Schweitzers Klassikwelt 22: Renée Fleming – Die Biografie meiner Stimme (2. Teil)

Schweitzers Klassikwelt 22: Renée Fleming – Die Biografie meiner Stimme (2. Teil)

Foto: © Decca / Timothy White

Fleming beginnt jetzt im zweiten Teil bei uns Zuhörern mit dem Klischeebild von SängerInnen aufzuräumen, von Vögeln, die auf einem Blütenzweig trillern und von Körnern leben, wie sie es humorvoll ausdrückt.

von Lothar Schweitzer

Sie erzählt im Kapitel „Geschäftliches“ von den schwierigen Aufgaben einer Agentur. Den richtigen Zeitpunkt für eine Presseaussendung zu bestimmen. Soll man Schwerpunkte wählen oder nicht? Die moderne Musik streichen? Nicht zu viele neue Rollen einstudieren. Die heilsame Lehre, nicht alles für alle sein zu können. Musikalische Entdeckungsreisen gestatten nicht, sich als eine Mozart- oder Strauss-Expertin zu bezeichnen. Und die Schwierigkeiten der Terminplanung: Was fünf Jahre im Voraus geplant werden muss, kann zwei Jahre vorher eng wirken und zwar durch dazugekommene Interviews, Fernsehauftritte, Reiterwettbewerbe der eigenen Kinder, Krankheiten.

Sie spricht für die Notwendigkeit der Betreuung durch ein professionelles Management, das den Überblick bewahrt. Wann sind in einem Vertrag Reisespesen, wann Hotelkosten inbegriffen? Orchester und Dirigenten und nicht nur das Programm sind dafür entscheidend, ob man einen Vertrag abschließt. Das Aushandeln eines Tantiemenvorschusses, weil Tantiemen bei Plattenverträgen erst, wenn schwarze Zahlen aufscheinen, ausbezahlt werden.

Wann ist der geeignete Moment, eine Plattenaufnahme durch eine Tournee zu unterstützen? Welche Stücke man aufnehmen soll, muss mit der Firma besprochen werden unter Hinzuziehung von Expertengutachten eines Musikwissenschafters. Sich nicht nur auf einen Komponisten zu lange spezialisieren, da sonst die Stimme in eine Sackgasse gerät. Bei Liederabenden darauf achten, dass auch der Begleiter genügend gefordert ist.

Renée Fleming als “Thaïs.” Photo: Ken Howard/Metropolitan Opera

Renée Fleming ist sich der Wichtigkeit des Buhlens um die Jugend bewusst. Die Oper lässt sich als etwas vermarkten, das sexy und hip ist. Sie ist nicht nur mehr etwas für Fans von Operndiven. Die Zuhörerschaft schrumpft in der westlichen Welt.

Gänzlich neue Erfahrungen machte die Opernsängerin bei der Filmmusik für Tolkiens „Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs“. Auf der Suche nach einem mittelalterlichen Klang musste sie jedes Fünkchen Ausdruck aus der Stimme nehmen für den denkbar reinsten Klang. Kein Vibrato, keine Dynamik, kein Ineinanderschleifen von Tönen. Trotzdem blieb erstaunlich viel Wärme im Klang. Das kam ihr bei der Interpretation von Barockmusik zugute.

Gegenüber von Schallplattenaufnahmen findet sie In der Filmindustrie beneidenswert die endlose Zeit für Wiederholungen, ein Orchester wird monatelang beschäftigt.

Es werden die Pseudo-Opernsänger ohne Ausbildung für die Bühne ins Visier genommen. Sie schreibt über professionelle Werbefotografie für Labels, die Cellistin in enger Kleidung um ein Cello gewickelt.

Ohne Verkaufszahlen keine weiteren Aufnahmen, die das Vergnügen und den Luxus bedeuten, eine Woche im Studio zu stehen und sich ganz auf die Musik konzentrieren zu können, ohne unbequeme Kostüme, ohne Sorgen um Publikum und Kritiker, ohne Angst vor Textausfällen. Die Zukunft der Plattenindustrie wird zunehmend bedroht durch Raubkopien. Studioaufnahmen wird es bald nicht mehr geben. Die großen Labels werden verschwinden. Opern werden nur noch in Form von Live-Mitschnitten und DVDs angeboten werden.

Im Kapitel „Langlebigkeit“ steht gleichsam als Lehrsatz: „Man kann die Stimme nicht schützen, indem man leise singt.“ Also war es doch ein Risiko und keine ideale Lösung, Verena Barth-Jurca als Prinzessin Bichette trotz Erkältung in der Maria-Theresia-Operette „Die Kaiserin“ in Baden bei Wien mit Microport singen zu lassen.

Interessant auch Dr. David Slavits Forschung über den natürlichen Alterungsvorgang des membranartigen Gewebes der Stimmbänder, das man vielleicht wie unsre Gesichtshaut regenerieren und verjüngen könnte.

Gegen Ende dieses Kapitels wendet sich Fleming an die Opernliebhaber, die das Ende des Goldenen Zeitalters des Gesangs beklagen. Vor der Einführung der Untertitel und als man noch in der Sprache der Zielgruppe des Publikums sang, galt als Priorität, dass man verstanden wurde. In der Geschichte der Oper war früher die Aussprache so deutlich, weil auf Helligkeit und Glanz Wert gelegt wurde, statt auf Wärme und Rundung. Die Hervorbringung schöner hoher Töne erfordert es, sehr viel Raum im Mund zu schaffen, was für die deutliche Aussprache von Konsonanten kontraproduktiv ist. Wörter verleihen einer Phrase Farbe, sonst entsteht ein formloses Kontinuum von Legato-Klängen.

