Foto: Lauri Vasar (Don Carlos), Goran Jurić (Mendoza), Violeta Urmana (Die Duenna), Aida Garifullina (Luisa) und Bogdan Volkov (Don Antonio)
Credits: Ruth und Martin Walz
„Ich empfehle diese Inszenierung für Menschen mit überdurchschnittlichem IQ. Ich empfehle diese Oper in dieser Besetzung für jeden Menschen dieses Planeten.“
Sergej Prokofjew, Die Verlobung im Kloster (Premiere)
Staatsoper Unter den Linden, 13. April 2019
Musikalische Leitung, Daniel Barenboim
Inszenierung, Bühnenbild, Dmitri Tcherniakov
Kostüme, Elena Zaytseva
Licht, Gleb Filshtinsky
Videodesign, Alexey Poluboyarinov
Sounddesign, Markus Böhm
Einstudierung Chor, Martin Wright
Dramaturgie, Jana Beckmann, Detlef Giese
Don Jerome, Stephan Rügamer
Don Ferdinand, Andrey Zhilikhovsky
Luisa, Aida Garifullina
Die Duenna, Violeta Urmana
Don Antonio, Bogdan Volkov
Clara d’Almanza, Anna Goryachova
Mendoza, Goran Jurić
Don Carlos, Lauri Vasar
Moderator, Maxim Paster
Staatsopernchor
Staatskapelle Berlin
von Friederike Walch
Prokofjew-Premiere in der Staatsoper Unter den Linden. Die Besetzung? Herausragend gut! Das Orchester? Grandios! Die Musik? Lässt meine Wertschätzung für Prokofjew noch einmal um ein großes Stück anwachsen, was ich so gar nicht für möglich gehalten hätte. Mein Gehirn möchte eigentlich, dass ich mich zurücklehne und schwelge, damit es mich als Reaktion auf dieses Klangspektakel mit einer großen Ladung Endorphine überschütten kann. Leider steht es jedoch den ganzen Abend sehr nah an der Grenze zur Überforderung. Schuld daran ist der Input über den Sehnerv. Oder, um den Verantwortlichen beim Namen zu nennen, Herr Dmitri Tcherniakov.
Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov inszeniert an den weltweit wichtigsten Häusern und ist auch an der Berliner Staatsoper ein regelmäßiger Gast. Für Die Verlobung im Kloster hat er eine Szenerie von ganz besonderer Raffinesse entwickelt, die Darstellern und Publikum jedoch einiges abverlangt.
Zu Beginn der Oper werden alle acht Hauptprotagonisten mittels eingeblendeter Kurzsteckbriefe charakterisiert. Die Sängerinnen und Sänger dürfen dabei ihre tatsächlichen Namen behalten, lediglich an ihrer beruflichen Ausrichtung hat Tcherniakov geschraubt.
Mit von der Partie sind beispielsweise der Mikrobiologe Stephan (Stephan Rügamer), die gescheiterte Sängerin Violeta (Violeta Urmana) und ihr Stalker Bogdan (Bogdan Volkov), der übersättigte Opernkritiker Lauri (Lauri Vasar) und Aida (Aida Garifullina), die als junges Mädchen unglücklich in Jonas Kaufmann verliebt war. Sie alle eint ein gemeinsames Leiden: Sie sind opernsüchtig oder -geschädigt und haben sich endlich dazu durchgerungen, eine Therapie zu machen.
Psychologisch betreut wird die Selbsthilfegruppe von Tenor Maxim Paster. Sein Vorgehen lässt sich wohl am besten als Konfrontationstherapie beschreiben. Die Gemeinschaft anonymer Opern-Abhängiger trifft sich in einem Chorprobensaal wie er im Buche steht: Helles Parkett, starre, mit rotem Stoff bezogene Klappstuhlreihen, schlichte, dicke Flügeltüren aus billigem Holz.
Das zentrale Vorgehen auf dem Weg zur Heilung steht unter dem Motto Wir erfinden eine Oper. Im Rahmen dieser Behandlungsmethode kommt nun endlich das Sujet von Prokofjews Oper ins Spiel. Alle Therapieteilnehmer übernehmen spielerisch eine Rolle aus Die Verlobung im Kloster und entwickeln gemeinsam die Handlung. Dieser Kniff Tcherniakovs zieht eine Reihe von Konsequenzen nach sich.
Zunächst einmal bedeutet es für die Sänger, dass sie ununterbrochen auf der Bühne zu sehen sind. Wer gerade keine Szene in der „selbsterfundenen“ Oper übernimmt, reagiert auf die „Ideen“ der anderen. Auch die handelnden Protagonisten fallen immer wieder aus ihren Rollen, lachen über den neuesten Twist im Geschehen oder hadern mit ihrer Suchterkrankung.
Diese Doppelbödigkeit fordert unglaublich großes schauspielerisches Talent der Sänger, und die darstellerischen Leistungen sind in der Tat beeindruckend. Außerdem fordert sie eine überdurchschnittliche Denkleistung der Zuschauer. Die Handlung der Verlobung im Kloster könnte man ganz gut mit Die Hochzeit des Figaro für Fortgeschrittene beschreiben. Statt zwei Liebespaaren gibt es drei, alle schmieden die tollsten Pläne, um zusammen zu kommen, und es wimmelt nur so von Verwirrungen, Verkleidungsspielchen und Verwechslungen.
