Asmik Grigorian und Lukas Geniušas zelebrieren Rachmaninow, Mussorgsky und Rimski-Korsakow in tief bewegender Schönheit

Sergej Rachmaninow, Asmik Grigorian, Lukas Geniušas  Elbphilharmonie Hamburg, 24. Mai 2022

Foto: © Dr. Holger Voigt

Elbphilharmonie Hamburg, 24. Mai 2022 (Kleiner Saal)

Liederabend, Musikfest Hamburg, 4. Konzert

Sergej Rachmaninow

Asmik Grigorian, Sopran
Lukas Geniušas, Klavier

von Dr. Holger Voigt

Asmik Grigorian und Lukas Geniušas hätten ohne Probleme den großen Saal der Elbphilharmonie in Hamburg füllen können – doch darum ging es ihnen nicht. Sie bevorzugten das intimere Setting des akustisch hervorragenden kleinen Saals der Hamburger Elbphilharmonie und zelebrierten einen Liederabend von Referenzqualität. Einziger Abstrich waren leider erneut Anteile des Elbphilharmonie-Publikums, das durch unzeitiges Klatschen und zahlreiche Nebengeräusche eine eigene Marke setzte – sehr zum Verdruss der beiden Künstler. Gleichwohl war der Liederabend an Klangschönheit und emotionaler Sogwirkung nicht zu toppen. Es war eine Darbietung von Referenzwert mit unentrinnbarer affektiver Spannung. Stürmischer Applaus und zahlreiche Bravi!-Rufe dankten es den Künstlern.

Das Programm, in großen Teilen auch auf dem CD-Album „Dissonanz“ zusammengefasst, rankte sich um Lieder Sergej Rachmaninows (1873-1943), deren melancholische Grundstimmung beinahe der gegenwärtigen Wahrnehmungsrealität zu entsprechen scheint. Deutlich ist ihnen die postromantisch-modernistische Kompositionssprache anzumerken, die abschnittsweise den Liedkompositionen von Richard Strauss (1864-1949), einem Zeitgenossen Rachmaninows, ähnelt. Dabei zeigt sich die Stimmbehandlung, auch in der nicht-sinfonischen Klavierbegleitung, in allen Facetten wie eine Abfolge opernartiger Szenenbilder, deren emotionaler Ausdruck eine beträchtliche Sammlung und Konzentration erforderlich macht.

Gerade deshalb ist es umso unverzeihlicher, wenn der konzentrative Aufbau einer emotionalen Spannung immer wieder von einem unverständigen Publikum unterbrochen wird, was die Sängerin anfänglich mit einem kurzen, freundlichen Lächeln – fast etwas scheu und schüchtern wirkend – quittierte. Da dieses Fehlverhalten von Teilen des Publikums aber einfach nicht aufhörte, schienen beide Solisten bei gleichbleibender Freundlichkeit und großzügiger Toleranz zunehmend genervt zu sein, was ich nur allzu gut nachvollziehen kann. Es tut einfach nur weh, wenn so ein Verhalten so viel kaputt macht, was mit großer Hingabe aufgebaut und vorgetragen wurde.

Asmik Grigorian erschien in einem weissen T-Shirt-ähnlichen Top und einem langen, anthrazitfarbenen Rock, gekrönt von eimem freundlichen, einnehmenden Lächeln. Stimmlich ist die 41jährige Litauerin ganz oben in der Weltspitze angekommen, und selbst dort noch bewegt sie sich in der ersten Reihe. Ihr Sensationsdebüt als Salome bei den Salzburger Festspielen 2018 ist und war keine Eintagsfliege, sondern das Resultat kontinuierlicher Arbeit an Stimmbildung und Rollengestaltung. Ihr dramatischer Sopran ist von einer klaren Phrasieren und traumwandlerisch sicherer Modulationskraft gekennzeichnet, was man bereits bei den ersten Tönen nicht überhören kann. Alles ist wunderschön ausgestaltet, nie übermässig forciert oder in der Dynamiksteuerung unangemessen wirkend. Die Ausdruckswechsel gelingen ihr fließend und übergangslos bei perfekter Intonation. Ihre Stimme durchdringt in allen Einzelheiten den akustischen Raum des kleinen Saales der Elbphilharmonie, der so „klein“ eigentlich gar nicht ist. In den leiseren, zurückgenommenen Abschnitten klingt ihre Stimme anrührend schön, so dass einem sofort die Tränen kommen, und wenn man genau hinsieht, bemerkt man, dass es der Sängerin genauso ergeht (z.B. nach „O weine nicht um mich“).

