelebt voll Ekstase zählt mehr als stilles Glück und als fromme Phrase. Jetzt ist Niklaus zufrieden. Oder soll er dennoch besorgt sein. Wenn sein Freund sich in einen Automaten verliebt hat, könnte er sich auch in eine Wolke aus Parfüm verlieben und war nicht auch Antonia eine Spieluhr? Niklaus hat immer zwei Pferde zu einer rettenden Flucht bereit. Nach Niklaus vertragen sich Spieltisch und Liebe nicht. Deshalb begleitet Niklaus Hoffmann gern zum Kartenspiel. Hoffmanns Freund behält recht. Der Dichter wird rückfällig. Zuerst tötet er den vermeintlichen Nebenbuhler Schlemihl. Nach dem Duell mit Schlemihl fleht Niklaus seinen Freund an, Venedig zu verlassen. Hoffmann will sich lieber von Niklaus trennen als von Giulietta. Niklaus sagt Giulietta die Wahrheit über den Ausgang des Duells. Diese fordert nun auch Hoffmann auf zu fliehen. Sie werde nachfolgen, doch soll er ihr zur Überbrückung sein Spiegelbild lassen. Als der Dichter einsieht, dass Giulietta ihn um sein Spiegelbild betrogen hat, will er sie in Wut töten, trifft jedoch Pitichinaccio, den Verkrüppelten, zu dem Giulietta einzig Gefühle hat. Machtlos muss Niklaus zusehen.

Ulrike Schneider (Nicklausse) und Marcus Haddock (Hoffmann), Hamburgische Staatsoper 24. Januar 1999

Zum ersten Mal nach Auffindung des Originalmanuskripts will Hoffmann Giulietta töten und trifft irrtümlich den verkrüppelten Pitichinaccio, zu dem Giulietta einzig Gefühle hat. Bildnachweis: Jörg Landsberg, Bremen

 Fünfter Akt „Stella“:

„Das, Freunde, war’s, die Geschichte meiner dreifachen Liebe.“  Niklaus fällt dem wütenden Hoffmann in den Arm, der mit einer Flasche gegen die nach der Don Giovanni-Aufführung zu feiernde Diva vorgehen will. Dann erklärt die verkleidete Muse den Anwesenden, dass Olympia, Antonia und Giulietta eine Frau sind, die als gefeierte Donna erscheinen wird. Stella ist hin- und hergerissen zwischen der Chance einer gesicherten Existenz und ihrer Neigung zum fantasievollen Poeten. Als Stella sofort auf Hoffmann zugeht und er sie als zerbrochene Olympia, verstorbene Antonia und als zum Teufel gegangene Giulietta anredet, hält sie den betrunkenen Hoffmann für verrückt. Niklaus teilt Stella spöttisch mit, dass sie zu spät komme. Die erloschene Liebe entflamme nicht von neuem. Da bietet ihr Lindorf die Hand. Niklaus triumphiert.

In einer anderen Fassung will Niklaus nun das Glas auf Stella erheben. Darauf reagiert Hoffmann: „Ich zerbrech dich wie dieses Glas!“ und zerschmettert es. Niklaus macht Hoffmann als seinem Freund Vorwürfe und Hoffmann bereut. Die Studenten zechen mit den Geistern des Weins weiter. Niklaus wendet sich als Muse an das Publikum, den reglosen Hoffmann ansprechend: Zu Hoffmann: „Bevor sie dich verließ, hat Stella dich reich beschenkt. Denn sie erst hat den Geist erweckt, der in dir dichtet. Tauschst für Liebe du ihn, wird der Zauber vernichtet. Dankbar sei ihr, denn sie hob dich zum Idealen! Einst hast du ihr gehört. Poet, nun bist du mein! Leider folgt’ er nicht meinem Ideale. Gab sich maßlos hin Rausch und Fantasie. So ist die Muse kläglich gescheitert, da er ihren Rat übertrieb. Fahr hin, Allegorie, ich lasse die Verkleidung. Die Muse nimmt ihr Wort zurück. Bleibt er liegen im Rausch oder fällt er die Entscheidung? Hilflos liebend wünsch ich ihm Glück.“ Die Muse verwandelt sich wieder in Niklaus. Hoffmann sieht in Lindorf Coppelius, Dr. Mirakel, Dapertutto. Dieser animiert Hoffmann zu weiterem Trinken.

