Design: Rafał Olbiński
von Lothar und Sylvia Schweitzer
In Völkerwanderungszeiten wie diesen ist Europa um Identitätserhaltung bemüht. Es fällt häufig das Wort vom christlichen Europa, wobei die Beifügung eher als Synonym im Sinne eines Humanismus gebraucht wird.
Wir beobachten, dass RegisseurInnen Werke biblischen Inhalts zunehmend ihres religiösen Inhalts entkleiden und bestrebt sind ihre sogenannte Allgemeingültigkeit heraus zu schälen.
Wir wollen dies anhand Rossinis „Mosè in Egitto“ untersuchen. Im Kölner Staatenhaus erlebten wir im April 2018 die Inszenierung der Bregenzer Festspiele von Lotte de Beer, die ab dieser Spielzeit die Leitung der Wiener Volksoper übernimmt. Nun müssen wir schon betonen, Rossini wurde gezwungen für die in Neapel sonst theaterlos bleibende Fastenzeit ein biblisches Thema zu wählen. Geschickt paraphrasierte er den biblischen Inhalt, der auch im Mittelpunkt des bedeutenden jüdischen Pessachfests steht, mit einer erfundenen tragischen Liebesgeschichte zwischen dem Thronfolger des Pharao und einer Hebräerin, die stellvertretend für eine historisch wahrscheinliche beginnende Vermischung der beiden Völker zu sehen ist. Diese Art der Säkularisation gibt der biblischen Erzählung eine der Realität nähere Darstellung. Darüber hinaus hat die Niederländerin ein Figurentheater mit drei Bewegern der Puppen – per Video vergrößert – beigezogen und will damit das Weltgeschehen aus ihrer Sicht als Spiel deuten.
Durch die Neigung zur Verweltlichung gehen allerdings Ergebnisse der Bibelforschung verloren, die konträr zu den allgemein noch herrschenden Vorstellungen in Szene gesetzt werden könnten. Der Durchzug erfolgte nämlich nicht durch das Rote Meer, sondern in der Seen- und Marschregion, wo heute der Suezkanal verläuft. Dort war das Wasser nicht sehr tief und nahm ab und erhöhte sich, je nachdem wie der Wind sich drehte. Mit zunehmender Distanz zu den damaligen bedrohlichen Ereignissen wird in der biblischen Erzählung durch ein „Crescendo“ Spannung erzeugt, indem das ägyptische Heer mit seinen Streitwägen nicht in den Bracken stecken bleibt, sondern die Wassermassen zu tödlichen Wänden werden.
Eine Oper der Romantik ist „Samson et Dalila“ nach dem Buch Richter von Camille Saint-Saëns, die in Frankreich wegen des biblischen Stoffs zunächst auf Ablehnung stieß und deren Uraufführung nach der Ermutigung von Franz Liszt in deutscher Sprache am Hoftheater Weimar stattfand.
An der Wiener Staatsoper gab es Ende Dezember des Jahrs 1990 und im ersten Viertel des Jahrs 1991 im Rahmen des „Zyklus französischer Opern“ neun Aufführungen. Es folgten dann im Dezember des gleichen Jahrs noch zwei Aufführungen. Eine Wiederaufnahme mit drei Abenden geschah im März 1994, wobei der letzte als Benefizgala für die Jerusalem-Foundation lief. Am 12. Mai 2018 gab es trotz zweier populärer Alt-Arien erst wieder eine Neuproduktion unter der Regie von Alexandra Liedtke.
Die Regisseurin wollte orientalisches resp. historisches Flair vermeiden und neutralisierte. Sie hatte die Auffassung, Themen aus der Bibel interessieren uns nur, wenn es Themen sind, mit denen wir zu tun haben. Eben, was passiert, wenn man sich zwischen Herz und Verstand entscheiden muss. Die Bibel an sich ist für sie kein aufregend lebensentscheidendes Buch. Aber Samson fühlt da – liest man den Text mit – anders, als es von der Bühne her von uns erlebt wird.
Verschiedene Handlungen werden in einem geschichtlichen Zusammenhang leichter verständlich, auch wenn der „Shimshon“ („Sönnchen“) in der hebräischen Bibel mythologische Züge trägt.