Man hat den Eindruck, sie duchlebe die in den Liedern geschilderten Episoden am eigenen Leib – oder besser: an eigener Seele. Was für eine ausdrucksstarke Gestaltungskraft weist diese Stimme! Hier wurden keine Lieder gesungen, hier wurden Lieder durchlebt. Und dabei kann Asmik Grigorian auf ihre Opernerfahrungen zurückgreifen.

Ihre Stimme ist derzeit so bestechend schön wie kraftvoll, dass sie nunmehr mit großem Erfolg auch in Bayreuth Einzug gehalten hat. Es ist ihr zu wünschen, dass sie weiterhin klug vorbereitet und wohldosiert zum Einsatz kommt, um sie möglichst lange in der jetzigen Klangschönheit zu erhalten.

Das in mehreren Blöcken arrangierte Programm bestand nicht nur aus Liedern. Zwischen den Lied-Blöcken gab es zwei solistische Klavierblöcke, in denen Lukas Geniušas zeigen konnte, dass er nicht „nur“ zur Liedbegleitung in die Elbphilharmonie gekommen ist. Er war an diesem Abend für mich die zweite Sensation dieses Konzertes, neben der Gesangssolistin selbst. Im zweiten Solo-Klavierblock brachte er – trotz Beifallsstörung, die er mit erhobenem Arm abwehren konnte – den Konzertsaal zum Erbeben und zeigte damit des Komponisten ungeheure Kraft und melodische Vitalität. Sorgen musste man sich nicht um die mächtige Anschlagdynamik machen, sondern vielmehr um die Wirbelsäule des Pianisten, der fast wie Glenn Gould in bogig-buckliger Sitzposition vor dem Flügel saß, was mir schon beim Zusehen Schmerzen bereitete (glücklicherweise waren diese Sitzpositionen stets nur vorübergehend).

Der Liederabend inklusive der pianistischen Solo-Blöcke war perfekt zusammengestellt und von höchster künstlerischer Qualität. Er erlaubte einen hochinterssanten Einblick in ein eher selten vorgetragenes Œuvre des Komponisten, deren Lieder von betörender Schönheit sind. Somit ist auch dem Komponisten für diesen Konzertabend Dank zu zollen.

Riesiger Schlussbeifall mit zahlreichen Bravi!-Rufen beendeten einen grandiosen Konzertabend.

 Dr. Holger Voigt, 25. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Programm

Sergej Rachmaninow (1873-1943)

Im Schweigen der geheimnisvollen Nacht op. 4/3 (1890)

O sing’, Du Schöne op. 4/4 (18931

Du bist wie eine Blume op. 8/2 (1893)

Der Traum op. 8/5 (1893)

 

Hopak* aus: Modest Mussorgskys „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“

Gänseblümchen op. 38 (Fassung für Klavier solo)

Hummelflug aus: Nikolai Rimski-Korsakows „Das Märchen vom Zaren Saltan“

O weine nicht um mich op. 14/8 (1898)

Frühlingsquellen op. 14/11 (1896)

Ich warte auf dich op. 14/1 (1896)

Zwielicht op. 21/3 (1902)

Pause

Sie antworteten op. 21/4 (1902)

Hier ist es schön op. 21/7 (1902)

Fragment von Musset op. 21/6  (1902)

Wie leide ich op. 21/12 (1902)

 

Präludium Es-Dur op. 23/6 (1903)

Praludium Des-Dur op. 32/13 (1911)

Flieder op. 21/5 (1902)

Wir ruhen aus op. 26/3 (1906)

Gott nahm mir alles op. 26/2 (1906)

Dissonanz op. 34/13 (1912)

*Bearbeitung für Klavier solo von Sergej Rachmaninow

Sergej Rachmaninow, Wiener Philharmoniker, Valery Gergiev, Denis Matsuev, Musikverein Wien, 16. Januar 2022

Anna Karenina, Ballett, Sergej Rachmaninow, Witold Lutoslawski, Sulkhan Tsintsadze, Josef Bardanashvili, Christian Spuck, Bayerisches Staatsballett, Nationaltheater, München

Mikhail Pletnev, Sergej Rachmaninow, Kölner Philharmonie

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