Unter der Überschrift „Image“ behauptet Fleming, Zuschauer begegnen Neulingen mit einer besonderen Zuneigung, in der Hoffnung, das nächste große Talent zu entdecken. Diese Einstellung kann ich dem Wiener Publikum nicht bescheinigen.

Auch in diesem Kapitel vergibt die erfolgreiche Sopranistin keine Gelegenheit, jungen KollegInnen Tipps zu geben. Sie mögen einen Spielraum für Fehler einkalkulieren, „sonst denkst du weiter über diesen Fehler nach und dann ist wirklich die Vorstellung ruiniert“.

Fleming in ‚La Traviata‘ Photo by Robert Millard

Bei einer weiblichen Künstlerin darf natürlich auch die Beschreibung einer Kostümprobe nicht fehlen. Wir fühlen uns in das Vorspiel von „Ariadne auf Naxos“ versetzt. Es wirbeln um sie herum der Zuschneider, ein Spezialist für den Schmuck, ein Spezialist für die Schuhe, der Perückenmeister. Mit der Zeit erkämpfte sie sich als Rolleninterpretin ein Mitspracherecht.

Als nächstes Thema kommen die Auftritte dran. Der Kontakt mit dem Publikum bei Konzerten kann falsch eingeschätzt werden. Das Auditorium kann beklemmend ernst wirken und dann stürmisch applaudieren. Konzentration seitens der Zuhörerschaft kann irrtümlich für ein kritisches Vorurteil gehalten werden.

Was Rollen betrifft, lesen wir: „Gerade wenn ich glaube, ich kenne die Frau, die ich darstelle, endlich richtig, passiert etwas, das eine andere Facette ihrer Persönlichkeit enthüllt.“ Fleming sieht plötzlich eine andere Möglichkeit, auf einen Dialog zu reagieren.

Renée Fleming als „Rusalka.“ Photo: Ken Howard/Metropolitan Opera

„Problem Desdemona. Warum wird sie sich der eifersüchtigen Raserei ihres Mannes nicht bewusst? Sie ignoriert den Grund für seine Zweifel am Wesen ihrer Tugend. Ich begriff erst, als ich selbst die Rolle vorbereitete, sie als reine Unschuld, als wahre Naive zu erleben, die bedingungslos an die Liebe, die sie mit Otello verbindet, glaubt, so dass sie sich nicht vorstellen kann, es könne sie etwas entzweien.“

Verdis Musik bleibt Flemings Meinung nach nicht greifbar, ist geheimnisvoll, gibt Gelegenheit zu experimentieren. Abend für Abend Varianten durchspielen, was sich an diesem speziellen Abend wie ein organischer Bestandteil anfühlt. Dieses Mal ist es die der Schwindsucht geschuldete Atemlosigkeit zum Symbol dafür zu machen, dass sie sich in die romantische Affäre fallen lässt. Es tut mir wohl, dass auch die Fleming ihre Kollegin Ileana Cotrubas als Violetta so hervorhebt. Ihre Stimme drückte in großem Maß Verletzlichkeit aus. Auch für mich bleibt sie die Violetta.

Im vorletzten Teil „Hinter den Kulissen“ zeigt die Autorin wieder einmal ihr schriftstellerisches Talent. Sie vergleicht die Atmosphäre vor dem Auftritt mit einer glutofenheißen, hektisch betriebsamen Küche und schildert das Hineingeworfen-Werden in einen Saal voll von eleganten Gästen. Das Schreiten durch Gänge mit niedrigen Decken und Neonröhren hinaus in eine Welt vergoldeter Logen und Kronleuchter.

Fleming in „La Traviata“

Zwei Äußerungen Flemings stelle ich an den Schluss. Da ist ihr schönes Erlebnis einer „La Traviata“, eines Liebesakts zwischen Dirigenten und Orchester, zwischen Dirigenten und Solistin, als hätte sich Carlos Kleiber in die Cotrubas verliebt.

Die zweite steht im letzten Absatz ihrer Biografie und ist für mich schwerer zu erfassen. Renée Fleming schreibt von winzigen Splittern ihrer Stimme, die Schülerinnen, die sie in einer Meisterklasse unterrichtete, verinnerlichen werden, genauso wie winzige Nuancen vom strahlenden hohen C der Leontyne Price auf sie übergegangen sind. „Meine Stimme wird auf dieselbe Art weiterleben, nicht nur durch Plattenaufnahmen, sondern durch meine Töchter und durch deren Töchter und Söhne, soweit die Familienlinie geht. Das bedeutet nicht, dass wir alle Sänger werden müssen, aber dass wir alle im Leben eine Leidenschaft finden, und vielleicht wird sich ja ein Teil dieser Leidenschaft in der Stimme finden. Sogar in einem gesprochenen Wort werden die Leute es hören: den Reichtum und das Wunder all der Musik, die uns vorausgegangen ist.“

Lothar Schweitzer, 24. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

Lothar und Sylvia Schweitzer

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