Schweitzers Klassikwelt 112: Die Frist ist um und abermals verstrichen sind sieben Jahr

Schweitzers Klassikwelt 112: Die Frist ist um und abermals verstrichen sind sieben Jahr  klassik-begeistert.de, 16. April 2024

Bild: John Byam Liston Shaw Colour Lithography

Noch ist die Frist nicht endgültig um und es werden das erste Mal bloß dreieinhalb Jahre vergehen, bis ich „dem bleichen Mann“ wieder begegnen werde. Beim nächsten Mal sind fast genau sieben Jahre vergangen. Aber der unglückliche Mann wird für uns jedes Mal verändert wirken. 

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Am letzten Apriltag des Jahres 1962 erschien eine hochgewachsene Gestalt. Da brach diese plötzlich so zusammen, dass wir glaubten, um den Sänger bangen zu müssen. Hans Hotter war der glückliche Besitzer eines für diese Partie idealen Bassbaritons mit großem Stimmumfang. Seine Stimme hatte Volumen, aber dafür weniger Schall (Tragfähigkeit).

Was mich im Herbst 1965 zu einem Wiedererleben bewog, ist mir heute unverständlich. War es die Silja als Senta oder der Greindl als Daland im Vergleich zu Gottlob Frick? Oder einfach das Bedürfnis eines Wiederhörens dieser romantischen Oper? Der Holländer war ein anderer geworden. Otto Wiener war ein hell klingender Bariton, ursprünglich ein Oratoriensänger, der als Ottone zur frühbarocken „L’incoronazione di Poppea“ Monteverdis gut passte. Meine Erstbegegnung mit ihm als Kurwenal habe ich trotzdem in sehr guter Erinnerung. Sein heller Bariton gepaart mit einer Wortdeutlichkeit störte deswegen bei seinem Hans Sachs keinesfalls. Als Charakterbariton prädestiniert für den zwielichtigen Cardillac fehlte Otto Wiener als unglücklicher Holländer jegliche, auch stimmliche Ausstrahlung. Passivität allein war für die künstlerische Darstellung zu wenig.

Fast genau in sieben Jahren kehrte der Holländer alias der Neuseeländer Donald McIntyre mit einem Bassbariton, also einer tiefen, schwertönenden Klangfarbe zurück. Ein Jahr darauf wieder.

Dann vergingen zweimal sieben Jahre. Szenenwechsel ins Tiroler Landestheater. Die Vorgeschichte: In der österreichischen Erstaufführung von Bernsteins „A Quiet Place“ unter der Leitung des Komponisten und in der Inszenierung des Librettisten der Oper, Stephen Wadsworth, sang ein dynamischer Bariton den jungen Sam. Als dann das Tiroler Landestheater Edward Crafts als Fliegenden Holländer ankündigte, hieß es: Auf nach Innsbruck! Doch eine andere Persönlichkeit stand da auf der Bühne. Ich durfte mich nicht selbst belügen. Steif und stimmlich verhalten war der Sänger eine arge Enttäuschung.

Vierzweidrittel Jahre Wartezeit. Robert Hale der neue Wagner-Held in Wien singt einen beeindruckenden Holländer.

Und dann vergehen nahezu dreimal sieben Jahr’ und wir haben das Gefühl, es sind Jahrhunderte vergangen. Der Holländer ist ein völlig andrer geworden! Er wird mit Integrationsfragen konfrontiert. Und der Steuermann singt von einem Liebchen, das noch ein Traum ist, welcher mit einer Dunkelhäutigen in Erfüllung gehen sollte. Er wird aber immer wieder von ihr abgedrängt.

„Der fliegende Holländer“, Stadttheater Klagenfurt © Helge Bauer

Des Holländers Auftritt, der ja eigentlich für uns nicht mehr unerwartet erscheint, ist ungewöhnlich. Seine Mannschaft begleitet ihn und sie wirken wechselseitig aufeinander ein.

„Der fliegende Holländer“ Renatus Mészár mit Ensemble, Stadttheater Klagenfurt © Helge Bauer

Beckmesserisch hegten wir den Verdacht, dass dadurch für den Sänger der Druck gemildert wird, wenn das Publikum nicht auf seine Person fokussiert ist. Dem Holländer des Renatus Mészár ging noch dazu ein besonderer Ruf voraus, der die Erwartungen dann sehr, ja zu hoch schraubte.

Die Erscheinung des Holländers kann so verschiedene Eindrücke hinterlassen, dass man an ihrer Objektivität wie bei Visionen zweifeln könnte. Die Klangfarbe fesselt einen oder lässt gleichgültig. So hörten Sylvia und ich drei Jahre später an ein und demselben Abend nicht identische Holländer.

Der Eindruck ist noch frisch. Knappe drei Monate alt. Kein Schiff mit blutroten Segeln erscheint in der Tiefe der Bühne. Nein, wir sitzen auf den Stufen der Feststiege und eine Schiffsratte seilt sich zu uns ab. Sie wird uns bei diesem Opernabenteuer begleiten.

Christina Kiesler, Wasserratte, Freundin Sentas und Moderatorin © Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Der bleiche Mann platzt in die Geburtstagsparty der Senta, die erblasst trotz ihres Faibles für die Schauerlegende vom Fliegenden Holländer und ihrem Holländer-T-Shirt. Eine Zeitung schreibt von seinem rabenschwarzen Blick und seiner dazu passenden Stimme. So rabenschwarz haben Enkel Aeneas und ich den Bariton des Mitglieds des Opernstudios Jusung Gabriel Park allerdings nicht empfunden. Der Seemann hat nicht Gott verhöhnt, sondern einer Meeresgöttin eine Muschel mit drei magischen Perlen geraubt, die vor Unwetter schützen und guten Wind in die Segel blasen. Versteinert wartet diese auf die Rückgabe des ruhelosen Geisterkapitäns. Teamarbeit zwischen dem kleinen Publikum, der Schiffsratte und Senta ist angesagt.

Zwar in dem konkreten Fall für Kinder angepasst, ist diese letzte „Begegnung“ ein Musterbeispiel, wie man die herrliche Musik einer Oper mit problematischem Inhalt, weil sie mit einem Opfertod endet und die Bestimmung der Frau einseitig als dem Mann sich Aufopfernde sieht, retten kann.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 16. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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