Schweitzers Klassikwelt 90: Das Wörtchen „Aber“ kann das vorher Gesagte wieder aufheben

„ABER“  

Im Wörterbuch wird bloß von einer Entgegenstellung gesprochen. Andere Bezeichnungen wären: andrerseits, doch, hingegen, demgegenüber. Wir ergänzen: obwohl, allerdings. Also soll ein Gegensatz ausgedrückt werden oder zumindest eine Einschränkung. Der Versuch einer Harmonisierung misslingt leider oft.


von Lothar und Sylvia Schweitzer

Wir erfahren das besonders häufig bei der Lektüre über das Auftreten verdienter SängerInnen im Herbst ihrer Laufbahn. Wie in alten Zeiten beginnt das Exposé mit Lobeshymnen, bis im Nachsatz oder in Folgesätzen prosaisch man es anders liest.

Wir wollen allgemein einige Beispiele bringen, die wir in Kleinarbeit gesammelt haben:

„Wie immer lieferte sie eine sehr gute Leistung.“ Wirklich sehr gut? Denn jetzt folgt im Relativsatz das Aber: „zu der ich einige Einschränkungen bemerken muss. Ihre Stimme ist in der Tiefe nicht sehr kräftig, so dass sie sich manchmal nicht gegen die Orchesterwogen durchsetzen kann. Abgesehen davon hat sie sich ein Vibrato angeeignet, das nicht mehr den für die Strauss-Opern gewünschten Silberglanz verströmt.“ Diese Beurteilung kann nur mehr mit „Gut“ benotet werden. Die in unsrer Gymnasialzeit alternative Benotung mit „befriedigend“ ist lebensfremd, denn wer ist zum Beispiel bei einem Techniker mit einer nicht guten Leistung zufrieden?

Über einen Ochs auf Lerchenau lesen wir, dass er mit „profundem“, in der Tiefe etwas kargem Bass singt. Ob man das noch als „bis auf den Grund gehend“ beschreiben darf?  Der Duden bringt bei diesem Eigenschaftswort u.a. die Bedeutung „(all)umfassend“, wobei wir bei „all“ automatisch eine gleichbleibende Qualität mitdenken.

Nicht sehr aufschlussreich lesen wir folgende Meldung: „Sie konnte als Königin der Nacht mit diesem Niveau nicht ganz mithalten. Richtig freisingen konnte sie sich nicht. Die beiden fulminanten Arien verfehlten trotzdem nicht ihre Wirkung.“ Was will man mehr?

„Der Sänger ist in der Titelrolle immer ein Gewinn, auch wenn die stimmliche Leistung des reifen Künstlers schon sehr von der Tagesverfassung abhängig ist.“

Obwohl die Stimme natürlich altersbedingt an Kraft und Volumen eingebüßt hat, begeistert es immer wieder, wie intakt sie noch funktioniert.“

„Bei lauten Orchesterstellen ließ er ein wenig Ökonomie walten, aber an den leiseren war er voll präsent.“

„Er singt die Partie je nach Abendverfassung, die diesmal gut war. Nach dem eher holprigen Prolog (Anm.: in „Simon Boccanegra“) und einem eher schwachen 3. Bild war er nach der Pause viel besser.“

Wie kann eine Isolde im dritten Aufzug „sehr gut gesungen“ sein, „aber nicht berückend und hingebungsvoll“? Und wenn ein Tenor perfekt (übersetzt: vollendet) die Kunst italienischer Gesangstechnik und -phrasierung beherrscht, wieso überzeugt er dann vollends vor allem in seinen Bravourarien?

Ohne Konjunktion: „Er machte als Alberich eine sehr gute Figur.“ Im Folgesatz: „Mehr Schwärze und Volumen hätten da gepasst.“

Kann eine Sängerin für eine Rolle eine gute Wahl sein, wenngleich ihre Stimme dieser Rolle schon entwachsen zu sein scheint?  Hier muss man zwischen „Rolle“ und „Partie“ trefflich unterscheiden! Wir lesen und müssen wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, „dass eine Opernfigur rollendeckend besetzt war, allerdings ließ die gesangliche Leistung zu wünschen über“. Der Autor räumt in einer Beifügung klärend ein: „besonders vom Darstellerischen her“.

„Gute Technik, beste Koloraturen – aber alles in allem – zu wenig Material. Ein großes Talent zweifellos, eine Qualitätsstimme.“ Ein Talent kann wachsen, für ein Pauschallob ist es wohl noch zu früh.

Sehr kryptisch klingt: „Sie holt das Beste aus der Rolle, sie wird sicherlich noch reifen.“  Je nachdem, ob man „herausholen“ als „abgewinnen“, „freikämpfen“, „abringen“ oder als „erretten“ versteht.

Wir lernen aus einer Kritik, dass in einer Rolle „seinen Mann stellen“, aber nicht bedeutet „Glanzpunkte zu setzen“.

Auch wir sind in unsren Rezensionen nicht davor gefeit, durch ein „Aber“ in einen die LeserInnen verwirrenden Widerspruch zu verfallen. So erinnern wir uns von Herbert Lippert in der Rolle des Paul in Korngolds „Die tote Stadt“ schon mehr berührt worden zu sein, dürfen aber nicht unerwähnt lassen, dass das Publikum an dem Abend die Leistung des betreffenden anderen Sängers sehr herzlich aufgenommen hat.

Herbert Lippert als Paul in „Die tote Stadt“, Wiener Staatsoper Foto: Michael Pöhn

Eine Einschränkung ohne in einen krassen Gegensatz zu verfallen, bietet der kurze Satz: „Er ließ mit erstaunlicher Strahlkraft vor allem seine Mittellage strömen.“

Sowohl als Gegensatz als auch als Ergänzung liest sich: „So passte der schlanke, jugendliche Bass sehr gut zum König, weil die Stimme das notwendige Gewicht hatte.“  Hier scheint unter „der schlanke, jugendliche Bass“ die Person und seine Statur und nicht seine Stimme gemeint zu sein.

Ein Beispiel einer harmonischen Entgegenstellung möchten wir zum Schluss unseres Artikels bringen: „Der Bass-Bariton imponierte in der Rolle des hebräischen Hohepriesters Zaccaria mit kräftigen Basstiefen, meisterte aber ebenso souverän die Spitzentöne.“

Lothar und Sylvia Schweitzer, 13. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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