Schweitzers Klassikwelt 48: Oper und Surrealismus

Schweitzers Klassikwelt 48: Oper und Surrealismus  klassik-begeistert.de

Foto: Les Mamelles de Tirésias, Opéra Comique, Paris

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Geläufig ist der Ausdruck „die romantische Oper“, und wir denken unwillkürlich an den „Freischütz“ von Carl Maria von Weber und an Werke von Richard Wagner wie „Der fliegende Holländer“ oder „Lohengrin“. Auch den Begriff der „opera buffa“ ist Opernliebhabern etwas Vertrautes. Diese „farse“ haben oft das Strickmuster: Die Zukunft des Liebespaars (Sopran und Tenor) wird durch den Willen des Vaters, Onkels, Vormunds der Braut (Bassbuffo) bedroht. Eine Dienerin, ein Diener, der, dem offensichtlich nichts entgeht, steht den Liebenden hilfreich zur Seite.

Foto(c) Eurojournalist

So erlebt das letzte Mal im Teatro Malibran (Cannaregio, Venezia) mit „La cambiale di matrimonio“ von Rossini. Eigentlich en passant, denn der Hauptzweck unsres Aufenthalts war Janáčeks „Vĕc Makropulos“ im Gran Teatro la Fenice. Es ist die einzige uns bekannte Oper, die auf dem Genre des Science Fiction-Romans basiert. Das surreale Hineindenken in die Gefühlswelt einer zehn Generationen Überlebenden stieß bei uns an Grenzen. Wenn am Ende der Oper Emilia Marty auf eine weitere Lebensverlängerung um dreihundert Jahre verzichtet, so können wir dieses immer wieder verlängerbare Lebenssegment  nicht als Teil eines ewigen Lebens jenseits unsrer Zeit- und Raumvorstellung sehen. Dieses offenbart sich eher in Augenblicken der Freude und der Dankbarkeit.

(c)„Julietta“ Bregenzer Festspiele, ORF

Meine erste Begegnung mit Bohuslav Martinůs „Julietta“ fand zu den Salzburger Festspielen statt, leider nur konzertant. Ehrt das einen Komponisten bei Festspielen
zumindest im Konzertsaal auf dem Podium aufgeführt zu werden oder nicht? Gemeinsam mit meiner Frau wollten wir dieses Werk endlich einmal auf einer Bühne gestaltet erleben. Aber sowohl in Prag als auch zu den Bregenzer Festspielen wurden wir enttäuscht. Müllhalden und Ähnliches zeigen wenig Fantasie eine überreale Welt darzustellen. Ein Mann will in eine Stadt zurückkehren, um einer schönen Frau noch einmal und nachhaltiger zu begegnen. Doch er kommt in eine Stadt ohne Erinnerung. Die Leute leben hier nur mehr auf eine kurze Gegenwart bezogen. Was sich der Komponist Bohuslav Martinů  und der Dramatiker  Georges Neveaux der Vorlage „Juliette oder Der Schlüssel zu Träumen“ als Sinn des Ganzen gedacht haben, bleibt uns unerschlossen. Für uns persönlich warnt das Werk, eine einmal verpasste Gelegenheit kehrt nie wieder zurück.

Das Gegenteil dazu erleben wir in Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“. Ein Witwer lebt ganz in der Vergangenheit. Da tritt eine Frau auf, die seiner verstorbenen Frau bis aufs Haar gleicht. In den nächsten zwei Akten muss er entdecken, dass der Schein trügt und die Frau (Marietta, eine Tänzerin) charakterlich vollkommen anders als seine Marie ist. Es kommt zur Eskalation und er erwürgt Marietta. Er erwacht und die Doppelgängerin holt bloß den beim ohne Folgen bleibenden Besuch vergessenen Schirm ab. Korngolds Oper basiert auf einem Roman des belgischen Symbolisten Georges Rodenbachs „Das tote Brügge“ (orig. „Bruges-la-Morte“). Rodenbach versucht die Stadt als Symbol für die Stimmung des Witwers zu schildern. In Korngolds Oper, dreißig Jahre später, kommt das Traumhafte des beginnenden Surrealismus hinzu. Das Absurde, Fantastische erhält im Musiktheater mehr Gewicht als im Roman, ohne in das absurde Theater abzugleiten.

Les Mamelles de Tirésias © Alchetron

Man will nicht glauben, dass ein Schöpfer  der „Dialogues des Carmélites“, Francis Poulenc, in dreifacher Weise mit dem surrealistischen Theater verbunden ist. „Les Mamelles de Tirésias“ ist schon vom Titel her („Die Brüste des Tirésias“) das Vorzeigestück einer surrealistischen Oper. Warum diese „Genderoper“ – Uraufführung Paris 1947 – laut Operabase schon mehr als fünfzehn Jahre auf keinen Spielplänen aufscheint, mag mit der Hintergrundthematik zusammenhängen. Es geht um das Machtstreben zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich, das den Kinderreichtum instrumentalisiert.

Bei den beiden weiteren Stücken stammt der Text von Jean Cocteau, dem Aushängeschild der französischen Surrealisten. „La Voix humaine“ ist ein Monodrama für Sopran. Eine Frau kämpft am Telefon vergeblich um die Wiedergewinnung der Liebe eines Mannes, der am nächsten Tag eine Andere heiraten wird.

„La Dame de Monte Carlo“ für Sopran und Orchester oder Klavier suchten wir auch in umfangreichen Opernlexiken vergeblich und wurden in einem Kammermusikführer fündig. Eine alternde Frau wird in ihrer Einsamkeit spielsüchtig. Ein Stück der Melancholie. Wehmütig denkt Poulenc insgeheim an seine eigene große Zeit mit Serge Dhiagilev (französische Transkription) und den Ballets Russes in Monte Carlo zurück. Die Sopranistin Agneta Eichenholz erinnert sich an ihre Mitwirkung anlässlich eines Konzerts in Finnland: „Das Stück dauert nur acht Minuten, aber du gewinnst den Eindruck einer kurzen Oper.“

Lothar und Sylvia Schweitzer, 2. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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