Schweitzers Klassikwelt 21: Renée Fleming – Die Biografie meiner Stimme (1. Teil)

Schweitzers Klassikwelt 21: Renée Fleming – Die Biografie meiner Stimme (1. Teil)

Was für ein Unterschied zwischen der Autobiografie der Ira Malaniuk und jetzt Flemings (Geburtsjahrgang 1959) ebenfalls selbstverfasster Lebensbeschreibung! Im ersteren Fall lasen wir über die sicher mit gerechtfertigtem Stolz vorgebrachte Aneinanderreihung erfolgreicher Opernabende, hier staunen wir über die bezwingende Art von Ehrlichkeit ihre zu überbrückenden Schwierigkeiten im Kunstgesang nicht zu verheimlichen. In so manchen Absätzen und Zeilen steckt obendrein ein Hauch von Poesie.

von Lothar Schweitzer

Das Porträtfoto auf der Vorderseite der Schutzhülle zeigt ausdrucksvolle blaue Augen. Nach meinen Vorstellungen verrät das Gesicht die typische Amerikanerin. Die Künstlerin selbst beschreibt sich mit vererbten slawischen Gesichtszügen, die das Gesicht nicht zu schmal erscheinen lassen, was auf der Bühne von Vorteil sein soll.

Es war reizvoll, die Autobiografien von Ira Malaniuks „Stimme des Herzens“ und Renée Flemings „Die Biografie meiner Stimme“ hintereinander zu lesen. Der Vietnam-Krieg in Ostasien spielte im Leben der US-Amerikanerin keine so prägende Rolle, während die vierzig Jahre früher geborene Ukrainerin in ihren ersten Opernjahren sowohl deutsche Bombenangriffe als auch sowjetrussische Verschleppungen miterleben musste.

Achten wir auch auf die Untertitel der beiden Bücher! „Stimme des Herzens“ klingt werbend. Die Lebensgeschichte bringt eine aufgelockerte Auflistung der Erfolge. „Die Biografie meiner Stimme“ spricht ehrlich von den Schwierigkeiten ihrer Ausbildung zur Sängerin. Von ihren Unsicherheiten über die fünf Notenlinien hinaus. Sie muss sich sagen lassen: „Ihr G ist falsch.“ Und berichtet ganz offen darüber. Wir finden Beschreibungen ihres Versagens. Bei der Lektüre wurde ich an den Film „Chorus Line“ erinnert, in dem die KanditatInnen einen Seelenstriptease vollziehen. In Europa bei einem Vorstellungsgespräch undenkbar.

Die Autobiografie liest sich an vielen Stellen wie ein Handbuch für GesangsstudentInnen, vielleicht auch für OpernrezensentInnen, und ist mit ihren Ratschlägen von geradezu pädagogischem Wert.

Bruchstückhaft seien Beispiele gebracht. „So viele Muskeln können die Hervorbringung der Laute beeinflussen.“ „Eine Anspannung der Oberlippe kann die Stimme für den ganzen Tag ruinieren.“ „Es wird die Richtung des Luftstroms gewechselt. Der Einsatz der Resonanz verwandelt den Klang, der zunächst vorwärts, hell und offen ist, dann aber eine Oh-Stellung einnimmt und auf den weichen Gaumen zielt. Das gibt dem Ton einen Klang, als ob der Sänger gerade einen hellen Ton genommen und ihm einen Deckel aufgesetzt hat.“

Foto: (c) Andrew Eccles

Unsere erfahrene Sopranistin warnt vor zu kräftigem Singen bei den Noten um die oberste Notenlinie herum, sonst wird „der junge, biegsame Baum bald zur Steinsäule“. Sie schreibt vom Muskelgedächtnis, dass wir uns auf die unwillkürlichen Muskeln verlassen müssen, und von der Bemühung nicht benötigte Muskeln nicht einzubeziehen, denn jede Spannung im Gesicht und die Art der Kinnhaltung können ein schwieriges Stück zu einem unmöglichen machen. Zweieinhalb Oktaven sollen sich wie fünf Tonschritte anfühlen ohne Empfindung einer Auf- und Abwärtsbewegung, stattdessen eines Vorwärtsschreitens.

Sie offenbart ihre Gedanken, die sich einmal bei der Schlussszene in „Capriccio“ einstellten: Der Klang ist etwas körnig geworden. Jetzt ganz sachte mit dem Atem. Hör auf zu schieben. Heb den Brustkorb und entspanne Rachen und Kapuzenmuskel. Gut, jetzt ein bisschen mehr Atem zuführen. Diese ihre Ausführungen erinnern mich an ein Comic-Symposion, auf dem ein berühmter Cartoonist die Bemerkung fallen ließ, er hätte gar nicht gewusst, wie schwer sein Tun sei.