Dazu kommt, dass in dieser Inszenierung alle handelnden Personen ja auch ein Leben als Therapieteilnehmer haben. Beispiel: Aida (spielt Luisa) flirtet mit Opernkritiker Lauri (spielt Don Carlos), wobei sie in der Opernhandlung eigentlich Don Antonio (gespielt von Stalker Bogdan) liebt, der als Teilnehmer der Selbsthilfegruppe wiederum eigentlich auf die gescheiterte Sängerin Violeta steht (die in der Oper die Amme spielt und mit dem Fischhändler Mendoza (Goran Jurić) verheiratet wird). Kurz den Überblick verloren? Sag ich ja.
Am besten genießen lässt sich der Abend vermutlich, indem man sich einfach auf die Musik konzentriert. Die Stimmen strahlen nur so voll russischem Feuer, allen voran die der Sopranistin Aida Garifullina. Spätestens seit sie bei den Eröffnungs- und Abschlussfeierlichkeiten der Fußball-WM in Russland im vergangenen Sommer zu hören war, eilt ihr ein Superstar-Status voraus, der weit über die Klassik-Szene hinaus reicht.
Auch als Prokofjew-Interpretin liefert sie. Garifullina singt die Partie der Luisa mit scheinbarer Leichtigkeit, eine herrlich klare große Stimme, die trotzdem nichts von ihrer Beweglichkeit einzubüßen scheint. Dabei harmoniert sie erstaunlich gut mit der Tenorstimme von Bogdan Volkov. Ein köstliches Bühnenpaar!
Doch auch die beiden anderen weiblichen Protagonistinnen Anna Goryachova als Clara d’Almanza und Violeta Urmana als Duenna stehen Garifullina in nichts nach. Die Rolle der Clara ist von Prokofjew ohnehin sehr emotional und etwas überdramatisch komponiert. Zusätzlich bekommt Goryachova auch noch den Part der rückfälligen Therapieteilnehmerin mit furiosen Wutausbrüchen und heftiger Liebesaffäre mit dem Hotelangestellen Andrey (Andrey Zhilikhovsky) auf den Leib geschrieben.
Ihre Stimme strotzt nur so vor unterdrückter und ausgelebter Aggressivität und Emotionen. Auch Zhilikhovskys Organ lässt die Hörer aufmerken. Seine volle, erstaunlich reife Baritonstimme will so gar nicht zu seinem Auftreten als nervöser junger Mann mit zahlreichen Ticks, langen fettigen Haaren, Hornbrille und bis zu den Achselhöhlen hochgezogener Hose passen.
Gemeinsam schaffen es alle Sänger auf der Bühne ein gesangliches Gesamtkunstwerk zu schaffen, wie es ausgewogener kaum sein könnte. Maßgeblich trägt dazu natürlich Prokofjews Musik bei. Der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Daniel Barenboim gelingt es, ihre sichtliche und hörbare Begeisterung für diese Komposition direkt auf die Zuhörer überspringen zu lassen.
Dem doch recht statischen und auf Dauer etwas eintönigen Bühnenbild stellt sich damit die abwechslungsreichste Musik gegenüber, die man sich nur wünschen kann. Die tollsten Harmoniewechsel lassen keine Langeweile aufkommen. Wundervoll lyrische Passagen werden von koketten Einwürfen und effektvollem Schlagwerkeinsatz abgelöst. Die Musiker und Prokofjew schaffen es gemeinsam, dass einem der Ohrenschmalz an den Rand des Gehörgangs zentrifugiert wird und Raum für gänzlich neue Klangwelten entsteht.
Auch die Inszenierung ist zugegebenermaßen sehr clever gemacht und hat wirklich witzige Momente. Zum Beispiel wenn alle Sänger in einer angeleiteten Meditation dazu aufgefordert werden, sich zu entspannen und ihre düstere Opernvergangenheit hinter sich zu lassen. Oder wenn ein Videoband mit ehemaligen Teilnehmern der Therapie gezeigt wird, in dem diese ihre neu erlangte, opernfreie Lebensqualität rühmen und glücklich sind, jetzt wieder mehr Zeit für Brettspiele und die Enkel zu haben.
Schade ist, dass darüber das feinsinnige, eigentlich für sich bereits sehr humoristische und ironische Libretto der Oper untergeht.
Zum Abschluss hält die Darbietung dann noch eine Überraschung bereit. Alle Paare sind richtig verheiratet, der Vorhang fällt und die allerersten stürmen bereits nach draußen, da öffnet sich der Vorhang erneut und Stephan Rügamer als Don Jerome präsentiert sein „alternatives“ Ende der Oper. Dabei werden die letzten Handlungsstränge sortiert und zuletzt übernimmt ein strahlender Opernchor die Bühne.
Maskiert als das umfassendste Opern-Best-of aller Zeiten umringen Carmen, die Königin der Nacht, die halbe Ring-Besetzung, Madame Butterfly, Aida und Co. den seligen Stephan, der zu den abschließenden Klängen der Prokofjew-Oper voller Euphorie durch die Gegend tanzt. (Der Therapieleiter wurde übrigens inzwischen mit Paketband an einen Klappstuhl gefesselt.) Auch ohne Psychologie-Studium würde ich mich zu folgender Diagnose herablassen: Therapie gescheitert.
Das Publikum quittiert diesen medizinischen Misserfolg mit lauten Bravo-Rufen für alle Beteiligten, nur die Inszenierung muss ein paar Buhs einstecken. Sogar die gesamte Staatskapelle wird auf die Bühne gebeten. Der Vorhang öffnet sich und da steht Daniel Barenboim umringt von seinen Musikerinnen und Musikern. Harmonie, Harmonie.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Ich empfehle diese Inszenierung für Menschen mit überdurchschnittlichem IQ. Ich empfehle diese Oper in dieser Besetzung für jeden Menschen dieses Planeten.
Friederike Walch, 14. April 2019, für
klassik-begeistert.de