Ob der Gefangenenchor mit seinem „Steig, Gedanke, auf goldenen Flügeln“ schon bei der Uraufführung der Oper „Nabucco“ an der Scala di Milano mit dem italienischen Nationalismus in Zusammenhang gebracht werden darf, darüber gibt es unter den Kulturhistorikern keine einhellige Meinung. Librettist Temistocle Solera war Neoguelfist und für die Stärkung der Kirche in einem Groß-Italien, der Komponist Giuseppe Verdi ein der Kirche skeptisch gegenüberstehender Nationalist.
Nach den Berichten der Evangelisten Markus und Matthäus steht Herodias als Anstifterin hinter dem Wunsch ihrer „Tochter“ (der Name Salome wird nicht genannt) nach dem Kopf des Johannes des Täufers, denn dieser missbilligte, dass Herodes sie, die Gemahlin seines Bruders, zur Frau nahm und er war ein hochgeachteter Mann mit vielen Anhängern. Bei beiden Autoren ist inhaltlich gleich zu lesen: „Sein Haupt wurde auf dem Teller hereingebracht und dem Mädchen ausgehändigt und das Mädchen gab es seiner Mutter.“ Der Historiker Flavius Josephus bringt diese Geschichte nicht. In seinem Werk „Jüdische Altertümer“ befürchtete Herodes eine Aufwiegelung des Volks, da Johannes immer viele Leute um sich zu versammeln wusste. Natürlich widersprechen sich die Quellen nicht unbedingt. Bei so einem schweren Entschluss könnten mehrere Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben.
Auch wenn Geschichtsschreiber nicht ganz ohne literarische Ambitionen sind, in der Literatur gehen Dichtung und Wahrheit seltsame Koalitionen ein, nach dem Motto: So könnte es sich im Detail zugetragen haben. Gustave Flaubert verstand es noch vor dem Drama Oscar Wildes in seiner Kurzgeschichte „Herodias“ die damalige Situation dieser unruhigen Zeit aufs Lebendigste zu schildern. Das Misstrauen des Prokonsuls Vitellius, der sich verschlossene unterirdische Räume der Burg des Herodes öffnen ließ und dort Waffen und eine Hundertschaft an Pferden entdeckte, die Herodes zu seinem eigenen Schutz dachte. Dann die Entdeckung des gefangen gehaltenen Johannes. Die Erzählung wirkt hier noch dramatischer als Wildes späteres Theaterstück. Der Täufer schwankt hier zwischen paranoider Aggressivität und einschmeichelnden Phasen. Auch die Art der religiösen Streitgespräche der Juden untereinander machen anschaulich, dass diese keine politisch-religiöse Einheit darstellen. Meisterhaft schildert Flaubert das Erscheinen der Salomé, als wären wir beim Bankett anwesend, erleben wir ihren Tanz und die musikalische Begleitung. Beruhigen konnte sich Herodes nach dem Wunsch der Salomé und bei seinem Todesurteil über Johannes, denn die Konstellation der Sterne wies noch diese Nacht auf den Tod eines Mannes von Rang, was der Tetrarch ängstlich auf sich bezog. Und wäre der Verurteilte wirklich, wie viele Leute glauben, der wieder erschienene Prophet Elias, hätte er die Macht sich selbst zu schützen.
Im Gegensatz zur Oper „Salome“ wird zwar der Kopf des Johannes vom Henker der Prinzessin vorgelegt, macht jedoch dann unter den Gästen die Runde, bis die Schüssel mit dem Haupt zu Herodes zurückgebracht wird, der seine Tränen nicht zurückhalten kann. Am Ende lehrt sich der dunkel werdende Festsaal. Herodes, das Haupt anstarrend, und sein Astrologe bleiben die ganze Nacht zurück. Essener tragen den Kopf des Johannes nach Galiläa, die Worte des Propheten jetzt verstehend: „Damit des Messias Herrlichkeit wächst, muss meine abnehmen.“
Was haben Paul Milliet und Henri Grémont aus dieser Vorlage für Jules Massenets Oper „Hérodiade“ gemacht? Salomé ist auf der Suche nach ihrer ihr unbekannten Mutter. Sie begegnet Jean und verliebt sich in ihn. Wahrscheinlich fesselt sie seine Andersartigkeit. Dieser rät ihr zu einer spirituellen Liebe. Als er verhaftet wird, erklärt Salomé erneut ihre Liebe zu dem Propheten und der eifersüchtige Hérodes verurteilt beide zum Tod. Salomé und Jean erklären sich ihre Liebe zueinander. Salomé will sich an Hérodiade als Drahtzieherin der Enthauptung ihres Geliebten rächen. Als sie erfährt, dass diese ihre Mutter ist, verflucht sie ihre Mutter, aber tötet sich selbst.
