Beziehungsmorde waren früher Themen für den Lokalteil einer Zeitung. Heute werden sie neben Berichten mit internationaler Bedeutung in den Hauptnachrichten der Fernsehanstalten ausgebreitet. Die Betroffenheit der Zuseher ist ihnen sicher. „Unfassbar!“ hören wir immer wieder aus unsrem Umkreis.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Und dann geht am Abend der Vorhang auf. Früher in Smoking und Robe, heute eher „smart casual“ oder „casual elegant“ werden wir Zeugen eines tödlichen Delikts, wohl dramaturgisch kunstvoll aufgebaut und durch Bizets Musik „veredelt“.
Wie aus einem Spiel Ernst wird erleben wir als Theater im Theater in „Pagliacci“. Wir müssen uns in das Publikum auf der Bühne hineinversetzen, wenn der Sänger des Canio sich zum Schluss, nachdem er seine Frau Nedda und deren Liebhaber Silvio getötet hat, an die Zuschauer wendet: „Das Spiel ist aus.“
Wir erfahren häufig durch die Medien, der Täter habe sich selbst gestellt oder Selbstmord begangen. Unwillkürlich müssen wir da an „Otello“ denken: „Jeder Knabe kann mein Schwert mir entreißen.“
Wenn Pedro gegen Schluss der Oper „Tiefland“ glückstrahlend „hinauf in meine Berge“ singt und daneben der erwürgte Sebastiano liegt, so stellt sich gar nicht die juristische Frage, ob es Notwehr war. Wir leben in dieser Oper, die in den Pyrenäen und am Rande dieser mächtigen Gebirgskette spielt, in einer noch archaisch anmutenden Welt.
Nach einer Aufführung des „Cardillac“ trafen wir an der Garderobe meinen ehemaligen, sehr verehrten Universitätslehrer. In seiner typischen trockenen Art seine Bemerkung: „Die Apotheose eines Mörders.“ Amélie Niermeyer, die das Stück in seiner Originalfassung am Salzburger Landestheater inszenierte, sieht den Inhalt gesellschaftskritisch komplexer. Die sensationslüsterne Gesellschaft treibt den Kunstpreis in die Höhe. Des Goldschmieds Schmuckstücke erhalten durch die ungelösten Raubmorde eine magische Aura. Ein richtiger Hype entwickelt sich um Cardillac.
Der österreichische Opern-„Guru“ Marcel Prawy stellte einmal die Oper „Tosca“ im Fernsehen vor und charakterisierte sie als ein sehr brutales Werk. Wir empfinden schon Puccinis Einakter „Il tabarro“ als überaus roh und gewalttätig, wenn Michele vor den Augen seiner Frau Giorgetta die Leiche ihres Liebhabers Luigi aus seinem weiten Schiffermantel fallen lässt. Der zweite Teil des „Trittico“, „Suor Angelica“, lässt nur für die Gläubigen unter dem Publikum einen Lichtstrahl erkennen. Puccini komponierte bei seinem „Flügelaltar“ zu den zwei tragischen Stücken nach antikem Muster ein befreiendes Nachspiel. Über den Sinn eines solchen lässt sich freilich diskutieren. Wir bevorzugen die Kombination der drei Einakter mit anderen Kurzopern.
Drei der beliebtesten Opern Giacomo Puccinis enden mit einem Selbstmord. Der Roman von John Luther Long, der Puccini zu seiner „Madama Butterfly“ inspirierte, kennt noch keinen tragischen Ausgang. Die Zofe Suzuki kneift den kleinen Sohn Cio-Cio-Sans, um ihn zum Weinen zu bringen und damit mütterliche Gefühle zu wecken. Madame Butterfly wird so vor ihrem Selbstmord bewahrt. Für einen Vertreter des Verismus kein tauglicher Schluss, was uns jedoch zu denken geben soll.
Wir machten Stichproben, was Programmgestaltung betrifft. Aussagekräftig für unsere Untersuchung konnte nur ein Repertoiretheater entsprechender Größe sein. Letztendlich wählten wir die Wiener Staatsoper. Wir untersuchten 286 Opernvorstellungen von dreizehn Monaten. In 93 von diesen werden Morde oder Selbstmorde dem Publikum vor Augen geführt. Anschaulicher dargestellt, durchschnittlich in jeder dritten Aufführung muss mit derartigen Gewaltakten gerechnet werden. Es gibt zwar Monate mit nur drei Fällen, dafür dann wieder Monate mit fünfzig Prozent an Fällen. Dabei haben wir mit Ausnahme der Strauss’schen „Elektra“ Werke, welche sich an die Mythologie anlehnen, wie „Der Ring des Nibelungen“ in die Gesamtsumme mit einbezogen, aber nicht unter den 93 mitgezählt. Auch Grenzfälle blieben unberücksichtigt, wenn bei Hinrichtungen politische Motivationen dahinter stecken („Andrea Chénier“). Ebenso wird Verdis „Aida“ als Grenzfall ausgespart. Bei der angeblichen Kinderoper „Hänsel und Gretel“ handelt es sich um Notwehr, Liùs Tod in „Turandot“ ist als Aufopferung zu werten und somit fallen beide auch nicht in die von uns behandelte Kategorie.
Auf Distanz gegangen mussten wir bei der Herausgabe einer privaten Briefsammlung feststellen, dass bei den fünfzehn Briefen sechs mit dem traurigen Verlust eines Menschen in Zusammenhang stehen. Dass Liebe und Tod in der Literatur oft innig verbunden sind, ist also keine hohle Phrase. Erstaunt wurde uns aber auch bewusst, dass in drei Briefen ein gewaltsamer Tod zu beklagen war.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 29. Juni 2021, für
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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“