Design: Leopoldo Metlicović 1904
In Rezensionen von Kolleginnen merken wir oft, wie stark ihnen das Schicksal von Opernfiguren nahe geht, einer Mimì, einer Violetta. Die Empathie reicht sogar zu Walter Scotts Romanfigur, der Braut von Lammermoor, in Form von Donizettis „Lucia di Lammermoor“. Von Goethe wurde der schottische Dichter noch sehr geschätzt.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Es sind manchmal erdachte Figuren, der Fantasie entsprungene Personen, die aber Ähnlichkeiten mit uns nahestehenden Menschen haben. Wir können die Beobachtung bestätigen, bei Begräbnissen sind oft ferner Stehende zu Tränen gerührt, weil sie an ganz persönliche Verluste wieder erinnert werden.
Ich bereute einmal, meinen Vater zu einer Tosca-Aufführung animiert zu haben, wo er doch im Krieg einer Exekution beiwohnen musste, was ihn sichtlich wieder bewegte.
Liebe und Tod und ihre Verkettung spielen im Leben wie in der Oper eine große Rolle. Ein zu häufiges Thema bei Opern stellt Tod durch Gewalt und der Freitod dar. Wir gewinnen leider zu oft den Eindruck, dass gesteigerte Dramatik in der Oper die echte Empathie zurückdrängt. Auch bei den Lokalnachrichten bewegt uns in der Regel ein Unfalltod mehr als ein Gewaltakt.
In der Vorlage zu Puccinis „Madama Butterfly“ kann die Dienerin den Selbstmord der Mutter verhindern, indem sie das Kind am Ohr zwickt, dieses zu weinen beginnt und dadurch die mütterlichen Gefühle wieder zum Leben erwachen. Kate Pinkerton findet ein verlassenes Haus vor. Kein künstlich aufgebautes dramatisches Finale wie in Puccinis Werk. Die Szene, die uns in dieser Oper am meisten rührt, ist gegen Ende des ersten Teils des zweiten Akts, wenn Cio-Cio-San und ihr Kind sehnsuchtsvoll durch Löcher in den Papierwänden – für das Kind ist ein extra niedriges Loch durchstoßen – zur Anlegestelle des Schiffs herunterschauen. Prosaischer trifft die Japanerin in John Luther Longs Novelle zufällig im Hafen auf Pinkerton und seine neue Frau.
Rührend gestaltete der Illustrator, Plakatkünstler und Bühnenbildner Leopoldo Metlicović, sichtlich mit italo-kroatischen Wurzeln, für den Musikverlag Ricordi das Titelblatt (siehe unser Titelbild) von „Madama Butterfly“, auf dem Cio-Cio-San in ihrer Fantasie ein Rotkehlchen nisten sieht, was ein Zeichen für die Rückkehr des Vaters ihres Kindes bedeuten würde.
Der Tod – der Schritt in eine uns unbekannte Welt – rührt uns auf der Bühne wegen seiner Unfassbarkeit und Rätselhaftigkeit manchmal weniger als Szenen mit lebenden Menschen. So erschüttert vor allem in Alban Bergs „Wozzeck“ die Reaktion des zum Waisen gewordenen Kindes, wenn es der tragischen Situation nicht bewusst zu den Takten der Musik auf seinem Steckenpferd den anderen Kindern nachreitet.
Es war oft eine kleine Szene, die neben den großen Gedanken und der großen Linie einer Oper unauslöschlich im Gedächtnis blieb. So an der Wiener Volksoper im Jahr 2006 in Wilhelm Kienzls „Der Evangelimann“. Josef Ernst Koepplinger trennte die Kinder während des Vortrags des Evangelimanns in zwei Gruppen. Die eine lauschte begeistert und ergriffen seinem Lied, während die andere Gruppe sich unbeteiligt und uninteressiert zeigte.
Eine gewisse Härte packt oft mehr als Sentimentalität. In Ruggiero Leoncavallos „La Bohème“ lässt der belgische Regisseur Guy Joosten im Theater an der Wien im Sommer 2002 Musette sofort nach dem Tod Mimìs die Arme-Leute-Atmosphäre fliehen.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 17. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 85: Schuld und Sühne klassik-begeistert.de, 4. April 2023
Schweitzers Klassikwelt 84: Freud und Leid mit Umbesetzungen