Da tritt Stella liebevoll zu Hoffmann. Die Musik gäbe ihr nicht das, was Hoffmann zu bieten hätte. Hoffmann fühlt, wie sehr noch sein Herz für Stella schlägt. Währenddessen bietet ihr Lindorf wertvollen Schmuck. Stella entscheidet sich für Lindorf und Hoffmann solle sich mit Dichten trösten. Und Niklaus: „Sie (Anm.: die Muse) ist dir treu geblieben und hilft zu höher’m Wohl. Sie bringt dir Glück, wird falsches Lieben zu Gedicht umgeschrieben. Die Muse, sie liebt dich!“

In beiden Fassungen singt Hoffmann anzüglich und spöttisch auf Stella und den Geheimen Rat Lindorf gemünzt eine letzte Strophe von „Klein-Zack“. „Wer ist’s, der sich ruinieren mag? Ja, das ist unser Rat und der heißt Klein-Zack.“  Und den Refrain singt der Chor der Studenten mit.

In Anbetracht der Beliebt- und Bekanntheit von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ haben wir uns erlaubt die umfangreiche Inhaltsangabe zu straffen und das Hauptaugenmerk auf die nur mittlere Mezzosopran-Partie der Muse/ des Niklaus zu richten. Als Quelle diente uns das Reclam-Textbuch in der Ausgabe aus dem Jahr 2005.

Im Opernführer des gleichen Verlags wird in der Ausgabe von 1982 bei den Personen ein Niklaus als Freund des Dichters angeführt, aber nicht als verkappte Muse. Nicht in der Handlung, sondern nur in der Werkgeschichte wird die Muse erwähnt. Das fanden wir in einem Druck von 2019 in der Auflistung der Personen ergänzt.

Ganz im Gegenteil dazu wird in der Inhaltsangabe im Programmheft von „Hoffmanns Erzählungen“ des Stadttheaters Bühne Baden, Herbst 2009, auf die Rolle des Niklas in den drei Geschichten Hoffmanns nicht näher eingegangen. In Abweichung vom Libretto wird das Trunkenmachen des Dichters zielgerichteter dargestellt, denn im Rausch findet Hoffmann seine dichterische Kraft wieder.

Kip Wilborn als Hoffmann   © Christian Husar

Im „Handbuch der Oper“ des Bärenreiter Verlags findet der gute, hilfreiche Geist des Niklaus seine Würdigung. Wikipedia bietet die detailreichste Information.

Mit zunehmender Lebenserfahrung wird diese Oper immer interessanter und sogar lebensnaher. Wir erfahren im Freundeskreis von weiblichen „Niklausen“, die nicht ganz uneigennützig einen Mann von einer falschen Partnerinnenwahl bewahren wollen. Die Frage ist, ob die Muse alias Niklaus in den verschiedenen Situationen immer untadelig handelt. Eifersucht wird als an sich unangenehme Emotion bei Befragungen überwiegend positiv bewertet, wenn sie nicht überhand nimmt.

Heiligt der Zweck die Mittel, wenn die Muse ihren Dichter zu mehr berauschenden Mitteln animiert? Darf Niklaus seinen Freund reizen, indem er ihn mit seinem „Notte e giorno faticar“-Trällern herausfordert? Manchmal wirkt Hoffmanns Begleiter feinfühlend, manchmal wird er wiederum spöttisch, dann wieder versucht er Hoffmann zu beruhigen oder zu trösten. Mit Einsatz seiner körperlichen Gesundheit verteidigt er Hoffmann vor dem tödlichen Racheakt des verzweifelten Vaters von Antonia. Zu Beginn des vierten Akts überrascht uns immer wieder das gemeinsame Besingen der Liebesnacht von der Kurtisane Giulietta und dem Freund des Dichters. Darf er im späteren Verlauf der Handlung eigentlich zum Fluchthelfer aus Venedig werden?

Mein erster „Hoffmann“ am 2. Januar 1959 beindruckte vor allem durch die Spiegelarie und die Verklärung von Freund Niklaus zur Muse. Für Ernst Bloch ein spießiges Happy End. Operettenhaft wirkt als Schluss eine Volte zum allerersten Schlager dieser fantastischen Oper, dem Lied von Klein-Zack, vom Komponisten laut Forschung so gewollt.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 6. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

Schweitzers Klassikwelt 106: Ein Blumenstrauß hervorragender Kritiken klassik-begeistert.de, 23. Januar 2024

Schweitzers Klassikwelt 105: Arien und Opern oftmals gehört und wie nur einmal erlebt klassik-begeistert.de, 9. Januar 2024

Schweitzers Klassikwelt 104: Wenn die erste Begegnung mit einer Oper über den Rundfunk stattfand klassik-begeistert.de, 26. Dezember 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert