„Peter Grimes“ ist ein ernstes Werk. Doch haben wir beim Verlassen des Theaters nur Menschen gesehen, deren Gesichtszüge Bereicherung spiegelten.
Peter Grimes, Theater an der Wien, 23. Oktober 2021
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Es war eine gute Entscheidung, diese preisgekrönte Produktion aus dem Jahr 2015 nach sechs Jahren neueinstudiert wieder zu präsentieren. Die nominierten Mitbewerber (Finalisten) bei den International Opera Awards in der Kategorie Neuinszenierung waren im Jahr 2016 die Welsh National Opera mit „I puritani“, die Lyric Opera of Chicago mit „Wozzeck“, die Vlaamse Opera mit „La Juive“, das Glyndebourne Festival mit Händels „Saul“ und die Salzburger Osterfestspiele mit „Cavalleria rusticana“ und „Pagliacci“.
Die International Opera Awards wurden 2013 in Anlehnung an den Academy Award of Merit gegründet, der unter seinem Spitznamen „Oscar“ besser bekannt ist. Weder die Inszenierung von Tony Palmer im Opernhaus Zürich 1989 noch die Erstaufführung an der Wiener Staatsoper am 12. Februar 1996, Inszenierung Christine Mielitz, mit der Luxusbesetzung der Titelpartie mit Neil Shicoff, hinterließen auf uns einen so großen Eindruck als der Abend des 12. Dezembers 2015 im Theater an der Wien, auch wenn beide vorhergehenden Abende uns diese Britten-Oper sehr nahe bringen konnten.
Christof Loy und Johannes Leiacker sind keine Unbekannten. Dass eine exzellente Personenregie mit nahezu choreografischer Betreuung des Chors ein Bühnenbild ersetzen kann, ist in den letzten zwei Jahrzehnten nichts Ungewöhnliches mehr. Denken wir an die „Don Carlos“-Inszenierung an der Wiener Staatsoper. Bewundernswert, wie hier bei „Peter Grimes“ Volksmassen durcheinander bewegt werden, gegeneinander schreiten, kumulieren, interagieren und sich dann wieder auflösen. Der Arnold Schönberg Chor (Leitung Erwin Ortner) mit seinen für diese Oper charakteristischen Chor-Soli weist „Peter Grimes“ als Choroper aus.
Das Thema dieser Oper ist sehr komplex. Das Leiden des Einzelnen an der Gesellschaft, die Scheinheiligkeit derselben, das Verhältnis Heimkind zu Pflegeeltern, Illusionen in der Liebe. Viele Verhaltensweisen der Personen werden bevorzugt homoerotisch gedeutet.
In der Titelpartie löste Erwin Cutler Joseph Kaiser ab. Sein früheres Belcanto-Repertoire zurücklassend bevorzugt er jetzt Partien des sogenannten jugendlichen Heldenfachs wie den Max im „Freischütz“, den Kaiser in „Die Frau ohne Schatten“ und sogar den Bacchus in „Ariadne auf Naxos“. Im Theater an der Wien ist er bereits als Florestan bekannt. Was uns bei seinem „Vorleben“ im Vergleich zu seinem Vorgänger abgeht, ist die Gefühlsintensität in den lyrischen hohen Lagen.
Wir lesen oft von aufblühenden Höhen, vom Farbenreichtum oder der Wärme einer Stimme, von einem silbernen Klang. Bei Agneta Eichenholz und ihrer Ellen Orford begeisterte uns wieder die Innigkeit der Stimme. Hier verkörpert sie wieder einen ganz anderen Charakter als ihre Salome vor dem Lockdown im Frühjahr 2020 an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf. Diese Rolle einer (verwitweten?) Lehrerin, die in ihrem Beruf Erfüllung findet, wenn sie Kinder verstehen lernt, ist die edelste und berührendste im ganzen Drama.
Thomas Faulkner als Rechtsanwalt Swallow wächst im Laufe des Abends zu einem würdigen Ersatz vom Stefan Cerny der ersten Staffel heran. Neu im Team ist auch Rupert Charlesworth als eifernder Methodist. Seinen gut klingenden Tenor wollen wir noch nicht fix einem Typus zuordnen. Auch Edwin Crossley-Mercer (Apotheker) passt gut zum Ensemble. Die vorgeblichen Nichten der Kneipenwirtin, Miriam Kutrowatz und Valentina Petraeva, fallen stimmlich ebenso auf wie ihre Vorgängerinnen Kiandra Howarth (die Mimì am Stadttheater Klagenfurt 2019) und Frederikke Kampmann (Violetta, Kammeroper Wien).
John, Gehilfe von Peter Grimes, und Ellen Orford: Gieorgij Puchalski und Agneta Eichenholz © Monika Rittershaus
Vom Ensemble der ersten Stunde ist Andrew Foster-Williams wieder d i e Wahl für die dritte Hauptrolle, den ehemaligen Kapitän Balstrode, der versucht Peter Grimes immer wieder zu verteidigen. Die Doyennen Hanna Schwarz und Rosalind Plowright sind wieder als Kneipenwirtin Auntie und als die drogensüchtige Witwe Mrs. Sedley eingesetzt. Erik Årman singt verlässlich den Reverend. Der Tänzer Gieorgij Puchalski mimt eindrucksvoll den neuen Gehilfen von Grimes. Lukas Jakobski haben wir dringendst geraten seine Naturstimme zu verfeinern. Sein Fuhrmann Hobson konnte auf uns nicht mehr den Eindruck hinterlassen, den er vor sechs Jahren gemacht hatte.
In der Adventzeit 2015 leitete Cornelius Meister das ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Thomas Guggeis, 2016/1017 noch Assistent von Daniel Barenboim, haben wir erst durch das Programmheft kennengelernt. Sein Britten war ebenfalls ein Genuss.
„Peter Grimes“ ist ein ernstes Werk. Doch haben wir beim Verlassen des Theaters nur Menschen gesehen, deren Gesichtszüge Bereicherung spiegelten.
Es begann nach der Aufführung zwischen meiner Frau und mir eine Diskussion. Meiner Meinung nach ist zwischen Musik und Sprache bei Britten nicht diese Harmonie gegeben wie bei Bernstein.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 23. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt 44, Operntitel und Marketing klassik-begeistert.de
Benjamin Britten, Ein Sommernachtstraum Premiere, Oper Halle, 18. September 2021