John Neumeier gewinnt den Ausnahmetänzer Lloyd Riggins für das Hamburger Ballett und engagiert die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV  Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024

Lloyd Riggins (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 1998, Foto Holger Badekow)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV

Allein wie Lloyd Riggins es schaffte, mit dem Regenschirm gegen Wind anzukämpfen, war schon eine klassische Meisterleistung. Nicht er zog den Schirm, sondern der nicht vor­han­dene Wind zog ihn über die Bühne. Um es anders auszudrücken, es gelang Riggins mit dar­stellerischen Mitteln Wind im Auge des Betrachters zu erzeugen, ohne dass eine Windmaschine eingesetzt werden musste.


von Dr. Ralf Wegner

1996 wurde Mats Ek beauftragt, in Ergänzung zu Neumeiers klassischem Dornröschen, eine eigene Version des Märchens auf die Hamburger Opernbühne zu bringen. Bettina Beckmann sollte die Hauptrolle tanzen, schied aber, ich meine direkt nach der Premiere, wegen einer Verletzung aus. Die Rolle wurde von der 1993 aus der Ballettschule in das Ensemble gewechselte Silvia Azzoni übernommen.

Lloyd Riggins sowie Jiří und Otto Bubeníček (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 2003, Fotos Holger Badekow)

Ihre Leistung als widerspenstiges Mädchen, dass sich ihren Eltern, getanzt von Lloyd Riggins und Joëlle Boulogne, widersetzt, beim Familienausflug das Auto nicht verlässt und sich schließlich von dem Drogendealer Carabosse (Gamal Gouda) den Schuss geben lässt, war tief beeindruckend. Ich erinnere mich noch heute wie gestern, die junge Ensembletänzerin gefühlt minutenlang zitternd wie Espenlaub auf dem Boden liegend gesehen zu haben. Die Eltern verschwanden aus ihrem Leben, Riggins und Boulogne sprangen unvermittelt in den Orchestergraben und tauchten erst beim Schlussvorhang wieder auf.

Von den nicht klassisch orientierten Choreographien war das die beste, die ich je gesehen habe. Auch eine andere Szene blieb unvergessen, als ein Tänzer die Zubereitung eines Fisches zelebrierte, dazu die süffige Dreivierteltakt-Musik von Tschaikowskys Dornröschen.

Elizabeth Loscavio, Joëlle Boulogne, Heather Jurgensen, Laura Cazzaniga (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 2003/07/08, Fotos Holger Badekow)

Silvia Azzoni war auch in ihren späteren Rollen wie der Kleinen Meerjungfrau mit einer in­tensiven, aus dem Inneren kommenden Darstellung und einer tänzerischen Finesse unü­ber­trefflich, außerdem tanzte sie natürlich all die großen Rollen wie Manon Lescaut oder Marguerite (Kameliendame) ebenso wie Giselle. Zusammen mit ihrem späteren Ehemann, dem 1996 von der Ballettschule in das Ensemble gewechselten Alexandre Riabko, der da­mals schon wie ein Springball über die Bühne flog, entwickelten beide eine solch in­ten­sive Paarbeziehung, die ihre Pas de deux immer wieder zu einem unvergesslichen Ereignis werden lie­ßen.

Wie sie 2014/15 in dem letzten Pas de deux in Crankos Onegin miteinander verschmol­zen und mit welcher unglaublichen, mit den Augen kaum zu verfolgenden Bewegungsgeschwindigkeit die schwierigen Hebungen und Drehungen vollführten, habe ich so bei einem anderen Paar nie wieder gesehen (mehr über Azzoni und Riabko im Teil V dieser Serie). Und sie tanzen immer noch, perfekt wie eh und je, wenngleich jetzt nur noch unter dem Rubrum Sonderdarsteller.

Lloyd Riggins, ein genialer Tänzer und begnadeter Darsteller, wechselte 1995 von Kopenha­gen nach Hamburg, dort wie hier als Erster Solist. Eine meiner Erinnerungen an diesen Ausnahmetänzer bezieht sich auf seine Rolle als Herzog Albert (auch als Albrecht bekannt) in Giselle im Dezember 2000 sowie im Januar 2001 (mit Heather Jurgensen bzw. Elizabeth Loscavio als Giselle), als er die 30 schwierigen Entrechat six (Hochsprünge mit mehrfach überkreuzten Beinen in Serie aus dem Stand) mit Bravour meisterte, der während der nachfolgenden Ballett-Tage vom American Ballet Theatre aus New York eingeflogene Ethan Stiefel dagegen nicht. Vielleicht machte letzterem auch noch der Jet-Lag zu schaffen.