Es ist von Experimenten die Rede, vom Bleistift zwischen den Zähnen beim Vokal E. Das erinnerte mich an ein mexikanisches Frauenensemble, das „Donna Giovanni“ im ehemaligen Wiener Messepalast, heute MQ (Museumsquartier) genannt, aufführte. Da sang eine Altistin die Registerarie mit langen Stricknadeln zwischen den Zähnen, die sie, eine nach der anderen, herauszog, um Donna Elvira gleichsam am Marterpfahl aufzuspießen.

Renée Fleming als Manon

Die Schlüsselstelle in Flemings Biografie sehe ich in ihrem Gedanken, wäre sie als Tochter einer Billetteurin durch glamoureuse Premieren mit der Oper in Berührung gekommen, hätte ihre Laufbahn als Sängerin einen anderen Weg genommen. So erlebte sie die Gesangskunst als Tochter gestrenger professioneller Musiklehrer als „Per aspera ad astra“. Sie wurde daran gewöhnt sich unterzuordnen, um es recht zu machen ein Chamäleon zu sein. Deshalb hatte sie am Anfang ihrer Laufbahn in Jazz-Clubs Schwierigkeiten, denn Jazz ist nach ihrer Beschreibung die Musik des freien Willens. Zum Singen gehörte immer neue verbindende Worte zu sprechen. Sie musste lernen, wie man mit dem Publikum redet.

Ihr Vater war handwerklich nicht begabt und trotzdem studierte er lange Gebrauchsanweisungen, um Montagen selbst zu bewerkstelligen. Durch den elterlichen Drill des Nur-nie-Aufgebens lernte Fleming „unsägliche Träume zu verwirklichen“ und war sich lange nicht bewusst, dass sie zum Vorsingen an ihre Grenzen gehende Partien auswählte. Auf der anderen Seite bewahrte sie dieser Ehrgeiz davor, als „geborene Schülerin“, wie sie sich charakterisiert, bei der guten Schule Mozart stehen zu bleiben und nur als Contessa auf der Welt gefragt zu werden. Ehrgeiz beschreibt sie nicht als Übertrumpfen wollen, sondern als den Willen, seine Grenzen zu erweitern.

Mit der Zeit erfolgte die Einsicht, dass nicht das Passive „allen gefallen zu wollen“ die lebendige Mitte sein darf, sondern das Bewusstsein, dass Musik mein Leben ist. Und dass Stimmen wegen ihrer Fremdheit und auch wegen ihrer Unzulänglichkeiten geliebt werden, dass der Wiedererkennungseffekt von Wert ist.

Wir leben mit einer Sängerin mit, die nicht frei von neurotischen Zwängen ist. Geholfen hat ihr das Buch von Eloise Ristad „A Soprano on Her Head“. Die Pianistin schreibt nicht nur von den eigenen Erfahrungen als Begleiterin, sondern recherchiert auch in der Geschichte der Gesangskunst. Fleming befasst sich auch mit Zen in der Kunst des Bogenschießens. Sie korrigiert. Nicht: Heute Abend will ich in meiner Kehle mehr Platz für die hohen Töne finden. Nein, heute Abend werde ich mehr Platz für die hohen Töne finden.

Fleming genoss, weniger Ängste als bei „Dove sono“ zu haben, als André Previn eigens für sie die Partie der Blanche in „A Streetcar Named Desire“ komponierte.

Als Heiligen ihrer neurotischsten Jahre bezeichnet sie den Orchestermanager Rick Ross, den Vater ihrer zwei Töchter und eine Zeit ihr Ehemann. Ein verständnisvoller Briefwechsel stand am Anfang, in denen seine eigenen Einsamkeitserlebnisse im Koreakrieg eingebunden waren.

Renée Fleming hat schriftstellerisches Talent, ich möchte sogar von einer poetischen Ader sprechen. Sie lässt uns mitfühlen, wie es ist, wenn junge Sängerinnen ihren Idolen wie in ihrem Fall Elisabeth Schwarzkopf in Meisterklassen begegnen.

Ihre Lehrerin an der Juilliard School in New York Beverley Johnson, nach Fleming ein Teil ihres Lebens, sah, dass ihre Schülerin durch den Einfluss Schwarzkopfs übertrieb. Die Technik war für Lieder in einem kleinen Saal gedacht. Die Stimme war tief in den Hals gewandert. Alles musste rückgängig gemacht werden. Nur in Flemings Ohren hörte sich der Klang wunderschön an. So glaubte sie anfangs Beverley nicht.

Lothar Schweitzer, 23. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ira Malaniuk –  Stimme des Herzens: Autobiographie einer Sängerin, Teil 1

Ira Malaniuk: Stimme des Herzens – Autobiographie einer Sängerin, Teil 2

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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

Lothar und Sylvia Schweitzer

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