Die Oper „Salome“ von Richard Strauss in Übersetzung des Theaterstücks von Oscar Wilde setzen wir als genügend bekannt voraus. Hier wird ein weniger menschliches Bild der Salome gezeigt. Nicht die Bereitschaft zu einem gemeinsamen Liebestod steht im Mittelpunkt, sondern eine pathologische Ersatzbefriedigung nach einer vergeblichen Liebeswerbung. „Und sein Haupt wurde auf einer Schüssel gebracht und dem Mädchen gegeben und die brachte es ihrer Mutter.“ So steht es noch nüchtern bei Matthäus und nahezu wortgleich bei Markus. Wie anders bei Oscar Wilde und bei Richard Strauss! Hier gerät die Tochter der Herodias in einen ekstatischen Liebestaumel und küsst den abgeschlagenen Kopf.
Schöpferisch ging die Regisseurin Tatjana Gürbaca an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf einen kleinen Schritt zurück wieder in Richtung auf den biblischen Gehalt. Bei ihr verarbeitet Salome ihre Enttäuschung, indem sie sich als apokalyptische Vollstreckerin der Visionen Jochanaans auserwählt sieht.
Eine Oper ohne Säkularisierungen des religiösen Themas ist Schönbergs „Moses und Aron“. Die Handlung lehnt sich an das 2. Buch Moses an. Die Freiheiten Schönbergs liegen bloß in der Betonung der Konfrontation zwischen den Brüdern Moses und Aron und, dass der Moses der Oper Wunder ablehnt, hingegen der biblische Moses selbst Wunder bewirkt. Die Wundertaten Arons werden in der Bibel als Dienstleistungen für Moses dargestellt, bei Schönberg werden sie zum Akt des Ungehorsams. Auch die Regisseure ließen die von uns besuchten Aufführungen sowohl an der Wiener Staatsoper, als auch an der Nederlandse Opera, an der Deutschen Oper Berlin, im Tiroler Landestheater und in der Felsenreitschule bei den Salzburger Festspielen unangetastet.
Es gibt bei Entstehung einer Oper auch Entwicklungen zu höheren ethischen Bereichen. So hatte Hugo von Hofmannsthal zunächst eine Oper für Kammerorchester im Kopf, eine Mischung aus Mythologischem im Kostüm des achtzehnten Jahrhunderts und aus Figuren der Commedia dell’arte. Im Voranschreiten der Dichtung wurde diese immer gehaltvoller. Das ungeheure Lebensproblem der Treue trat immer mehr in den Vordergrund und fesselte den Schöpfer des Librettos. An Verlorenem festhalten bis an den Tod oder leben, sich verwandeln, die Einheit preisgeben oder in der Verwandlung sich bewahren? Wir sprechen von „Ariadne auf Naxos“.
Interessant wird es in Tschaikowskis „Jolanthe“. Der blind geborenen Königstochter Jolanthe wird durch ihren ahnungslosen Verehrer, den Grafen Vaudemont, bewusst, dass es noch eine andere Welt gibt, von der sie aus Mitleid nicht erfahren durfte. Es gäbe eine Heilung, wenn sie diese ersehnte. Nicht die unbekannte, farbenfrohe Welt kann für sie bestimmend werden, aber die Angst vor einer Verurteilung ihres Verehrers zum Tod. Zum glücklichen Schluss besingt die Königstochter die neue Lichtwelt, der sie sich noch schutzlos ausgeliefert fühlt. Uns drängt sich eine metaphysische Deutung auf. Wir alle sind in gewisser Weise blind für das hinter unsrer erfahrbaren Welt Liegende. Die neue Direktorin der Wiener Volksoper Lotte de Beer formt in ihrer Inszenierung das Erwachsenwerden heraus. Zitat: „Es kommt im Leben eine Zeit, in der man sich entscheiden muss, ob man eine blinde Prinzessin bleiben oder die Welt in ihrer ganzen Unvollkommenheit sehen will.“
Bei Bernsteins „Mass“, in der während einer katholischen Liturgie unerwartete Ereignisse eintreten, scheiden sich die Geister. Die einen sehen in dem Zusammenbruch der Gemeinschaftsfeier und ihrem Wiederaufleben ein Produkt der Gruppendynamik, die anderen einen Gnadenakt im Auftreten des Knabensoprans.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 27. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“