Riggins hat alles mit absoluter Hingabe getanzt, was Neumeier ihm anvertraute, sei es den Armand in der Kameliendame, die Partie des König Artus in der Artus-Sage, den Darsteller des Jesus in der Matthäuspassion oder den Part des Dichters in Neumeiers Kleiner Meer­jungfrau. Allein wie er es schaffte, mit dem Regenschirm gegen Wind anzukämpfen war schon eine klassische Meisterleistung. Nicht er zog den Schirm, sondern der nicht vorhan­dene Wind zog ihn über die Bühne. Um es anders auszudrücken, es gelang Riggins mit dar­stellerischen Mittel Wind im Auge des Betrachters zu erzeugen, ohne dass eine Windma­schine eingesetzt werden musste.

Jiří und Otto Bubeníček (YouTube NDR, Videostill)

1993 engagierte Neumeier die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček. Seit 1997 tanzten beide als Erste Solisten. Der etwas mehr aus sich herausgehende Jiří übernahm schnell die großen Rollen, wie Armand in der Kameliendame oder die von König Ludwig im Schwanensee, mit seinem Bruder Otto als der Mann in Schwarz, was vor allem beim Schluss Pas de deux der beiden einen außerordentlichen Eindruck hinterließ. Mit dieser Darstellung einer zwiegespaltenen Persönlichkeit durch zwei völlig gleich aussehende Tänzer gewann Neumeiers Schwanensee ungemein an Überzeugungskraft. Und beide waren nicht nur gute Darsteller, sondern überzeugten auch technisch-tänzerisch, so Jiří als Nijinsky, später nach dessen Weggang nach Dresden auch sein Bruder Otto.

John Neumeier engagierte Elizabeth Loscavio 1996 noch als Solistin, obgleich sie schon seit 1990 als Erste Solistin beim San Francisco Ballet getanzt hatte. Ein Jahr später wurde sie auch hier zur Ersten Solistin ernannt. Wie viele schon in anderen Ensembles eingesetzte renom­mierte Tänzerinnen und Tänzer tat sie sich anfangs schwer, bei aller technisch-tänzerischen Virtuosität, darstellerisch mehr von sich zu geben, als sie wohl bisher gewohnt war. Sie fiel im Ensemble nicht mit einem bestimmten tänzerischen Ausdruck auf, sondern musste in der ersten Zeit eher mit ihrer Perfektion überzeugen (gleiches gilt im Übrigen auch für die später aufgrund ihrer zahlreichen Auftritte fast zum Hamburger Ensemble gehörende Alina Cojo­caru oder jetzt für Ida Praetorius).

Loscavio tanzte u.a. die Titelpartie in der Cinderella-Fassung Neumeiers, Giselle, Solveig in Peer Gynt und vor allem die Natalia im Schwanensee. Wie die 2002 auf DVD erschienene Filmfassung zeigt (mit Jiří Bubeníček als König Ludwig, Alexandre Riabko als Graf Alexander und Silvia Azzoni als Prinzessin Claire), befand sich Loscavio in Höchstform, sowohl von der darstellerischen Intensität her, als auch tänzerisch technisch in dem Grand Pas de deux. Wie sie die leicht nach hinten fallenden Arabesken tanzt, ist bewundernswert. Leider gab diese Ausnahmetänzerin bereits 2004, noch auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn, wohl aus familiären Gründen, ihre Tanzkarriere auf.

Schwanensee 2002 (YouTube, Videostill): Alexandre Riabko, Silvia Azzoni, Elizabeth Loscavio und Jiří Bubeníček

Die 1994 zur Ersten Solistin ernannte Heather Jurgensen legte ihre Rollen mit zurückhaltender Eleganz, manchmal auch eher distanziert-kühl an. Wir erlebten sie als gute Fee bzw. Die Rose in Dornröschen(1996), als Sylvia (1999), später aber auch als Natalia oder Giselle, als überzeugende Nina in Die Möwe oder Marguerite, häufiger aber noch in sinfonisch dominierten Werken Neumeiers, so u.a. in einer tragenden und zu ihr passenden Rolle in Neumeiers 1998 uraufgeführtem Ballett Bernstein Dances. Joëlle Boulogne, die zwischen 1998 und 2011 als Erste Solistin tanzte, zeigte eine andere Seite. Zum Beispiel in einer ihrer Paraderollen, der Marguerite in der Ka­meliendame, oder auch als Natalia im Schwanensee. Sie gewann mit tief empfundener emotionaler Darstellung die Empathie des Publikums, selbst wenn es manchmal zu Lasten der technischen Perfektion gehen sollte.

Anna Polikarpova stand für den Petersburger Stil in der Hamburger Compagnie. Ausgebildet am Waganowa-Institut und seit 1989 beim Kirow-Ballett (seit 1991 Mariinski-Ballett) als Solistin tanzend, gelangte sie 1992 in der gleichen Position in das Neumeier-Ensemble und wurde 1994 zur Ersten Solistin ernannt. Sie war mit ihrer Ausbildung wie geschaffen für die Rolle der Odette im Schwanensee oder der Gamsatti in der etwas schwülstigen Makarova-Version von La Bajadère (2002). Daneben tanzte sie aber auch alle anderen großen Frauen­rollen, die Neumeier für das Hamburger Ballett konzipiert hatte. Anna Polikarpova heißt seit ihrer Eheschließung mit Ivan Urban Anna Urban und ist jetzt, ebenso wie Elizabeth Loscavio, Pädagogin in der Ballettschule.

Auf Ivan Urban wurden wir erstmals 1994 aufmerksam, als er bei einer Aufführung der Ballettschule auf der großen Bühne der Hamburgischen Staatsoper den Daphnis tanzte. Vier Jahre später war er bereits Erster Solist. Urban entwickelte sich im Laufe der Zeit von einem sehr guten Tänzer zu einem überragenden Darsteller von eher finsteren Figuren wie Tybalt in Romeo und Julia, Jago in Neumeiers Othello oder Diaghilew in Nijinsky. Im selben Jahr wie Urban wurde die an der Hamburger Ballettschule ausgebildete Laura Cazzaniga zur Ersten Solistin ernannt. Sie blieb in Erinnerung als das Meer in Neumeiers Ballett Odyssee, als Geruth in Hamlet sowie als Orgeluse in Parzival. Laura Cazzaniga ist jetzt als Ballettmeisterin beim Hamburger Ballett tätig.

Ivan Urban und Anna Polikarpova (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 2002/07/17, Fotos Holger Badekow und Kiran West)

Anfang und Ende der 1990er-Jahre brachte John Neumeier zwei weitere religiöse Meister­werke auf die Bühne, Mozarts Requiem und Händels Messias. 1992 folgte mit A Cinderella Story seine moderne Version des Aschenputtels, Bettina Beckmann tanzte die Cinderella, Manuel Legris den Prinzen, allerdings nur als Gasttänzer. Auch in diesem Stück gab später Lloyd Riggins einer Nebenrolle, jener des milden, von seiner Frau verachteten Vaters, intensives Profil. Ebenso gelang diesem Tänzer 1997 eine tief ergreifende Interpretation des Hamlet in dem bereits 1985 in Kopenhagen uraufgeführten Balletts nach dem gleichnamigen Shakespeare­drama. Leider litt das Stück unter der etwas sperrigen, wenig eingänglichen modernen Komposition von Michael Tippett.

Auch in dem ein Jahr später uraufgeführten Ballett Bernstein Dances zeigte Riggins als Alter Ego des US-amerikanischen Komponisten und Anführer der wie ein Keil nach vorn vorstoßenden Tanztruppe eine maßstabsetzende tänzerische Leistung. Diese kurze, von Bernsteins Candide-Ouvertüre unterlegte Choreo­graphie gehört nach wie vor zu den mitreißendsten Schöpfungen Neumeiers. Mit der 1997 premierten Geschichte um die Amazone Sylvia konnte ich damals weniger anfangen, bis in den letzten Jahren die großartige, sprungstarke Madoka Sugai diese Rolle übernahm.

Dr. Ralf Wegner, 2. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Die nächste Folge „Zwei absolute Traumpaare bereichern das Hamburger Ballett: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko sowie Hélène Bouchet und Thiago Bordin“ erscheint am Freitag, 5. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III klassik-begeistert.de, 22. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II klassik-begeistert.de, 19. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburger Ballett unter John Neumeier, Teil I klassik-begeistert.de, 15. Dezember 2023

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